Krim-Krise und Kriegsgefahr

Zur Situation in der Ukraine und in Russland. Ein Interview mit dem libertären Sozialwissenschaftler Vadim Damier: „Wir dürfen den Herrschenden kein neues 1914 erlauben!“

In Folge der Ankündigung der Janukowytsch-Regierung, das Assoziie­rungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnen zu wollen, fanden auf Kiews zentralem Majdan Nesaleschnosti (Platz der Unabhängigkeit) seit dem 21. November 2013 „Euromajdan“-Demonstrationen statt (vgl. GWR 386). Nach einem Blutbad, dem Sturz der Januko­wytsch-Regierung und der Machtübernahme durch eine Übergangsregierung mit faschistischer Beteiligung (am 26. Februar 2014) entwickelte sich die Krim-Krise, deren Hintergründe wir in dieser GWR ausgiebig beleuchten. Jürgen Wagner (Informationsstelle Militarisierung/IMI) analysiert in seinem Artikel „Neue deutsche Machtpolitik“ die „Ukraine als Testfall“ (Seite 11), Nicolai Hagedorn nimmt die wirtschaftliche Situation des Landes unter die Lupe (S. 9) und Nina Nadig beschreibt die Erlebnisse, die sie in den letzten Wochen auf der Krim und in Kiew hatte (Seite 10). Als Auftakt des GWR 388-Schwerpunkts dient das folgende Interview, das Graswurzelrevolution-Redakteur Bernd Drücke am 16. März 2014 mit dem Moskauer Bewegungsforscher und Antimilitaristen Vadim Damier1 geführt hat. (GWR-Red.)

 

Graswurzelrevolution (GWR): Die meisten deutschen Me­dien blenden die geopoliti­sche Machterweiterungspoli­tik der EU- und NATO-Staaten aus und berichten einseitig über die Entwicklungen in der Ukraine. Die Wochenzeitung Freitag hat dazu am 26. Februar 2014 eine 5-Tage-Studie dokumentiert. Darin heißt es u.a.: „Von Beginn an waren zumin­dest zwei klare Fronten ersichtlich: Auf der einen Seite eine Opposition, die den Staatspräsidenten stürzen wollte - und darin von der EU und den USA unverhohlen unterstützt wurde. Auf der anderen Seite der gewählte Präsident, seine Regierung und Russland. Jedem politisch interessierten Zuschauer dürfte die einseitige Parteinahme deutscher Medien aufgefallen sein. Aus propagandistischer Sicht waren insbesondere die Verharmlosung, Akzeptanz oder gar Rechtfertigung der von den Oppositionellen ausgeübten Gewalt und die bewusst verzerrte Darstellung der politischen Akteure bemerkenswert. Diese gezielte Manipulation gipfelte in einem Aufruf der den GRÜNEN nahe­stehen­den Böll-Stiftung, die … dazu aufforderte, die maßgebliche Beteiligung rechtsextremistischer und offen nazisti­scher Kreise herunterzuspielen oder besser ganz totzuschweigen. Die Berichterstattung von ARD und ZDF zeichnete sich durch den kompletten Werk­zeugkasten der Propaganda aus: einseitige Partei­nahme, Doppelmoral, Verzerrungen, Verharmlosung, Verschweigen, Unterstellungen, Mutmaßungen.“ Wie berichten die russischen Massenmedien über die Geschehnisse in der Ukraine?

 

Vadim Damier: Die Medienlandschaft in Russland ist stark von der Regierung kontrolliert. Somit ist die Position der Massenmedien sozusagen vorbestimmt. Die meisten Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehka­näle waren von Anfang an gegen die Majdan-Proteste in Kiew. Sie schrieben natürlich auch über die Rolle der Rechtsradikalen, aber die Hauptgrün­de für ihre Besorgnis waren eindeutig anderer Art. Die russischen Regierungskreise empfanden diese Proteste als klar anti-russisch.

Vadim Damier: Als eine Bewegung, die gegen die machtpo­litischen Interessen des russischen Staates und somit zu­gunsten der außenpolitischen, imperialistischen Gegner Russlands orientiert wurde.

Zwar wurden später die „antifaschistischen“ Argumente stärker hervorgehoben, indem man breit über die Rolle der Ul­tra­rechten auf dem Majdan berichtete und betonte, dass Stje­pan Bandera (Führer der ukrainischen Nationalisten in der Zeit des Zweiten Weltkrieges und heutiger Held vieler Maj­dan-Anhänger) eng mit den deutschen Nazis zusammenarbeitete.

Das kann alles stimmen, doch aus dem Munde der russischen Herrscher und Medien klingen solche Argumente wie reine Heuchelei. Es genügt, an eine zügellose Hetzkampagne im Sommer und Herbst 2013 gegen die ArbeitsmigrantInnen in Russland zu erinnern, die gleichzeitig mit den Razzien, Verhaftungen, Deportationen der MigrantInnen, dem migran­tenfeindlichen Berichten in den Medien und dem Pogrom im Moskauer Stadtbezirk Birjuljo­wo lief. Die Behörden benutzten die Hetze für die Verschärfung der Gesetze gegen die Mi­grantInnen, und einige hoch­rangige Vertreter besserten so­gar ihr „Verständnis“ gegenüber den migrantenfeindlichen Stimmungen aus. Die russische politische und Medien-Elite als Faschismus-Bekämpfer, das klingt wirklich lächerlich!

Inzwischen wird der Ton der Medien immer schärfer. Manche sind recht hysterisch und ihre Berichte ähneln stark schon fast der Kriegshetze. Von der ukrainischen Seite passiert aber inzwischen dasselbe.

 

GWR: Wie beurteilst Du die Geschehnisse in der Ukraine?

 

Vadim Damier: Für uns ist das vor allem ein Machtkampf zwischen den kapitalistischen Oligarchie-Cliquen, die leider im­stande waren, die Massen für sich zu mobilisieren. Es ist zwar klar, dass die einfachen Leute unten mit der schlechten sozialen und ökonomischen Situation, mit der wachsenden Korruption und anderen Problemen unzufrieden waren, anders wären sie kaum mobilisierbar.

Die Regierung von Januko­wytsch betrieb eine „normale“ neoliberale Wirtschaftspolitik mit einem Sozialabbau, obwohl mit weniger schnellen Tempo, als z.B. in Russland. So waren die antisozialen Reformen des Arbeitsrechts, des Gesund­heitssystems oder der Bildung noch nicht bis zu ihrem logischen „Ende“ durchgeführt.

Trotzdem gab und gibt es ge­nug Anlässe für die Unzufriedenheit. Aber zu den richtigen sozialen Protesten kam es nicht. Stattdessen entstand „Euro­majdan“ als eine Art von „klas­senübergreifende“ Bewegung, an der zwar auch ärmere Leute (wie z.B. Arbeitslose aus der West-Ukraine, wo die gesamte Industrie schon ruiniert ist), aber mehrheitlich die so genannte „Mittelschichten“ teilnahmen: kleine UnternehmerInnen und HändlerInnen, Jugendliche, die „nach Europa“ wollen, usw. Außerdem ist hinzuzufügen, dass die EU-Hoffnungen im Westen der Ukraine stark sind, weil mehrere Leute aus diesen Regionen schon in den EU-Ländern arbeiten.

So begann Majdan eher als ei­ne rein politische, pro-EU-Bewegung unter der Kontrolle der oppositionellen bürgerlichen Parteien. Ohne jegliche soziale oder wirtschaftliche Forderungen – nur für die schnellste Assoziation mit der EU und für das Wegfegen der Regierung, die eine solche Assoziation vermeintlich „sabotierte“. Dann begann aber eine Reihe von Prozessen, die die Gesamtsitu­ation stark veränderten und zu einem bekannten Final führten.

Die Proteste bekamen eine breite Hilfe von einigen Teilen der Oligarchie-Clans, die schon früher begannen, die Opposition zu unterstützen. Einige waren schon früher in der Opposition, wie die Gruppe um die Ex-Ministerpräsidentin Julia Tymo­schenko. In den Jahren seiner Regierung brachte es Januko­wytsch aber fertig, sich mit mehreren der reichsten Menschen und Gruppen in der Ukraine zu verzanken.

Solche „ältere Oligarchen“ wie Viktor Pintschuk, Igor Kolomoj­skij, Pjotr Poroschenko, Dmitrij Firtasch und endlich auch Rinat Ahmetow aus Donbass gingen einer nach dem anderen in die Opposition über. Noch vor einigen Jahren bekämpften sie sich noch heftig gegenseitig, und ihre Fehde um die Kontrollzonen und -sphären gingen unvermindert weiter. Jetzt entdeckten sie aber eine gemeinsame Gefahr: die Gruppe „neuer Oligarchie“ um Janukowytsch, die versuchte, eine Neuverteilung des Eigentums und der Kon­trollsphären zu erzwingen.

Dasselbe wurde in Russland von der Putin-Gruppe gemacht, und diese „Jüngeren“ in der Ukraine wollten diese Operation irgendwie nachahmen. Die „Väter“ könnten so etwas nicht mehr dulden. Sie wurden zu den Sponsoren von Majdan, und man behauptet, dass das Schic­ksal von Janukowytsch endgültig Ende Januar besiegelt wurde, und zwar auf dem Treffen vierer führender „Oligarchen“ des Landes. Nach dem Staatsstreich am 22 Januar 2014 bekamen diese Menschen oder ihre „Vertrauensmänner“ leitende Posten in der neuen Staatshie­rarchie: Kolomojskij wurde zum Gouverneur von Dniprope­trowsk, Sergej Taruta (Oligarch und Verbündete von Tymo­schenko) zum Gouverneur von Donezk, Anatolij Olejnik (Vertrauensmann von Poroschen­ko) zum Gouverneur von Win­niza usw.

Der zweite Prozess war die Miteinbeziehung der „Massen“. Mehrere Leute gingen auf die Straßen aus Protest gegen das brutale Vorgehen der Anti-Riot-Truppen („Berkut“) oder gegen die neuen repressiven Gesetze, mittels derer  die Regierung die Proteste unterdrücken wollte. Diese größere Menge von Leuten befand sich aber nicht ständig auf dem Majdan, sondern sie kam gelegentlich zu den größeren Kundgebungen.

Dabei äußerten sie weiter keine sozialen oder ökonomischen Forderungen und verlangten nur den Rücktritt des Präsidenten und der Regierung als Schuldige. So machte diese vermehrte Teilnehmerzahl die Pro­testbewegung nicht sozialpolitisch progressiver. Trotzdem versuchten einige Linke aus den Gewerkschaftskreisen, eine Agitation für soziale Forderungen auf dem Majdan-Platz zu organisieren. Sie wurden dort aber mit Gewalt entfernt. Soziale Losungen passten einfach nicht in den Majdan-Diskurs.

Und das führt uns zum dritten Prozess: kontinuierliches Erstarken der nationalistisch-pro­faschistischen Kräfte an und um den Majdan. Übrigens waren diese von Anfang an vertreten. Eine der drei Parteien, die die Protestbewegung im November 2013 begann, war die rechtsradikale „Swoboda“-Partei, die mit dem Front National oder mit Yobbik vergleichbar ist. Ihr Führer Tjagnibok ist durch seine antisemitischen Äußerungen bekannt. Die Partei fordert in ihrem Programm nach einer „sozialen und nationalen Gerechtigkeit“, und zwar: obligatorische Fixation der ethnischen Zugehörigkeit im Pass, Kriminalisierung für eine „Ukra­inophobie“, proportionale Vertretung der ethnischen Gruppen in allen staatlichen Institutionen (d.h. nicht mehr Vertreter der Minderheiten als ihr An­teil an der Gesamtbevölkerung ist), scharfe Gesetze gegen die MigrantInnen und Deportation der Illegalen, Begrenzung der Sprachen und der Kulturen der Minderheiten, Anerkennen der Tätigkeit der ukrainischen Nationalisten, die mit den Nazis zusammenarbeiteten, usw.

Die „Swoboda“-Partei2  hat eine breite Unterstützung beson­ders in drei westlichen Gebieten des Landes, wo sie 2012 zwischen 31% und 38% der Stimmen erreichte. In der Stadt Kiew bekam sie 17%.

In dem Maße wie sich die Maj­dan-Proteste radikalisierten und in die Zusammenstöße mit den „Ordnungs“-Kräften hinüberwuchsen, stieg auch die Rol­le und der Einfluss der Ultrarechten immer mehr. Neben den Schlägertruppen der „Swobo­da“-Partei, kamen noch extremere Kräfte dazu, offen neona­zistische aus dem sogenannten „Rechten Sektor“ (Prawyj Sektor). Das waren gut trainierte Militante, denen sich teilweise auch Fußball-Fans anschlossen.

Auf dem Majdan wurde die sogenannte „Selbstverteidigung“ organisiert, die die administrativen Häuser besetzte, sich mit „Berkut“ Schlachten lieferte und sich dann zu den echten Paramilitärs entwickelte. Da wa­ren natürlich nicht nur die Neonazis, diese blieben aber die erfahrensten und am besten trainierten. Veteranen des Sowjetkrieges in Afghanistan organisierten Militärtrainings. Eben diese paramilitärische „Selbstverteidigung“ diente nicht nur als „Ordnungskraft“ (indem sie alle Opponenten als „Provokateure“ – „Tituschki“ wegschmiss), sondern spielte dann eine entscheidende Rolle beim Staatsstreich Ende Februar 2014.

Es gibt verschiedene Angaben darüber, welche Rolle die Ultrarechten aus dem „Rechten Sektor“ beim letzten Sturm wirklich spielten, da diese eine autonome Rolle gegenüber der „Selbstverteidigung“ bewahrten.

Es stimmt zwar, dass die Ultrarechten an Majdan zahlenmäßig in der Minderheit waren. Qualitativ aber war ihre Präsenz viel bedeutender und manchmal he­gemonial. Sie bestimmten nicht nur ein generell nationalistisches Klima mit ihren Parolen nach einer „nationalen Revolution“, sondern bekleideten wichtige Funktionen.

Der Vertreter von „Swoboda“ war einer der Majdan-Kommandanten. Und nach dem Sturz von Janukowytsch bekamen die Rechtsradikalen wichtige Posten in einer neuen Staatsadministration: die Vertreter von „Swoboda“ bekamen die Posten von Vize-Ministerpräsident, Agrarminister, Umweltminister, Generalstaatsanwalt und Vorsitzender des Sicherheitsrates. Der Führer des „Rechten Sektors“ wurde zum Vize-Vorsitzenden des Sicherheitsrates, und seine Militanten wurden in die Strukturen des Innenministeriums inkorporiert.   

Bezeichnend ist, dass niemand auf dem Majdan gegen den nationalistischen Diskurs oder die Präsenz der Ultrarechten protestierte. Es gab keine Versuche, „Swoboda“ vom Platz zu entfernen. Somit nahm die Maj­dan-Bewegung ihren neofaschistischen Teil tolerierend oder billigend in Kauf.

Alle diese Momente können unsere Position gegenüber Majdan gut erklären. Wir haben es mit einer reaktionären Mas­senbewegung gegen ein reaktionäres Regime zu tun. So ist es nicht unser Kampf.

 

GWR: In den deutschen Massenmedien wird meist der Eindruck erweckt, dass es sich bei den Majdan-Protesten in Kiew um eine durch und durch demokratische und unterstütz­ungswürdige Bewegung handelt. Dass dort auch Nationalisten und Faschisten in vor­derster Front stehen, wird ausgeblendet. Welche Rolle spielen anarchistische und andere emanzipatorische Gruppen in der Ukraine?

 

Vadim Damier: Die Anarchisten in der Ukraine sind durch die Majdan-Ereignisse tief gespalten. Übrigens gab und gibt es dort (wie auch z.B. in Russland) keine einheitliche anarchistische oder libertäre Bewegung, sondern eher Gruppen und Individuen, die einander öfters bekämpfen und manch­mal ziemlich verschiedene (so­gar sehr merkwürdige!) Vorstellungen vom Anarchismus haben.

Diesmal sieht die Situation im Milieu noch schlimmer und konfuser aus. Einige libertäre AktivistInnen in der Ukraine unterschrieben die internatio­nalistische Deklaration gegen den Krieg, zusammen mit uns.3  Diese GenossInnen waren und sind gegen alle Seiten im Konflikt: sowohl gegen Januko­wytsch, als auch gegen Maj­dan, sowohl gegen den russischen, als auch gegen den ukrainischen Staat. Und dies ist auch unsere Position, die der antinationalistischen Idee des Anarchismus entspricht: Kein Krieg, sondern Klassenwider­stand – gegen alle Herrscher, Staaten und Bourgeoisien!

Mehrere Gruppen in der Ukraine sind in eine Verwirrung geraten und in sich selbst nicht einig. So ist z.B. die Mehrheit der so genannten „RKAS Machno“ in der östlichen Ukraine eher majdankritisch, einige deren Mitglieder aber nahmen an den Majdan-Ereignissen in Kiew teil. Noch bizarrer ist es mit der „Autonomen Arbeiter-Union“ (AST).

Zuerst war sie „gegen die bei­den“ – sowohl gegen die Janu­kowytsch-Regierung, als auch gegen die Opposition und den Euro-Majdan. Dann änderte sich ihre Position erheblich.

Offiziell blieben die Erklärungen auf der Webseite der Gruppe ausgewogen, in der Realität wurden die Texte stilistisch so formuliert, dass man doch der Regierung eine größere Schuld zugeschrieben hat. Man versuchte und versucht auch weiter die „Volksbewegung“ an Majdan und die politische Opposition in den Schätzungen voneinander zu trennen: die zweite wurde weiterhin negativ, die erste aber eher positiv als eine spontane Selbstorganisa­tion eingeschätzt. So eine „ungeteilte Liebe zu den bei ihnen fehlenden Massen“ ist be­kanntlich  bei vielen Linken üblich!

Nach der Billigung der Repres­sivgesetze im Januar 2014 erklärte nun die AST ihre Unterstützung der Proteste. Dann wurden diese Gesetze zurückgenommen, und die weitere Po­sition der AST war nunmehr unklar. In einer der letzten Erklärungen im Februar 2014 kritisierten sie vor allem die Janu­kowytsch-Seite für die Provokationen, und dieser Text ist eindeutig nicht äquidistant ge­nug. Einerseits äußerten die Ak­tivistInnen der AST privat (z.B. auf Facebook) ihre Besorgnis gegenüber der Rolle der Ultrarechten auf dem Majdan, an­derseits versuchten je weiter desto mehr diese Rolle irgend­wie herunterzuspielen…

Während der Ereignisse machten die Leute aus der Gruppe in Kiew ziemlich verschiedene Dinge: einige malten antinatio­nalistische Graffitis, andere nahmen an verschiedenen Initiativen um den Majdan teil, die dritten machten überhaupt nichts. In Charkiw nahmen die MitgliederInnen der AST-Gruppe an dem lokalen „Euro-Maj­dan“ teil. Und nach dem Beginn des Konflikts mit Russland nahmen mehrere AST-Mitglieder eher eine Position zuguns­ten der „Verteidigung gegenüber der russischen Aggression“ ein. So weigerten sie sich auch, die internationalistische Deklaration gegen den Krieg zu unterzeichnen, da diese Deklaration die Majdan-Bewegung als einen Machtkampf zwischen den oligarchischen Cliquen versteht und beide Staaten statt die russische Aggression verurteilt.

Der dritte Teil des Milieus war eindeutig und klar pro-Majdan. So z.B. versuchten die Aktivis­tInnen aus der studentischen Gewerkschaft „Prjama Dija“ (d.h. „Direkte Aktion“) zusammen mit einer der trotzkisti­schen Tendenzen („Linker Opposition“), RKAS-Leute in Kiew und den neuen Rechten (so genannten National-„Anarchisten“ aus dem „Awtonomni Opir“) eine organisierte Gruppe an Kiewer Majdan zu etablieren, ohne dabei gegen die Nazis zu protestieren oder soziale Forderungen zu propagieren. Ihr Versuch, eine besondere paramilitärische Einheit im Rahmen der „Majdan-Selbstverteidigung“ zu bilden, scheiterte aber an der Gegenwirkung der Ultrarechten und der Leitung von Majdan. „Linke“ Hel­ferInnen der Reaktion wurden verdrängt und konnten von nun an nur individuell weitermachen.  

       

GWR: Unter dem Eindruck des Putsches gegen die Januko­wytsch-Regierung in Kiew haben am 27. Februar 2014 prorussische Militärs einen Putsch auf der Krim gemacht. Voraussichtlich in den nächsten Tagen wird die bisher zur Ukraine gehörende Krim of­fiziell Mitglied der Russischen Föderation. Was sagst Du zur Krim-Regierung der „Russischen Einheit“ unter Aksjo­now?

 

Vadim Damier: Diese ganze Geschichte hatte eine Reihe von Etappen, wobei momentan nicht alle ihre Details bekannt sind. Zuerst planten die Gegner der neuen Machthaber in Kiew, einen Widerstand im Osten der Ukraine zu organisieren. Am 23. Februar tagte in Charkiw ein Kongress der Deputierten aller Ebenen aus dem Süd-Osten des Landes und aus der Krim. Offensichtlich wollte man eine ukrainische Gegenmacht etablieren, auf der Grundlage der Föderalisierung der Ukraine. Etwas ging aber schief, und so eine Gegenregierung wurde nicht geschaffen.

Janukowytsch, aus Kiew fliehend, kam auch nicht zu diesem Kongress. Einige der regionalen Bosse des Ostens besuchten Russland, bekamen ­wahrscheinlich andere Instruktionen und erklären seitdem, sie seien keine „Separatisten“ und erkennen die Autorität von Kiew an. Offensichtlich wählte man in Moskau eine andere Strategie, indem man auf den russischen Nationalismus setzte.

Diese Linie wurde auch durch den Beschluss der neuen Kie­wer Behörden stimuliert, den Sprachen der nationalen Minderheiten alle Rechte abzuerkennen: die Mehrheit der Bevölkerung im Osten und in der Krim spricht nämlich russisch. Die Etablierung einer neuen Stadtregierung in Se­wastopol und der Umsturz auf der Krim fanden schon unter den russisch-nationalistischen Parolen statt. Überall sind russische Fahnen, und die lokale Propaganda wiederholt lästig bis zum Brechreiz: „Sewastopol ist eine russische Stadt“; „Krim ist ein russisches Land“. Dabei gebraucht man kennzeichnend das Wort „russkij“ und nicht „rossijskij“, das heißt nicht „russländisch“, sondern genau „ethnisch-russisch“. Man argumentiert mit einer „Rückkehr“ der Russen ins Russland.

Kennzeichnend ist auch die Teilnahme der russischen (russisch-sprechenden) Ultrarech­ten in den heutigen Anti-Kiew-Protesten im Osten, im Süden der Ukraine und auf der Krim. Das sind vor allem Kosaken (heute sind sie so etwas wie der KKK in den USA) und die Mitglieder verschiedener profa­schistischer Gruppen. So war einer der Führer der heutigen prorussischen Proteste in Donetzk Pawel Gubarew früher ein Mitglied in der Nazi-Partei „Russische Nationale Einheit“ (RNE).

Übrigens ist die pro-russische Bewegung im Osten und auf der Krim ähnlich heterogen wie die Majdan-Bewegung. Und auch ähnlich nationalistisch und reaktionär in ihrer dominanten Orientierung.

Die Führer der prorussischen Kräfte auf der Krim sind die prominenten Vertreter der lokalen russischsprechenden Bourge­oisie. So waren der Ministerpräsident von Krim Sergej Aks­jonow und der Bürgermeister von Sewastopol Alexej Tscha­liy erfolgreiche Geschäftsmän­ner. Mehrere ArbeiterInnen sind auch leider in diese Welle unter der nationalistisch-bürgerlichen Leitung mit einbezogen, statt für ihre eigene Klasseninteressen zu kämpfen. Eine solche Verwirrung wird durch die neostalinistische „Kommunistische Partei“ gestärkt. So konnte man vor kurzem in Mariupilj eine tausendköpfige Straßenkundgebung sehen, an der mehrere ArbeiterInnen teilnahmen. Da gab es ein Gemisch aus den russischen und den roten Fahnen, die Drohungen mit einem Generalstreik in allen Betriebe der Stadt sowie eine merkwürdige Mischung der russisch-nationalistischen und der sozialen Forderungen (bis hin zur Rücknahme der Privatisierungen und Einführung der Arbei­terkontrolle). So eine „sozialere“ Orientierung ist aber für den selbsternannten „Russischen Frühling“ in der Ukraine gar nicht typisch.

Somit sind die heutigen Anti-Kiew-Proteste im Osten und auf der Krim nicht etwa ein „antifaschistischer Widerstand“, wie etwa die ukrainische leninistische Gruppe „Borotba“ meint. Es ist eher ein Kampf zwischen zwei verschiedenen Nationalismen, einem ukrainischen und einem russischen, wobei der zweite (mindestens auf der Krim) eine direkte Hilfe vom russischen Staate bekommt.

 

GWR: Wie beurteilst Du die Politik Putins? Wo siehst Du Motive für die Annexion der Krim? Welche geopolitischen Zusammenhänge siehst Du?

 

Vadim Damier: Es ist offensichtlich, dass das Putin-Regime die chaotische Situation in der Ukraine dafür benutzte, um seine eigenen hegemonialen Pläne zu realisieren. Die Interessen des russischen Staates und des russischen Kapital auf der Krim sind vielfältig.

Geopolitisch versteht sich Russland als eine regionale Su­permacht, die mindestens die Hegemonie im ehemaligen SU-Raum beansprucht. Die Ukraine wurde zu einer Konfliktzone der imperialistischen Widersprüche zwischen Russland und der EU. Im Gegensatz zu den Projekten der Assoziation der Ukraine mit der EU, erhob Moskau die Mitgliedschaft des südlichen Nachbarn in einem Bündnis unter seiner Herrschaft: einer Zoll-Union. Logi­scherweise möchte Russland eine antirussische Regierung in Kiew nicht dulden.

Interessanterweise wählte man in Moskau nicht etwa eine Option der Unterstützung eines innerukrainischen Widerstandes (z.B. mit einer Gegenregierung), sondern eine Annexion der Krim. Das hat Gründe. Das Regime von Putin bevorzugt es sogar, zu riskieren, einen festen und dauerhaften Feind mit den zukünftigen revanchistischen Bestrebungen in Kiew zu bekommen, nur um das Krim-Gebiet an sich zu reißen. Die Krim hat für den russischen Staat ei­ne große militärische Bedeutung. Dort befinden sich die Hauptbasen der russischen Schwarzmeerflotte, wobei die Frist der Stationierung 2017 ab­läuft. Strategisch gesehen ist die Halbinsel, die weit ins Meer dringt, ein Schlüssel zum Schwarzen Meer. Und die mögliche Perspektive einer Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO erschreckt die russische Regierung.

Nicht ohne Bedeutung sind na­türlich auch wirtschaftliche Interessen. Die KapitalistInnen Russlands machen in der Krim ihre Geschäfte und haben dort Immobilien. Neue lukrative Projekte sind geplant. So forderte das Ministerium für die wirtschaftliche Entwicklung Russlands die russische Geschäfts­männer Ende Februar 2014 dazu auf, 5 Milliarden US-Dollar in die Krim-Projekte zu investieren. Es geht vor allem um Entwicklung der Infrastruktur der Häfen sowie um die Rekonstruktion einer wichtigen Autobahn.

Eine zusätzliche Aufregung bringt die Information über reiche Gas- und Erdölressourcen im Meer in der Umgebung von Krim. Ihre Interesse dafür äußerten schon sowohl Gazprom, als auch westliche Firmen wie Exxon, Shell und ENI.

Und es gibt klare innenpolitische Motive für eine solche Einmischung. Die russische Regierung intensiviert immer mehr ihre neoliberale Sparpo­litik, und zwar vor dem Hintergrund der bereits sehr niedrigen Löhne. Mehrere Analytike­rInnen gehen davon aus, dass sich die Wirtschaftskrise hier­zulande in diesem Jahr verschärfen wird. So ist eine Anstiftung der nationalistischen und kriegerischen Hysterie ein passendes Mittel zur Ablenkung des Unmuts in der Bevölkerung, die damit dazu getrieben wird, die Reihe um die Regierung patriotisch zu schließen.

 

GWR: Wie ist die Situation für anarchistische und antimilitaristische Gruppen in Russland? In Moskau gab es Proteste gegen die Annexion der Krim durch Russland. Kannst Du dazu etwas sagen?

 

Vadim Damier: Die Situation eines Krieges war und ist immer eine entscheidende Probe für die Kräfte, die über eine soziale Emanzipation reden. Einige angebliche AntikapitalistInnen werden momentan zu den energischsten patriotischen Vater­landsverteidigern, andere verfallen in einen hysterischen „Antiimperialismus“ und solidarisieren sich mit einem „feindlichen Staat“, nur um der „eigenen“ Regierung weh zu tun.

Leider nur wenige bleiben den emanzipatorischen Prinzipien treu und nehmen die internatio­nalistische, antinationalistische Position gegen alle Kriegssei­ten ein. Dieselbe Spaltung passiert jetzt in Russland.

Ja, es gibt Proteste gegen den drohenden Krieg, und nicht nur in Moskau, sondern auch in Pe­tersburg und (kleinere) in den anderen Städten. Daran nehmen Tausende teil. Ich glaube, die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung will keinen Krieg mit der Ukraine und noch mehr keine größere internationale Militärkonfrontation.

In Anbetracht der starken Ato­misierung und der generellen Passivität in der Gesellschaft Russlands ist momentan leider ein aktiverer antimilitaristischer Widerstand kaum wahrscheinlich.

Die aktuellen Proteste gegen die Ukraine-Politik der russischen Regierung schätzen wir widersprüchlich ein. Einerseits ist schon gut, dass mehrere Leute gegen das Kriegstreiben protestieren und imperiale Beweggründe entlarven, die da­hinten stehen. Anderseits befindet sich diese Bewegung un­ter einer fast unerschütterten Dominanz der bürgerlich-liberalen und der „antiimperialisti­schen“ Diskurse. So konnte man z.B. in Moskau während der Mahnwachen gegen den Krieg am 7. März 2014 eine Mehrzahl der ukrainischen nationalen Symbolik (bis hin zu einem Bild der Fahne der ukrainischen Ultrarechten) sowie Plakate zur Unterstützung der ukrainischen Seite des Konflikts und des Majdan-Umsturzes beobachten.

Manche OrganisatorInnen der Proteste kokettieren mit den ukrainischen Staatsfahnen und wollen eine angebliche „ukrainische demokratische Revolution“ verteidigen. Der „Frie­densmarsch“ in Moskau am 15. März 2014 wurde von den bürgerlichen Oppositionsparteien organisiert, um „einen Protest gegen die Militäreinmischung in die Angelegenheiten des souveränen Staates Ukraine zu äußern“. In der Realität war es eher eine politische Anti-Putin- und pro-Ukraine- als eine Anti-Kriegsaktion. Es gab ein Meer der ukrainischen Staatsfahnen, und viele rufen „Slava Ukraine – Gerojam slava!“ („Heil der Ukraine, Heil den Helden“), eine Parole der ukrainischen Ultranationalisten und Ultrarechten.

Russische bürgerliche Oppositionelle sind bereit, sich im Kampf mit ihrem Lieblingsfeind sogar mit den Ultrarechten zu solidarisieren, was gar nicht so neu ist: während der Proteste gegen Putin 2011-2012 gingen sie mit einem Teil der russischen Neonazis zusammen.

Diesmal auch wurde ein Feind ihres Feindes zu ihrem Freund. Und sogar die (normalerweise miteinander stark verfeindeten) libertären Gruppen Moskaus bilden diesmal einen gemeinsamen Demonstrationsblock.

Die  (normalerweise miteinan­der stark verfeindeten) libertären Gruppen Moskaus machten einen Aufruf, in dem sie zwar  nicht nur das Putin-Regime, sondern auch russische, ukrainische, europäische und ameri­kanische Imperialisten und Faschisten, Behörden und Oligarchen kritisierten. Gleichzeitig schreiben sie aber, dass in der Ukraine „revolutionäre Ereignisse“ vor sich gehen – als ob die ukrainische Ultrarechte kein aktiver Bestandteil dieser Ereignisse wäre. Für diese „Libertären“ bestimmt das ukrainische „Volk“ (noch ein schönes Lieb­lingswort in der Terminologie mancher „AnarchistInnen“ in Russland!) gerade jetzt sein Schicksal selbst! 

 

GWR: Kannst Du etwas zu Euren Kontakten zu emanzipatorischen Gruppen in der Ukraine sagen?

 

Vadim Damier: Leider sind es eher einzelne Persönlichkeiten und nicht die Gruppen, mit denen wir momentan die Kontakte entwickeln. Während der ganzen Majdan-Krise agitierten diese Leute in ihrer Umgebung, im Internet und manchmal auch in den Straßen gegen die beiden Seiten, gegen den Nationalismus und für den Klassenwider­stand.

Diese internationalistischen Kreise sind ziemlich klein in der Ukraine (wie eigentlich auch in Russland), und so es ist nicht ihre Schuld, dass sie kaum gehört wurden. Unsere internatio­nalistische Deklaration gegen den drohenden Krieg wurde mit diesen ukrainischen GenossIn­nen diskutiert und entsprechend umformuliert. Wir arbeiten auch in der Verbreitung dieser Deklaration und generell der antinationalistischen Position eng zusammen. Wir hoffen, dass diese Kontakte und dieses gegenseitiges Verständnis weiter nicht verloren geht.

 

GWR: In deutschen Medien wird ein „neuer Kalter Krieg“ heraufbeschworen. Die grüne Politikerin Marieluise Beck wurde in der taz vom 4.3.2014 so zitiert: „Putin strebe eine Eurasische Union mit ehemaligen Sowjetrepubliken an. ‚Das ist eine imperiale Politik‘, sagte Beck.“ Auf der Homepage der DFG-VK konterten Wilhelm Achelpöhler und Uli Cremer treffend: „Und wenn die EU ihre Einflusssphä­re um ehemalige Sowjetrepubliken erweitern will, ist das keine imperiale Politik? Der Antiimperialismus lebt offenbar bei den GRÜNEN noch, wenn auch nur als Kritik des konkurrierenden Imperialismus.“

Tatsächlich haben wir es mit geopolitisch konkurrierenden Imperien zu tun, auf der einen Seite Russland, auf der anderen die NATO- und EU-Staaten. Wie können außerparlamentarische und anti-nationalistische Menschen gegen die imperialistische Politik agieren?

 

Vadim Damier: Natürlich haben wir es mit den konkurrierenden Imperialismen zu tun, mit einer nächsten Runde des Kampfes um die Neuverteilung der Welt. Es gibt dabei weltweit mehrere Akteure im Spiel – die imperialen Bestrebungen von USA, China u.a. Jeder Staat möchte seine Einflusssphäre erweitern und eine imperiale Politik betreiben. Nicht jeder kann das, aber jeder will.

Hieraus folgt die Heuchelei von allen Seiten. Jeder Staat erlaubt sich eine solche Politik, allen anderen wird so etwas aberkannt. Ich glaube, die erste und die vordringlichste Aufgabe der Anti-NationalistInnen ist es, diese Lage, diese Konstellation zu entlarven und das mög­lichst breiten Kreisen der Bevölkerung klar zu machen. Wir sollen immer –  und so systematisch wie wir nur können – erklären, dass die imperiale Politik und der Militarismus sys­temimmanent sind. Ohne eine Änderung im Bewusstsein zu befördern, können wir nie die diskursive Herrschaft des kapitalistisch-etatistischen Systems durchbrechen.

Dann gibt es die erprobten Me­thoden des antimilitaristischen Widerstandes: Boykott des Kriegsdienstes und der Armee, Desertion, Sabotage der Militär-Aktivitäten,… Man soll die antinationalistischen und die antimilitaristischen Themen breiter in die Tätigkeit verschiedener sozialer Organisationen und Initiativen hineinbringen, damit die Leute die Wechselbeziehung zwischen diesen und anderen sozialen Problemen verstehen. Und was speziell die aktuelle Situation anbetrifft, es wäre sinnvoll anti-nationalistische Protestaktionen vor den russischen und ukrainischen Vertretungen durchzuführen. Wenn es zu einer weiteren Internationalisierung des Konfliktes kommt – sollten wir auch einen sozialen Druck auf die Regierungen anderer Staaten ausüben, damit kein größerer Krieg entsteht. Wir dürfen den Herrschenden kein neues 1914 erlauben!

 

GWR: 1999 hat die NATO die damalige Bundesrepublik Jugoslawien bombardiert und die Abspaltung des Kosovo eingeleitet. Die GWR hat damals Massenzeitungen gegen diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg produziert und verbreitet. Weil wir zu Blockaden vor Militärbasen und alle Soldaten zur Desertion aufgerufen haben, wurde gegen uns wegen „öffentlicher Aufforderung zu Straftaten“ (§111 StGB) ermittelt. Einige KriegsgegnerInnen wurden damals zu Geldstrafen verurteilt. Nun hat einer der damaligen NATO-Kriegsführer Pu­tins Vorgehen auf der Krim mit dem „Kosovo-Krieg“ verglichen. Altkanzler Gerhard Schröder arbeitet heute für Gazprom und ist mit Putin befreundet. Er kritisierte am 8. März 2014 die Rolle der EU in der Auseinandersetzung. Die Europäische Kommission sei qualitativ in einem desolaten Zustand und habe „nicht im entferntesten kapiert (…), dass das ein kulturell gespaltenes Land ist, und dass man mit einem solchen Land so nicht umgehen kann“. Schrö­der wolle Putin nicht verurteilen. Er selbst habe als Kanzler im Jugoslawienkonflikt gegen das Völkerrecht verstoßen. „Da haben wir unsere Flugzeuge (…) nach Serbien geschickt, und die haben zusammen mit der NATO einen souveränen Staat gebombt – ohne dass es einen Sicherheitsratsbeschluss gegeben hätte.“ Insofern sei er vorsichtig mit dem erhobenen Zeigefinger. Was sagst Du dazu?

 

Vadim Damier: Das ist ein schönes und eindeutiges Beispiel von dem, was ich früher sagte. Alle Staaten und alle Politike­rInnen leiden am selben Machthunger. Aber „quod licet Iovi, not licet bovi“. Doppelstan­dards und Doppelmoral sind hoch im Kurs. „Mir“ und „uns“ ist alles erlaubt, den anderen aber nicht. Manchmal nennt man das „Patriotismus“, manchmal „Realismus“.

 

GWR: Du bist Aktivist und Be­wegungsforscher. Wie schätzt Du die Zunahme neofaschistischer Gruppierungen in Russland und in der Ukraine ein?

 

Vadim Damier: Leider ist das Wachstum der ultranationalis­tischen und profaschistischen Stimmungen keine Spezifik Russlands oder der Ukraine, sondern eher für ganz Osteuro­pa typisch. Vor allem war und ist das eine Reaktion auf die soziale Katastrophe der „marktwirtschaftlichen Wende“ und auf die Vertiefung der kapitalistischen Krise. Das Kleinbürgertum reagiert auf solche Erscheinungen immer nationalistisch, das kennen wir aus der Geschichte. Aber auch für die einfachen Leute in einer stark atomisierten Gesellschaft, die über keinen emanzipatorischen oder einfach Klassenbewusstsein verfügen, sind die nationalistischen Erklärungen am einfachsten. Ohne schon da­von zu sprechen, dass auf dem Hintergrund eines niedrigen Ni­veaus der Massenkultur sozialer Stress die Xenophobie verstärkt, als ein Treiben, den Unmut auf einen „Anderen“ (und nicht etwa auf die Herrschenden) umzuleiten.

Aber in den Staaten der ehemaligen SU gibt es noch zusätzliche Momente und Antriebe für den Nationalismus. Wir wissen, dass es nicht die Nationen sind, die Staaten bilden, sondern um­gekehrt, die Staaten formieren die Nationen. Die neuen Staaten, die kurzerhand auf den Trümmern der „Sowjetunion“ entstanden, forcieren die Prozesse der Nationsbildung. Und diese  laufen unvermeidlich mit einer Abgrenzung gegenüber das „Fremde“, mit einem Erstarken der Xenophobie und einer Unterdrückung der Minderheiten zusammen.

Was speziell Russland anbetrifft, hierzulande ist diese Situation durch eine Art von „Weimarer Syndrom“ ergänzt: weit verbreitete Vorstellungen, dass die Sowjetunion im Kalten Krieg nicht wirklich besiegt, sondern vielmehr von den inneren Feinden verraten und durch die angebliche „internationale Verschwörung“ vernichtet wurde. Mindestens seit Ende der 1990er Jahre werden diese Stimmungen auch von den Herrschenden (zusammen mit dem russischen Nationalismus) durch die Propaganda in den Medien und in der Schule geschürt und für die Legitimation ihrer Macht gebraucht.

Und endlich gibt es Informationen, dass die regierenden Kräfte ab und zu die Neofaschisten dazu gebrauchten, um andere politische Gegner zu schwächen. Solche Dinge wurden sowohl über das Putin- als auch über das Janukowytsch-Regime berichtet. In Anbetracht all dieser Faktoren, ist es leider wahrscheinlich, dass der Einfluss der Neofaschisten in unseren Ländern in der nächsten Zukunft eher wachsen wird.

 

GWR: Im Januar 2014, kurz vor den Olympischen Spielen in Sotschi, hat das Putin-Regime die „Propagierung von Homosexualität“ verboten. Kannst Du etwas zu den Hintergründen dieser  staatlichen Diskriminierung und Stigma­tisierung von Homosexuellen sagen?

 

Vadim Damier: Gerade mit den Olympischen Spielen hat das wenig zu tun. Es geht eher um einen Teil der Legitimationsstra­tegie des Regimes. Dieses fand endlich nach einigen Schwankungen seine offizielle Ideologie, die sich auf die berühmte ideologische Triade des Zarenreiches stützt: Alleinherrschaft, orthodoxer kirchlicher Glauben und Völkertum. Dies beinhaltet nicht nur den russischen Nationalismus oder das Wachstum des Einflusses und der Rolle der Kirche, sondern auch die Betonung der konservativ-traditionellen Werte und die Zwangs-„Moralisierung“ der Gesellschaft. Die Homosexuellen sind die logischen Opfer dieser Politik. Aber nicht nur sie. In den politischen und kirchlichen Kreisen spricht man z.B. immer lauter über die Begrenzung der Abtreibungen usw. Die Reaktion ist in einer frontalen Offensive.

 

GWR: Welche Perspektiven siehst Du für antimilitaristische, antifaschistische und an­dere emanzipatorische Bewegungen?

 

Vadim Damier: Ich hoffe, dass die emanzipatorischen Initiativen und Gedanken überleben – trotz dieser Offensive seitens der Reaktion. Ich glaube leider nicht an ihren kurzfristigen Triumph in einer so atomisierten und zerstörten Gesellschaft.

Aber wir wissen aus der Geschichte noch etwas: die Idee der Freiheit ist ewig. Sie stirbt nie und sie kann dann ganz plötzlich und unerwartet zum Ausbruch kommen. Aber daran sollten wir noch gut arbeiten!

 

GWR: Herzlichen Dank.

 

Interview: Bernd Drücke

 

Anmerkung:

Eine ins Russische übersetzte Version dieses Interviews ist auf www.aitrus.info/node/3650 dokumentiert.

 

Fußnoten:

 1 Dr. hist. habil. Vadim Damier (54) ist Politikwissenschaftler und aktives Mitglied der Föderation der Arbeitenden in Erziehung, Wissenschaft und Technik innerhalb der Konföderation Revolutionärer Anarchosyndikalisten (KRAS). Er hat für die GWR 386 (Februar 2014) den Artikel „Über die Ereignisse in der Ukraine“ ins Deutsche übersetzt. Ein Interview mit ihm erschien im März 2014 in dem von Bernd Drücke herausgegebenen Buch „Anarchismus Hoch 2“ (Karin Kramer Verlag, Berlin, Seite 67 bis 80): „Der Eisberg heißt Nationalismus“. Das neue Interview zur Situation in Russland und in der Ukraine wurde per Mail geführt.

 2 www.svoboda.org.ua/pro_partiyu/prohrama/

 3 Deklaration von InternationalistInnen gegen den Krieg in der Ukraine. Krieg dem Krieg! Nicht ein Tropfen Blut für die „Nation“!, siehe: www.aitrus.info/node/3610

; https://linksunten.indymedia.org/de/node/107321

 4 www.dfg-vk.de/aktuelles/informationen-der-friedensbewegung/2014/954

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 388, April 2014, www.graswurzel.net