Unkontrollierte Verbreitung

In mehreren Veröffentlichungen hat die Organisation Testbiotech in den vergangenen Monaten auf Fälle aufmerksam gemacht, in denen sich transgene Pflanzen über die Ackergrenzen hinaus verbreitet haben. Von Andreas Bauer-Panskus und Christoph Then

Die Diskussion über die Ausbreitung und mögliche Persistenz (etwa: dauerhafte Etablierung) gentechnisch veränderter (gv) Pflanzen in der Umwelt erfuhr erstmals große öffentliche Aufmerksamkeit, als im Jahr 2001 Wissenschaftler der Universität Berkeley die Präsenz von transgenem Mais sogar in entlegenen Regionen Südmexikos nachweisen konnten. Zu diesem Zeitpunkt waren in diesen Regionen nicht einmal experimentelle Freisetzungen mit dieser Pflanze durchgeführt worden.

Dass gentechnisch veränderte Pflanzen sich auch über die Ackergrenzen hinweg ausbreiten, vor allem durch die Einkreuzung in wilde Verwandte, ist in der Wissenschaft unbestritten. In der wissenschaftlichen Literatur existiert jedoch, abgesehen von wenigen Ausnahmen, kein systematischer Überblick über die bisherigen Fälle. Auch die Risikoabschätzung für die langfristige Einwanderung von Transgenen in natürliche (naturnahe) Ökosysteme oder traditionelle Landwirtschaftssysteme ist nur wenig entwickelt.

Im Zentrum des Berichts „Transgene Escape - Atlas der unkontrollierten Verbreitung gentechnisch veränderter Pflanzen“ (1) und der wissenschaftlichen Studie „Cultivation-independent establishment of genetically engineered plants in natural populations: current evidence and implications for EU regulation“ (2) stehen Fälle, in denen sich gentechnisch veränderte Pflanzen spontan jenseits der Ackergrenzen in Naturräumen oder Landwirtschaftssystemen verbreitet haben und bei denen es zumindest fraglich ist, ob sie im Bedarfs- oder Notfall „zurückgeholt“ werden können. Einige der transgenen Pflanzen sind bereits in verwandte Wildarten eingekreuzt.

Insbesondere in diesen Fällen muss damit gerechnet werden, dass sie sich einer effektiven Kontrolle dauerhaft entziehen.

Fallstudien: Raps, Baumwolle, Reis, Mais und Pappeln

Eine ausführliche Recherche identifizierte Fälle, in denen es aus verschiedenen Gründen als fraglich erscheint, ob die jeweiligen transgenen Pflanzen rückholbar sind:

•  Weißes Straußgras in den USA

•  Transgene Baumwolle in Mexiko

•  Transgener Mais in Mexiko

•  Transgener Raps in Kanada

•  Transgener Raps in den USA

•  Transgener Raps in Japan

•  Herbizidtoleranter Raps in Australien

•  Herbizidtoleranter Raps in der EU

•  Transgener Raps in der Schweiz

•  Transgene Pappeln in China

•  Bt-Reis in China

Einen der am besten untersuchten Fälle stellt dabei die Verbreitung von gentechnisch verändertem Straußgras in den USA dar.

Fallstudie: Weißes Straußgras

Ab dem Jahr 2002 führte die Firma Scotts im US-Bundesstaat Oregon auf einer Fläche von 160 Hektar Freisetzungsversuche mit dem gentechnisch veränderten Weißen Straußgras (Agrostis stolonifera) durch. Bereits im Jahr 2004 stand fest, dass Pollen des transgenen Straußgrases sich weit über die Versuchsfläche hinaus ausgebreitet hatte. Auskreuzungen in lokale Straußgras-Vorkommen und die verwandte Wildart Riesen-Straußgras (Agrostis gigantea) wurden bis in eine Entfernung von 14 Kilometern festgestellt, in speziellen Pflanzen gab es noch in 21 Kilometern Entfernung Auskreuzungsereignisse. Ein Sturm sorgte im Folgejahr 2003 für eine weiträumige Verbreitung der transgenen Straußgras-Pollen. Versuche der Firma Scotts, alle transgenen Hybriden zu vernichten, scheiterten. Das gv-Straußgras trägt eine gentechnisch induzierte Toleranz gegenüber Totalherbiziden mit dem Wirkstoff Glyphosat.

Transgenes Straußgras findet sich mittlerweile im gesamten Untersuchungsgebiet an Bewässerungskanälen, Gräben, an Straßenrändern, auf Grünlandflächen und Äckern. Laut einer aktuellen Studie haben sich mittlerweile sogar zwischenartliche Hybriden mit verwandten Wildarten gebildet.

Weißes Straußgras hat ein sehr hohes Verbreitungspotenzial. Die Pflanze ist mehrjährig, und hat insbesondere im Norden der USA zahlreiche kreuzbare, wilde Verwandte, die teils Unkrauteigenschaften aufweisen oder sogar, wie das Weiße Straußgras selbst, als invasiv gelten.  Als zusätzliches Problem erweist sich im vorliegenden Fall, dass Oregon das Haupterzeugungsgebiet für Saatgut des Weißen Straußgrases ist. Rund 70 Prozent des in den USA verwendeten Straußgras-Saatgutes wird in Oregon erzeugt.

Ein komplexes Feld

Allgemein gibt es eine große Zahl von Einflüssen, die den Sprung von Transgenen über die Ackergrenzen hinaus begünstigen. Wesentlich sind dabei einerseits die Biologie der betroffenen Pflanzen, aber auch die jeweilige transgene Eigenschaft. Andere wichtige Faktoren sind zum Beispiel die Präsenz von kreuzbaren wilden Arten, mögliche invasive Eigenschaften und die Nähe zu Ursprungsgebieten der Nutzpflanzen. Aber auch Faktoren wie Klimawandel und Besonderheiten von landwirtschaftlichen Systemen (vor allem Saatguttausch) können eine bedeutende Rolle spielen.

Einflussfaktor: Gen-Zentren

Die wilden Ursprungsarten unserer Kulturpflanzen sind wichtige genetische Ressourcen für die weitere Pflanzenzucht, wenn es beispielsweise um Zuchtziele wie Widerstandsfähigkeit gegen Klimawandel und Krankheiten geht. Kommt es in diesen Arten zur Ausbreitung von Transgenen, kann dies die zukünftige Pflanzenzucht erheblich erschweren. Aber auch die Landwirtschaft in den Ursprungsregionen kann dauerhaften Schaden nehmen, falls eine Ausbreitung von Transgenen in den regionalen Sorten stattfindet. Die gentechnischen Einkreuzungen, die Verbreitung und Überdauerung von transgenen Konstrukten in diesen Regionen wird von mehreren Faktoren begünstigt. So sind die Pflanzen an die Umweltbedingungen angepasst und können sich oft mit wilden Verwandten kreuzen. Zudem existieren in vielen dieser Regionen vielfach informelle Systeme für den Saatgutaustausch, durch die es zur unbeabsichtigten Weitergabe von verunreinigtem Saatgut kommen kann. Zuletzt fehlen oft rechtliche, organisatorische und finanzielle Voraussetzungen für eine Überwachung der Ausbreitung von gentechnisch veränderten Pflanzen.

Verschiedene gentechnisch veränderte Pflanzen (wie Bt-Mais in Mexiko, herbizidtolerante und Bt-Toxin produzierende Baumwolle in Mexiko, Bt-Reis in China, herbizidtoleranter Raps in europäischen Ländern oder Bt-Pappeln in China) sind bereits heute in den Zentren der Vielfalt präsent.

Einflussfaktor: Klimawandel

Der Klimawandel wird nach Aussagen vieler Wissenschaftler zu erheblichen Veränderungen in Fauna und Flora und zur Veränderung von Verbreitungsgebieten führen. So wird unter anderem prognostiziert, dass sich Pflanzen (und Tiere) mit invasiven Eigenschaften massiv ausbreiten könnten. Hier ergeben sich auch neue Fragen im Hinblick auf das Ausbreitungspotenzial von gentechnisch veränderten Pflanzen. Unter den Bedingungen des Klimawandels könnten Pflanzen mit gentechnischen Eigenschaften wie Dürretoleranz einen erhöhten Fitnessvorteil erlangen. Auch können sich genetische Instabilitäten im Genom zeigen, die zu einem Fitnessvorteil führen und unter bisherigen Umweltbedingungen nicht zutage getreten sind.

Auch das Risiko der Auskreuzung von Gentechnik-Pflanzen in wilde Verwandte kann sich unter diesen Bedingungen erhöhen. So sind bereits Fälle beschrieben, in denen Hybriden von Kultur- und Wildpflanzen unter Stressbedingungen besonders durchsetzungsstark sind.

Einflussfaktor: Transgene Eigenschaften als Fitnessvorteile

Durch Bt-Gene induzierte Insektengiftigkeit wird in der wissenschaftlichen Literatur oft als Fitnessvorteil diskutiert. So zeigte Bt-Raps in Versuchen unter Schädlingsdruck erhöhte Fitness. Fitnessvorteile von Hybriden zwischen gentechnisch veränderten Bt-Pflanzen und Wildarten wurden erstmals am Beispiel von Bt-Sonnenblumen nachgewiesen. Unter kontrollierten Bedingungen zeigten bei Schädlingsdruck auch Bt-Pappelhybriden und Bt-Raps Fitnessvorteile gegenüber dem Wildtyp.

Auch Stressresistenzen (zum Beispiel gegen Dürre oder starken Salzgehalt des Bodens) können die Fitness der entsprechenden gentechnisch veränderten Pflanzen sowie auch die von verwandten Wildarten erhöhen. Einige Produkte befinden sich bereits in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium beziehungsweise sind schon auf dem Markt. So wurde im Mittleren Westen der USA im Jahr 2013 eine neue Maislinie des Monsanto-Konzerns mit erhöhter Trockentoleranz zum Anbau freigegeben.

Spezifische Risiken der Gentechnik-Pflanzen

Gentechnisch veränderte Pflanzen und ihre Eigenschaften sind technisch erzeugt, also menschengemacht, und ihre genetischen Eigenschaften ein Novum im Genpool etablierter Arten. Ihre Verbreitung in der Umwelt ist nicht Folge zufälliger Prozesse, sondern basiert in der Regel auf bewussten Entscheidungen für Freisetzung oder kommerziellen Anbau. Eine Verantwortung für das Inverkehrbringen dieser Pflanzen kann nur dann realisiert werden, wenn die zukünftige Entwicklung verlässlich prognostiziert und mögliche negative Folgen kontrolliert werden können.

Vorsorge und Rückholbarkeit

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie mit gentechnisch veränderten Organismen in der Risikoabschätzung umzugehen ist,

a) die sich in der Umwelt verbreiten können, wenn sie (ungewollt) aus ihrer vorgesehenen kontrollierten Umgebung entkommen;

b) bei denen es unklar ist, ob dauerhaft  von  einer   Persistenz (beziehungsweise Invasivität = etwa Einwanderungspotential)  auszugehen  ist,  auch  wenn  noch keine Auskreuzung in Wildarten stattgefunden hat;

c) bei  denen  es  unstrittig  ist,  dass  sie  sich mit hoher Wahrscheinlichkeit unkontrolliert ausbreiten werden, wenn sie einmal freigesetzt sind.

Schon bisher finden in der Risikoabschätzung, wie sie beispielsweise in der EU praktiziert wird, die Kriterien der Persistenz und Invasivität durchaus Beachtung. Allerdings fehlen bislang eindeutige regulatorische Vorgaben, wie mit gentechnisch veränderten Organismen umzugehen ist, deren Rückholbarkeit unwahrscheinlich oder gar unmöglich ist. So sieht die Risikoabschätzung der EFSA nicht vor, dass im Fall von gentechnisch veränderten Pflanzen, die sich persistent oder sogar invasiv verhalten, Anträge auf Inverkehrbringung grundsätzlich negativ beurteilt werden. Vielmehr geht die EFSA davon aus, dass diese biologischen Merkmale per se noch nicht als Risiko anzusehen sind.

Diese Praxis ist im Hinblick auf das Vorsorgeprinzip nicht vertretbar. Das Vorsorgeprinzip, wie es in der Agenda 21 und der EU-Freisetzungsrichtlinie 2001/18 (3) verankert ist, kann nur funktionieren, wenn in Fällen, in denen dies notwendig erscheint, auch tatsächlich Maßnahmen ergriffen werden können. Damit ist die Rückholbarkeit (zeitliche und räumliche Kontrollierbarkeit) von gentechnisch veränderten Organismen eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass Vorsorge überhaupt betrieben werden kann. Wenn ein GVO nicht mehr aus der Umwelt zurückgeholt werden kann, läuft das Vorsorgeprinzip faktisch ins Leere. Damit ist die Rückholbarkeit als eine obligatorische Voraussetzung für jegliche Freisetzung oder Inverkehrbringung gentechnisch veränderter Organismen anzusehen.

Rechtsgutachten: Lücken im System

Aus einem von Testbiotech in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten (4) ergibt sich, dass die bestehenden Regelungen der EU im Hinblick auf die Rückholbarkeit von gentechnisch veränderten Organismen ergänzt werden sollten, um bestehende Rechtsunsicherheiten auszuräumen und Klarheit über die Zulassungsvoraussetzungen von GVO zu schaffen. Unklar ist unter anderem, wie mit GVO verfahren werden soll, deren Potenzial zur Persistenz und/oder Invasivität nicht eindeutig einzuschätzen ist oder die sich ungewollt verbreiten können, sobald die vorgesehenen Sicherheitsbarrieren versagen. Derartige Probleme werden unter anderem im Fall von gentechnisch veränderten Lachsen diskutiert. Aus dem Gutachten geht ebenfalls hervor, dass weder in der Gesetzgebung der USA noch im internationalen Regelwerk der Konvention über die biologische Vielfalt (CBD) entsprechende Grundprinzipien oder rechtlich bindende Regelungen existieren, die als ausreichend angesehen werden können.

Empfehlungen

Die Ergebnisse der Untersuchung und des Rechtsgutachtens legen nahe, dass derzeitige rechtliche Rahmenbedingungen nicht ausreichen, um den langfristigen Risiken einer Ausbreitung von gentechnisch veränderten Pflanzen in der Umwelt begegnen zu können. Um in Zukunft einer unkontrollierten Ausbreitung vorzubeugen, müssen die Gesetzgebung verschärft und das Vorsorgeprinzip gestärkt werden. Grundsätzlich gibt es gute Gründe, um an dem Konzept der Rückholbarkeit von gv-Pflanzen an sich zu zweifeln. Als Minimalforderung bleibt, dass Anträge auf Inverkehrbringen und Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen insbesondere dann nicht bewilligt werden sollten, wenn die Rückholbarkeit der Organismen nicht wenigstens theoretisch gewährleistet ist.

Christoph Then ist Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation Testbiotech. Andreas Bauer-Panskus ist Agrarwissenschaftler und selbstständiger Experte auf dem Gebiet der Agro-Gentechnik. Er ist unter anderem für Testbiotech tätig.

Fußnoten:

(1) Bauer-Panskus, A., Hamberger, S., Then, C. (2013) Transgene Escape - Atlas der unkontrollierten Verbreitung gentechnisch veränderter Pflanzen. Testbiotech-Bericht. www.testbiotech.de/node/943.

(2) Bauer-Panskus, A., Breckling, B., Hamberger, S., Then, C. (2013) Cultivation-independent establishment of genetically engineered plants in natural populations: current evidence and implications for EU regulation. Environmental Sciences Europe, 25(1): 34.

(3) Die Agenda 21 ist eines der Resultate des UN-Gipfels für Umwelt und Entwicklung, beschlossen 1992 auf der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro. Die EU-Richtlinie 2001/18 reguliert den kommerziellen und versuchsweisen Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen in der Europäischen Union.

(4) Krämer, L. (2013) Genetically Modified Living Organisms and the Precautionary Principle. Legal dossier commissioned by Testbiotech, www.testbiotech.de/node/904.