Der gerissene Faden

Kritik als Haltung und Geschlecht als Gegenstand

»Feminismus als Utopie« hat es so wohl nicht gegeben.1 Der Begriff gibt es auch nicht her: Er enthält keine Gesellschaftsorganisation wie Sozialismus oder Matriarchat; aber er hat sich als Werkzeug etabliert, das in seiner Anwendung vielfältig war und blieb, so dass ein lang anhaltender Konsens in den Frauenbewegungen vorhanden war, dass damit gearbeitet werden könne und das Wie sich je nach politischem und kulturellem Kontext zu erschließen habe. Es gab autonome, sozialistische, sogar politischen Parteien nachgebildete Feminismen mit ihren Unterabteilungen. Anders als in anderen sozialen Bewegungen, die eigene gesellschaftliche Vorstellungen und Widerstände formulierten, war der Feminismus der Frauenbewegungen lange Zeit mit stark überschießenden und viele bewegenden Momenten gefüllt und auf eine heute nicht mehr nachvollziehbare Weise »sich sicher«: sicher in der historischen Bedeutung, der Veränderbarkeit von Umständen und des eigenen Selbst. Keine sich selbst genügende Sicherheit, sondern jenes Quantum an nicht hintergehbarer Existenzberechtigung, die eine Kultur von Bewegungen und jede einzelne Person braucht, um sich auch unter widrigen Umständen am Leben zu erhalten, Niederlagen zu verarbeiten, Gründe zu haben, daraus zu lernen, sich neu zu formieren und weiter zu lernen. Die Kraft, die über den Ist-Zustand hinausging, wäre auf das Selbstverständnis, das dieser vielfältige Feminismus wissenschaftlich und politisch formulierte, zu beziehen: Es war allen ganz selbstverständlich, dass alles und jedes erstritten, erkämpft, gehalten, neu erstritten werden musste. Die Idee, es könne sich auf irgendetwas schon Erreichtes mit Anrecht bezogen werden, galt als realitätsfremd. Die Kämpfe auf der institutionellen Ebene erforderten Durchhaltevermögen (z.B. der Strafrechtsbestand der »Vergewaltigung in der Ehe« existiert erst seit 1997); die Entlohnungsfragen, die gläserne Decke, Ungleichbehandlungen vieler Art werden noch ungelöst immer weiter transportiert, neu konturiert und erfahren ungeahnte Komplexität und Rückschläge (wie z.B. bei der überlappenden Diskussion um Prostitution und »weiße Sklaverei« oder der Debatte um den »alltäglichen Sexismus«). Überhaupt finden »Vorwärts«- und »Rückwärtsbewegungen« ungleichzeitig und gleichzeitig statt, werden gegeneinander ausgespielt und individualisiert.

Eine widerständige Haltung zu den alles durchziehenden Geschlechterverhältnissen, gepanzert mit verschiedenen Wissensarten – je nach politischer Positionierung –, die Verhältnisse als vergeschlechtlichte erkennen zu können, das ließe sich feministisch nennen. Und von heute aus gesehen hat diese Haltung durchaus utopische Züge, denn Feministinnen lasen sehr viel, durchdrangen komplexe Vergesellschaftungsangebote an sie als organisierte Zustimmung zu herrschaftlichen Verhältnissen; Begriffe galten tatsächlich als Instrumente des Begreifens z.B. der eigenen Verarbeitungsmuster und ihrer Verbundenheit mit der Zumutung, ein Mädchen, eine Frau zu werden, zu sein. Der Mut, Bedingungen und sich selbst infrage zu stellen, nährte sich auch von dem Überschuss, von dem Feminismus nicht wenig produzierte: Die Hoffnung war wohl auch, dass das Geänderte selbst er- und gelebt werden könnte und es an sich und den anderen erkennbar würde. Nicht nur deshalb griffen auch Feministinnen auf die Philosophie und Konzepte Ernst Blochs zurück, der von einem »Wärmestrom« schrieb, der in der allgemeinen Kälte schon erfahren werden könne. Oder dass es ein kompliziertes sinnhaftes Leben in diesem schwierigen metaphorischen Raum von »nicht mehr und noch nicht« gäbe. Solche Formulierungen gaben dem Versuch, etwas anders zu denken, zu handeln, Bedeutungsräume, die mit Hoffnung gefüllt wurden, über den Versuch aber kaum hinausgelangten. Es gab diese gedachte »Indem«-Beziehung, die alle Feminismen von herrschender Politik trennte: Indem ich mich ändere und es massenhaft Ichs gibt, ändern wir die Welt. Mit und ohne Pathos wurde die Abhängigkeit voneinander deutlich, weil Feministinnen sich auf eine Welt bezogen, von der sie wussten, dass sie ihnen kein Zuhause ist, so dass jegliches angebotene Zuhause (Mann, Familie, Kinder, Erwerbsarbeit usw. usf.) mit Misstrauen zu prüfen war. Peter Weiss hat diesen Zusammenhang in den Satz gebracht: »Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen.«

Die Unterworfenheit, die Unterdrückung, die Beherrschung der Frauen ist so zusammengesetzt, dass sie als Gruppe nicht befreit werden (also passiv) und als einzelne sich nicht befreien (also aktiv) können. Aus dieser Einsicht wurden Theorie-Praxis-Verhältnisse und Politik-Konzepte entwickelt. Dieser Zusammenhang ist immer noch tragfähig, ihn als historisch besonderen Augenblick in den 70er und 80er Jahren erprobt zu haben, erinnerungswürdig. Politische Konzepte müssten diese Einsicht heute anders transportieren.

Wenn Utopie – konkret gefasst – die Sichtbarhaltung eines anderen möglichen Lebens war und ist, dann waren Feministinnen Trägerinnen dieses Geistes, indem sie als Quelle des Anderen eine radikale Gesellschaftskritik setzten, die der Einsicht folgte, dass, wenn das Geschlecht nicht bleiben kann, als was es fungibel gemacht wurde in der Gesellschaft, die ganze Gesellschaft nicht bleiben kann, was und wie sie ist. Der feministische Bezug war also immer ein Bezug aufs Ganze, auch wenn es in der konkreten Theorie und Politik nur um Teile davon gehen konnte. Helke Sander (1975) formulierte dies 1968 so: »Wir wollen versuchen, schon innerhalb der bestehenden Gesellschaft Modelle einer utopischen Gesellschaft zu entwickeln. In dieser Gesellschaft müssen aber unsere eigenen Bedürfnisse endlich einen Platz finden.« (11)

 

Gegenwärtige Pragmatik

In den Zeiten der Schwäche fehlt es oft nicht an richtigen Leitsätzen, sondern an einem einzigen. Von der Lehre passt ein Satz zum andern, aber welcher passt zum Augenblick? Es ist alles da, aber alles ist zuviel. Es fehlt nicht an Vorschlägen, aber es werden zu viele befolgt. Es fehlt nicht an Wahrnehmungen, aber sie werden rasch vergessen. In den Zeiten der Schwäche ist man engagiert, und man engagiert sich nicht. / In den Zeiten der Schwäche ist vieles wahr, aber es ist gleich wahr; ist viel nötig und kann weniges geschehen; der Ausgeschaltete ist in Ruhe versetzt und hat keine Ruhe. (Brecht, GW 20, 97)

Die Ergebnisse der Interview-Studie von Anja Nordmann (2011) ließen sich zu zwei ideologischen Anrufungen, die immer wieder von den 20 –30-jährigen Studentinnen bedient werden, zusammenfassen: »Sei brav und emanzipiere dich!« und »Es kommt darauf an, die Situationen interpretierend zu bewältigen und nicht darauf, sie zu verändern.« Das alltäglich vermittelte Wissen um die »Geschlechterfrage« kommt nicht aus den feministischen Wissenschaften, sondern wird politisch von den entsprechenden Ministerien, kulturell von den medialen Hypes diverser Shows und ökonomisch von messbaren Benachteiligungen bei der Gehaltsauszahlung bestritten. Sexismus ist – so antworteten die Studentinnen – die Darstellung irgendwelcher Frauenkörper in Zeitungen und Zeitschriften, weil das »verkaufsfördernd« sei, oder ein übergriffiger Satz zu später Stunde an der Bar; Benachteiligung ist, wenn ich ANDERS behandelt werde, auch wenn es mir nicht schadet. Empörung und Einspruch bleiben immer gedanklich und sind praktisch hilflos. Diffuse Gefühle und erschreckend unausgebildete Artikulationsfähigkeit versuchen mitzuteilen, dass da etwas nicht stimme mit dem »weiblich-geschlechtlichen Dasein«, ohne allerdings nachweisbar davon gestört, behindert oder gar desorientiert zu sein.

Die Verhältnisse wurden von oben neu zugerichtet und die unten erleben eine Dauerbeschäftigung mit der von oben verordneten Emanzipation, die ihnen gute Jobs, anständige Behandlung und gute Gehälter verspricht. Die sogenannte Vereinbarkeitsfrage, die sich immer auf Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit an Kindern orientiert und dabei die Notwendigkeit von ersterem und die biologisch-soziale Selbstverständlichkeit von letzterem unterstellt, kann auch als bevölkerungspolitische Offensive gelesen werden: ›Frauen, die Ihr verlernt habt, Eure Hormone zu hören, seid erinnert, dass Ihr einen Kinderwunsch zu haben habt.‹ An keiner öffentlich geführten Auseinandersetzung wird die sozial-kulturelle Konstruktion von menschlich-biologischen Möglichkeiten als gesellschaftlicher Notwendigkeit so sichtbar wie an dieser Debatte, die ihre Gesellschaftlichkeit sogleich als Naturalisierung verdeckt und den Kinderwunsch, den sie zu erzeugen versucht, als »natürlichen Wunsch« von Frauen politisch zu berücksichtigen vorgibt. Zugleich wurde die »Kinderfrage« von Frauen um ihren zentralen Inhalt beraubt: dass Kindern die Möglichkeit einer emanzipatorischen Erziehung gegeben werden müsse, indem die Erziehungsfragen entprivatisiert und vergesellschaftet werden.

Die Beschreibung der Geschlechterpositionierungen, die Vorgabe dessen, was als Diskriminierung zu bewerten sei, die Lösungen für die Dilemmata – strukturell und individuell – sind in den Tageszeitungen nachlesbar und werden kaum komplexer in Seminaren der Gender-Studien (mit Bachelor-Abschluss) verhandelt. Dort zirkulieren z.B. »Lösungsansätze« als Wissensproduktion und Vermittlung wie an der Universität Lüneburg:

Die sieben Hauptkategorien für Integratives Gendering in der Lehre sind: 1. Berücksichtigung der einschlägigen Geschlechterforschung und der Forschungsansätze von Wissenschaftlerinnen in der Lehre; 2. Lernziel: Gender-Kompetenz als Schlüsselkompetenz der Studierenden; 3. Inhaltliche Berücksichtigung von Genderaspekten; 4. Inhaltliche Berücksichtigung von Diversityansätzen; 5. Anwendung genderorientierter didaktischer Ansätze; 6. Entwicklung und Anbieten von Gendermodulen; 7. Berücksichtigung von Genderaspekten in der Studiengangsorganisation.2

Master-Studiengänge heißen: Gender- und Diversity-Kompetenz.3 Hier werden die Studierenden darauf vorbereitet, »Gender-IngenieurInnen« zu werden und die Kategorie »Gender« als erkannten Problemzusammenhang zu bewältigen und anzuwenden. Das ist eine Überraschung, dass eine Kategorie, die ob ihrer Herrschaftsfunktion ausschließlich dazu beforscht wurde, sie zurückzudrängen, überflüssig zu machen, jetzt im Überfluss in emanzipatorischer Absicht gelehrt, praktiziert und als Wahrnehmungssensibilität verbreitet wird. Gender als Kategorie von Leistung und Karriere hat sich durchgesetzt: Lerne dein Geschlecht selbst zu modulieren: »Wie macht Frau Karriere? Training zum außer- und überfachlichen Aufstiegspotenzial von Nachwuchswissenschaftlerinnen und weiblichen Führungskräften« (Uni Gießen).4 Gender als Kategorie der Benachteiligung hat sich ebenfalls durchgesetzt, wohlgemerkt, Benachteiligung von Frauen, nicht von Gender. »Gender makes the difference II: Gewalt im Geschlechterverhältnis – Ursachen, Erscheinungsformen, Auswirkungen und Konsequenzen für Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und soziale Praxis« (Uni Lüneburg)5. An den Universitäten gibt es eine so umfangreiche Wissensproduktion zu »Gender«, dass eigentlich Beruhigung entstehen könnte. Eine grobe – und damit inadäquate – Einteilung könnte so aussehen:

A. Produktion von Theorieensembles, die Kategorien-, Form-Strukturanalysen liefert,
B. Produktion von Bereichswissen: Erwerbsarbeit, Familie, Körper, Kunst und Kultur,
C. Ratgebertheorie und -praxis: Tun und Lassen in geschlechtlich zugerichteten Bereichen und Praxen.

Die Bezüge der Bereiche untereinander sind selten und falls sie stattfinden, immer »artifiziell«. Die klassische Arbeitsteilung – gegen die feministisch in den 1970er und 80er Jahren so erfolgreich und aufregend gestritten, geforscht und geschrieben wurde – ist wieder da: Die Empirikerinnen verlassen sich auf die je abstraktere Wissensproduktion, die wiederum darauf vertraut, dass die Realitätsarbeiterinnen zur Wirklichkeit hin das Wissen »anwenden« und vermitteln. Dass darin selbst schon strukturelle Dummheit und Ideologie liegt, ist kein Thema, das systematisch gelehrt und angeeignet würde. Die Kategorien bleiben äußerlich, und ihre schwierige Vermittlung mit den konkreten Lebenslagen und somit mit Quellen der Unzufriedenheit, dem Wissenshunger und möglicher Tatkraft von »das Andere denken« müssen individuell hergestellt werden. Das Bewusst-Gemachte bewusst machen – also Denken und Handeln in einen vermittelten Kontext zu situieren –, erscheint wie die Utopie selbst.

 

Konkrete Negation als Stoffgewinnung für Utopie. Das »gute« Leben im »falschen«: Judith Butler

Ich möchte die Widersprüchlichkeit einer handlungsleitenden Orientierung theoretischer Debatten an einem aktuellen Beispiel vorführen: die Adorno-Preisrede von Judith Butler im letzten Jahr, ohne die Debatte um Antisemitismus, sondern ganz und gar auf den Inhalt der von ihr gewählten Sequenz bezogen. Sie wurde durch die vorherigen Debatten noch einmal aufgeladen und war medial sehr präsent. Mit diesem Vorlauf war eine gute Möglichkeit gegeben, den Theorie-Praxis-Faden oder Einsicht-Handeln-Zusammenhang öffentlich aufzunehmen für einen Utopie-Vorschlag, einen Gedanken zentral werden zu lassen gegen die Zerrissenheit der vielen, nicht miteinander verbundenen – eine Aufgabe, die von jeher der Philosophie zukam.

Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind, haben etwas Unerträgliches angenommen: jeder Zug des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt. Die neusachlichen, die tabula rasa gemacht haben, sind von Sachverständigen für Banausen angefertigte Etuis, oder Fabrikstätten, die sich in die Konsumsphäre verirrt haben, ohne alle Beziehung zum Bewohner: noch der Sehnsucht nach unabhängiger Existenz, die es ohnehin nicht mehr gibt, schlagen sie ins Gesicht. Der moderne Mensch wünscht nahe am Boden zu schlafen wie ein Tier, hat mit prophetischem Masochismus ein deutsches Magazin vor Hitler dekretiert und mit dem Bett die Schwelle von Wachen und Traum abgeschafft. Die Übernächtigen sind allezeit verfügbar und widerstandslos zu allem bereit, alert und bewusstlos zugleich. Wer sich in echte, aber zusammengekaufte Stilwohnungen flüchtet, balsamiert sich bei lebendigem Leibe ein. Will man der Verantwortung fürs Wohnen ausweichen, indem man ins Hotel oder ins möblierte Appartement zieht, so macht man gleichsam aus den aufgezwungenen Bedingungen der Emigration die lebenskluge Norm. Am ärgsten ergeht es wie überall denen, die nicht zu wählen haben. Sie wohnen wenn nicht in Slums so in Bungalows, die morgen schon Laubenhütten, Trailers, Autos oder Camps, Bleiben unter freiem Himmel sein mögen. Das Haus ist vergangen. Die Zerstörungen der europäischen Städte ebenso wie die Arbeits- und Konzentrationslager setzen bloß als Exekutoren fort, was die immanente Entwicklung der Technik über die Häuser längst entschieden hat. Diese taugen nur noch dazu, wie alte Konservenbüchsen fortgeworfen zu werden. Die Möglichkeit des Wohnens wird vernichtet von der sozialistischen Gesellschaft, die, als versäumte, der bürgerlichen zum schleichenden Unheil gerät. Kein Einzelner vermag etwas dagegen.

Schon wenn er sich mit Möbelentwürfen und Innendekoration beschäftigt, gerät er in die Nähe des kunstgewerblichen Feinsinns vom Schlag der Bibliophilen, wie entschlossen er auch gegen das Kunstgewerbe im engeren Sinne angehen mag. Aus der Entfernung ist der Unterschied von Wiener Werkstätte und Bauhaus nicht mehr so erheblich. Mittlerweile haben die Kurven der reinen Zweckform gegen ihre Funktion sich verselbständigt und gehen ebenso ins Ornament über wie die kubistischen Grundgestalten. Das beste Verhalten all dem gegenüber scheint noch ein unverbindliches, suspendiertes: das Privatleben führen, solange die Gesellschaftsordnung und die eigenen Bedürfnisse es nicht anders dulden, aber es nicht so belasten, als wäre es noch gesellschaftlich substantiell und individuell angemessen. »Es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein«, schrieb Nietzsche bereits in der Fröhlichen Wissenschaft. Dem müsste man heute hinzufügen: es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein. Darin zeigt sich etwas an von dem schwierigen Verhältnis, in dem der Einzelne zu seinem Eigentum sich befindet, solange er überhaupt noch etwas besitzt. Die Kunst bestünde darin, in Evidenz zu halten und auszudrücken, dass das Privateigentum einem nicht mehr gehört, in dem Sinn, dass die Fülle der Konsumgüter potentiell so groß geworden ist, dass kein Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klammern; dass man aber dennoch Eigentum haben muss, wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not geraten will, die dem blinden Fortbestand des Besitzverhältnisses zugute kommt.

Aber die Thesis dieser Paradoxie führt zur Destruktion, einer lieblosen Nichtachtung für die Dinge, die notwendig auch gegen die Menschen sich kehrt, und die Antithesis ist schon in dem Augenblick, in dem man sie ausspricht, eine Ideologie für die, welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. (Adorno, »Asyl für Obdachlose«, Minima Moralia (1951), Frankfurt/M 1979, 40-42)

Was lernt Butler von Adorno, wie historisiert sie dessen verzweifelten Widerspruch für unsere Zeit? Sie antwortet: »In seinen Minima Moralia sagt Adorno: ›Es gibt kein richtiges Leben im falschen‹ – aber das ließ ihn keineswegs an der Möglichkeit der Moral verzweifeln. Vielmehr stehen wir damit vor der Frage: Wie kann man ein gutes Leben im schlechten führen?« (2012, 97)

Zunächst ist festzuhalten: Sie ignoriert den Titel. »Asyl für Obdachlose« – das ist die fehlende Behausung (von der so viele Frauenrechtlerinnen und Feministinnen vom 19. Jahrhundert an berichteten, indem sie ihr Fehlen in dieser Welt für Frauen analysierten), nun generalisiert und als theoretisch geleitete Beschreibung untersucht. Heimat ist nicht nur nicht mehr ein Ort, »worin noch niemand war«, aber doch »allen in die Kindheit scheint«, wie es am Ende des Prinzip Hoffnung heißt; das Private wird als ideologisierte »Heimat« selbst zerstört und eine Hoffnung, sich ein Behaustsein, jenseits von Privateigentum und Gütern vorstellen zu können, wie es Bloch doch tat, löst sich in dem neu erworbenen Habitus auf, keine Verbindlichkeit gegenüber den Güter-Dingen mehr zu entwickeln und sogar – angesichts der Güterflut – kein Recht darauf mehr zu entwickeln.

Sodann: Adorno fragte nach »richtig« und »falsch«; nach einem wahren Leben und einem, das sich verfehlt, indem ihm mögliche Wahrheit vorenthalten, verunmöglicht wird. Dass der Mensch weder Dinge noch sich selbst besitzen kann, ist für ihn eine materielle Praxis, keine Moral. Er sieht die Moral als »ideologischen Kitt«, der solche Existenz erträglich macht: »Es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein. Darin zeigt sich etwas an von dem schwierigen Verhältnis, in dem der Einzelne zu seinem Eigentum sich befindet, solange er überhaupt noch etwas besitzt.« (41f) Butler verschiebt diesen radikalen Zusammenhang, in dem das Privateigentum sich seinem Besitzer so entfremdet wie der sich wiederum von sich selbst, in eine moralphilosophische Frage: Kann man ein gutes Leben führen? Ist es einfacher, undogmatischer, ein »gutes« anstelle eines »richtigen« Lebens zu führen, zu begründen?

Drittens: Wenn Butler das »richtige Leben« sagt, nimmt sie es fast alltagsverständig wieder auf. »Besonders deutlich wird dies, wenn diejenigen, die behaupten, ein gutes oder richtiges Leben zu führen, von der Arbeit anderer oder von einem Wirtschaftssystem profitieren, das auf Ungleichheit basiert. Das ›richtige Leben‹ muss also weiter gefasst werden, so dass es keine Ungleichheit voraussetzt oder mit sich bringt.« (98) Richtiges Leben wird zu »etwas richtig« machen unter moralischen Bedingungen. Butler moralisiert die Ausgangsfrage systematisch und nimmt ihr die Radikalität, indem Werte und Normen zur Zentralfrage werden und auf diese Weise auch individuell beantwortbar.

Viertens: Während sie doch selbst alltagsverständig antwortet, schlägt sie sogleich vor, die Beantwortung nicht im Alltag zu suchen: »Das ›richtige Leben‹ ist mit anderen normativen Werten in Einklang zu bringen. Wenn wir uns auf unsere Alltagssprache verlassen, um zu erfahren, was das richtige Leben ist, geraten wir notwendig in Unklarheiten, da dieser Ausdruck so viele konkurrierende Wertordnungen impliziert.« (98) Die erste Entmutigung für Utopie- oder Wissenssuchende ist schon da: Was wir alltäglich leben, bietet keinen Stoff, »ExpertInnen« sind notwendig. Adorno hingegen hatte Aspekte des Alltags kritisch entfaltet, Alltagsphänomene, die im Alltag zerstreut herumliegen, konzentriert, sich berühren lassen, so dass der Alltag klarer wird und auch, dass daraus – wenn die Sinne und Begreifenskräfte gerichtet werden (wir nennen es Bildung) –, Schlussfolgerungen entstehen.

Bei Adorno wird nicht von einem Zustand ausgegangen, der die Richtung für »richtiges Leben« zeigt, sondern von konkret existierenden Widersprüchen, die die Arbeit für das richtige Leben sinnvoll machen könnte und die er nicht findet. Er hat kein Ideal – seine Voraussetzung ist: dass Verhältnisse einen produktiven Umgang ermöglichen müssen, so dass mit dem richtigen Leben (hier als Tätigkeit) begonnen werden kann. Butler unterstellt, dass wir alltäglich verwirrt sind und deshalb nichts aus dem Alltag lernen können. Sie ist nicht hilfreich beim Entwirren oder bei dem Versuch, Entwirrungsstrategien zu lernen. Sie unterschreibt so eine Arbeitsteilung, in der die einen etwas leben müssen, was ihnen unerkannt bleibt und die andere Erkenntnisse darüber haben, die das Leben kaum berühren.

Butler sagte:

Tatsächlich wirft er [Adorno] auch die Frage auf, wie die umfassenderen Macht- und Herrschaftsmechanismen in unser individuelles Nachdenken über das richtige Leben eindringen oder dieses Nachdenken verzerren. […] Ich muss schon eine Vorstellung von meinem Leben haben, um mich fragen zu können, welches Leben ich führen soll, und mein Leben muss für mich auch schon etwas sein, das ich selbst führen kann und von dem ich nicht bloß geführt werde. Dabei ist auch schon deutlich, dass ich nicht sämtliche Aspekte des lebendigen Organismus, der ich bin, steuern kann. Wie ›führt‹ man ein Leben, wenn sich nicht alle Lebensprozesse, aus denen ein Leben besteht, ›führen‹ lassen oder wenn sich nur bestimmte Aspekte des Lebens selbst lenken oder mit Überlegung bestimmen lassen, andere hingegen eindeutig nicht? (98f)

Dann wechselt sie schlagartig zu der Frage, »wessen Leben zählt« und wendet sich kursorisch Arendt zu und Fragen der anerkennenden Trauer um gestorbenes Leben bzw. biopolitischen Fragen sowie körperlichen und solidarischen Weisen des Widerstands. Sie endet mit den Sätzen:

Indem wir uns eingestehen, dass wir einander brauchen, bekennen wir uns zugleich zu grundlegenden Prinzipien der sozialen und demokratischen Bedingungen dessen, was wir als ›das gute Leben‹ bezeichnen könnten. Das sind entscheidende Bedingungen demokratischen Lebens, entscheidend in dem Sinn, dass sie Bestandteil einer andauernden Krise, aber auch Bestandteil eines Denkens und Handelns sind, das sich den Bedrängnissen unserer Zeit stellt. (108)

Während sie im ersten Teil den wieder aktuellen Begriff der Lebensführung bejaht und weiterträgt, ohne seine Haltbarkeit und aktuelle ideologische Einfassung zu prüfen, wird es im zweiten Teil quasi-religiös, deshalb, weil das Eingestehen von Etwas etwas zutiefst Privates ist, fast an ein schlechtes Gewissen erinnert. Täglich gestehen sich viele Haushalte ein, der Mülltrennung nicht gerecht geworden zu sein, ohne dass der nächste Tag anders beginnt. Eingeständnisse haben oft die eine Funktion, mich an das zu erinnern, was ich weiß und was mich zur besseren Handlung leiten sollte, ohne dass je eine größere Kraft daraus entstanden wäre. Wenn dieses Wissen um etwas kein Motiv ist – also moralisch bleibt –, was kann dann über das »Eingestehen« hinaus bei den noch grundlegenderen Fragen als mögliche Haltung, als Motiv eingesetzt, vorgeschlagen werden? Offene Fragen.

Während Adorno (2007) uns vorführt, dass individuelle Moral und ihr Bemühen um »gutes Verhalten« chancenlos bleiben, weil beide aus den Verhältnissen selbst genommen werden müssen und auch ein Durchdringungs-Dilemma vorführt, das in der Aussage gipfelt: »Um durchschaut zu werden, kann die Welt nicht mehr angeschaut werden« (404), reduziert Butler die Widersprüche und führt sie zurück auf ein schon vorhandenes, offenbar nicht missgestaltetes oder widersprüchliches Wollen, das »sich den Bedrängnissen« stellt. Die Haltung wird schon vorgeschlagen, bevor eine Analyse der Bedrängnisse vorgenommen wurde. Wie in vielen ihrer Geschlechteruntersuchungen werden die »schlechten« oder fragwürdigen Umstände zur Legitimierung einer Moral, die aber weder in ihrer gesellschaftlichen Form, jenseits des lapidaren Hinweises auf disparate soziale Bewegungen, noch ihres konkreten Erwerbs, noch ihrer Kraft diskutiert werden. Solche Vorschläge sind quasi-religiös, jedoch ohne die Kraft einer religiösen Form oder eines Gottes. Eine Wissenschaftlerin, die die intelligible – durch Begreifenskräfte erfassbare Vermittlung einer Bedeutung – Seite von Vergesellschaftungskategorien stark in die Diskussion zurückbrachte, sieht die lebende Moral wie ein Reiz-Reaktions-Verhältnis, das den Aktivisten passiert.

Und schließlich: Es wird aus Leben, das nicht richtig werden kann – also ganz offenbar nicht dem Individuum zur Gestaltung untertan geworden ist oder bloßer Stoff, der gestaltet sein will – ein generalisierter anonymer Mensch – ein »man«. Adorno hatte nicht die Idee, dass jemand sein/ihr Leben führt, sondern dass es – was mit dem Begriff Reflexivität erfasst wird –, als eigenes Leben angesehen werden kann, als Resümee des Prozesses, der Fremdbestimmung Selbstbestimmung abzuringen; aus der Fremdbeauftragung eine Selbstbeauftragung zu erstreiten; zu erkennen, dass dem Ich Unkontrollierbares widerfährt, nicht nur weil die Gewalt der Verhältnisse soviel mächtiger ist, sondern auch weil selbst bei sorgfältigster Erwägung und Wahlfreiheit etwas Klar-Richtiges, Gutes, Unbeschädigtes nicht ergriffen werden kann, weil es fehlt. Weil es unmöglich ist. Weil der Kapitalismus in jeder Pore seiner Zeit Spuren und Verwüstungen hinterlässt, auch solche, die wie eine Fata Morgana in der Sonne leuchten.

Die Philosophin/Wissenschaftlerin ist nicht viel weiter als die politisch-ideologischen Strategien der aktuellen Gesellschaft/en. Es werden Gegen-Werte ausgerufen, deren mögliche, massenhafte Befolgung unterstellt wird. Butler führt sehr schön vor, was sich in den letzten Jahren an theoretischen und empirisch arbeitenden Texten wiederfand: Es gibt einen neuen hilflosen Idealismus, der aus verjenseitigten Wertehimmeln einen Idealzustand/Sollzustand zu benennen versucht, an dem sich die schlechte Wirklichkeit messen muss. Der Unterschied zu eben dieser Idee bei Kant z.B., der den Sollzustand als für das Individuum auferlegte Entwicklungsarbeit sah, ist, dass das Ideal als realistisch Mögliches eingeklagt wird. Was bei Butler die einklagbare Moral ist, ist im Politischen, das die Vermittlungsaufgabe für individuelle Biographisierungsabsichten am deutlichsten formuliert, die Klage, die Empörung in Richtung Politik oder Gesetzgeber: Die unterstellte Chancengleichheit ist keine; die Vereinbarkeit von qualifizierter Erwerbsarbeit und »Familie« funktioniert nicht usw. Da sich die staatlicherseits geforderten und zertifizierten Qualifikationen und Kompetenzen wie selbstverständlich verstehen als Emanzipationsschritte und Autonomiemöglichkeiten, werden sie in ihren Zurichtungen als Lösung für Frauenfrage/n und Ungleichheit rezipiert. Ich beobachte diesen Vorgang seit 1982, als unter Kohl Rita Süssmuth Frauenministerin wurde und eine der ersten politischen Taten von Norbert Blüm – damals Minister für Arbeit und Sozialordnung – ein langer Artikel in der Frankfurter Rundschau war mit dem Titel: »Für die Feminisierung der Gesellschaft«.

Auch er wollte eine »neue Moral«, in der Freundlichkeit und Zuwendung zu verallgemeinerbaren – und nicht nur von Frauen befolgten – Regeln würden. All diese neuen Vergesellschaftungsangebote und -zumutungen arbeiten mit dem Begriff der Lebensführung, der auch in der Soziologie und Sozialpsychologie eine Renaissance erlebt.

Das verjenseitigte Ideal erzwingt diesseitige Handlungs-Entscheidungs-Kompetenzen (das Wort Strategie bietet sich nicht mehr an, denn eine Strategie muss eine Prozesshaftigkeit haben, einen Zeit-Raum, der ungehindert und abgesichert überblickt werden kann; die Raum- und Zeitverfügung wird jedoch systematisch entzogen).

Noch einmal zurück zu Brecht: »Es ist alles da, aber alles ist zuviel. Es fehlt nicht an Vorschlägen, aber es werden zuviele befolgt. Es fehlt nicht an Wahrnehmungen, aber sie werden rasch vergessen. In den Zeiten der Schwäche ist man engagiert, und man engagiert sich nicht.« Hat Butler etwas beitragen können, diese Dilemmata anzugehen oder auch nur konkreter zu denken? Wenn nicht, muss die Frage erlaubt sein, warum soviel Einflussmöglichkeiten nicht genutzt werden, obwohl ständig soviele »gute« und »richtige« Worte zum notwendigen Engagement gesprochen werden. Es gibt durchaus »richtiges« Sprechen im »falschen« Dispositiv.

 

Das andere Leben gegen das falsche

Die Frage nach dem guten oder richtigen Leben ist eingespannt in die Produktivität der gegebenen kapitalistischen Verhältnisse; der Fokus liegt entsprechend auf der ihr vorausgehenden Frage, ob es innerhalb des Kapitalismus überhaupt möglich bzw. realistisch ist.

Das Erstaunliche ist, dass es feministische Wissenschaften waren, die u.a. die alltäglichen Lebenszusammenhänge erforschten und Expertinnen dafür waren. Um nur an zentral gewordene klassische Texte zu erinnern: Mitte der 1970er Jahre waren es Karin Hausen, die die »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« als Trennung von Arbeitszusammenhängen entzifferte und Ulrike Prokop den »weiblichen Lebenszusammenhang « als eigenlogisches Raum-Zeit-Verhältnis beschrieb. Dorothy Smith entwickelte Anfang der 80er eine Soziologie der Frauen und nannte sie »every day and night sociology«, dem Alltag so die Allnacht dazugab, weil sie nicht selten ein (hier privat gemeinter) Arbeitszusammenhang von Frauen in der Reproduktionsarbeit ist. Nicht zu vergessen die Studie von Heintz und Honnegger zu den »Listen der Ohnmacht«, diesem Versuch, der entmächtigten Lage Fähigkeiten und Widerstand abzuringen. Aus diesem Alltag der »Flut der Güter« und Anforderungen, den Verletzungen etwas entgegenzusetzen, das »andere Leben« vorstellbar zu machen, wäre als Aufgabe zu formulieren. Sozialwissenschaftliche Forschung in der Gender-Perspektive wird erschöpft in der Aufarbeitung der Ist-Zustände und ihrer Verarbeitungsmuster.

Historisch gibt es eine Art Vorbild für solche Forschungen, die auf eine konkrete Negation, die zu erreichen wäre, zu antworten suchen. Man kann sie wieder finden in Virginia Woolfs Drei Guineen von 1938. Der Text ist ein Antwortbrief an einen »gebildeten Mann«, der um Auskunft darüber bat, wie der Krieg zu verhindern sei.

Es ist hier nicht der Ort, eine ausführliche Auseinandersetzung zu präsentieren, aber die Methode (und Logik) von Woolf vorzuführen, der es gelingt, den Fakten zu und Praxen von Frauen etwas abzugewinnen, das sowohl die Realität auf ihren Gehalt zuspitzt als auch das Überschießende, Widerstehende, Intelligente, auf Utopie Verweisende herausarbeitet.

Wie in unserer Situation heute ist ihre Frage darauf gerichtet, wie die umfassend wirksamen, patriarchal und kapitalistisch festgesetzten Strukturen zu verändern sind. Und wie sie erklärt, dass sie wirksam bleiben, weil sie den Bedürfnissen einer Geschlechtsgruppe und einer Klasse zuarbeiten und sie befriedigen (z.B. Eigennutz, Eitelkeit, Eigentum und Besitz, gewaltzugeneigter Männlichkeit), sucht sie entsprechend nach Haltungen der anderen Geschlechtsgruppe und in Schnittmengen der anderen Klassen, die diese Struktur transparent machen in ihrer Art des Funktionierens und Wirksamseins, indem sie entzaubert (wir würden de-naturalisiert sagen), lächerlich gemacht und unterminiert werden. Sie greift auf jene Haltungen zurück, die im 19. Jahrhundert von Frauen gewaltsam erzwungen wurden, um sie – aus dieser Form im 20. Jahrhundert befreit –, gesellschaftlich (nicht mehr privat) wirksam werden zu lassen. Es gab solche feministischen Ansätze in den 80er Jahren, die unter der Rubrik »Gebrauchswertorientierung vs. Tauschwertorientierung« firmierten.

Der gebildete Briefschreiber hatte dazu aufgefordert, durch die »Verteidigung von Kultur und Freiheit«, den Krieg zu verhindern. Woolf fragt sich, was als Kultur zu begreifen sei und definiert: »Deshalb wollen wir Kultur für unsere Zwecke als die uneigennützige Beschäftigung mit dem Lesen und Schreiben der englischen Sprache bezeichnen. Und intellektuelle Freiheit kann für unsere Zwecke definiert werden als das Recht, mit eigenen Worten und auf eigene Art und Weise zu sagen oder zu schreiben, was wir denken.« (100) Sie führt dann den Verkauf des Verstandes mit jenem des Körpers parallel und erkennt, dass Frauen, die ihren Körper ohne Liebe verkaufen, sehr darauf achten, »dass die Angelegenheit damit erledigt ist« (103). Hingegen wäre es folgenreich, den Geist ohne Liebe zu verkaufen, denn alle folgenden Gedanken würden infi ziert und korrumpierten andere Gedanken.

Sie gewinnt zwei Kategorien, die altertümlich klingen, aber brisant blieben: uneigennützige Beschäftigung, die wir auf deutsch »Bildung« nennen und die erst einmal kennen gelernt werden muss, bevor sie aufgegeben werden kann, und »Keuschheit«, die sie vom körperlichen in die intellektuelle Region verschiebt, als Keuschheit in geistiger Korruption. Unter dem Namen Keuschheit setzt sie also auf erworbene Haltungen, die nicht alles Verhalten auf Verkaufbarkeit zurichten. Und wie derzeit dafür geworben wird, dass Frauen, die eine »erfolgreiche Karriere« anstreben, lernen sollten und könnten, das Gekonnte »besser zu verkaufen«, könnte herausgelesen werden, dass wir 80 Jahre nach dem Woolf-Text solcher »Unterstützung« weiter bedürfen. In sozialwissenschaftliches Vokabular übersetzt, plädiert Woolf für eine nicht-instrumentelle Haltung, die Frauen leichter fällt als dem anderen Geschlecht, da uns über einen so langen Zeitraum die Fähigkeit zur nicht-instrumentell organisierten (privaten) Existenz oktroyiert wurde. Das Material ist da, allein die Formung und die Stoßrichtung bedarf einer Änderung. »Die Töchter sind, auch wenn es nicht ihr persönliches Verdienst ist, immun gegen bestimmte Zwänge. Kultur wie wir gesagt haben, Lächerlichkeit und Keuschheit, Armut und Verlust an Publizität. Dies sind, wie wir gesehen haben, die ihnen vertrauten Lehrmeisterinnen.« (104)

Es geht ihr nicht darum, eine »Gleichstellung« in Berufen, Einkommen, Eigentum zu erstreiten. Mit jedem Satz arbeitet sie an der Infragestellung dieser gesellschaftlichen Formen, in denen diese Elemente zentral geworden sind. Sie greift zu dem – überaus brisanten – Beispiel des Priesterberufes, der Frauen vorenthalten wird, und setzt ihn mit allen anderen bedeutsamen struktur-gleich: »Das geistliche Amt […] ähnelt zwar, oberflächlich betrachtet, den anderen Berufen in vieler Hinsicht – es erfreut sich […] eines großen Einkommens, besitzt viel Eigentum und verfügt über eine Hierarchie von Beamten, die Gehälter beziehen, bei denen einer über den anderen präsidiert – aber trotzdem rangiert es an erster Stelle vor allen anderen Ämtern.« (134) Sie vergleicht dann Priester mit Rechtsanwälten und Ärzten und führt diesen Beruf auf seinen Ursprung zurück, wie er im Neuen Testament fixiert wurde: die Fähigkeit zu predigen, die auch Frauen in der Bibel zugesprochen wurde. In einem atemberaubenden Ritt durch die Kirchengeschichte muss die plötzliche Unfähigkeit von Frauen zu predigen mit der Verkirchlichung, den Eigentums- und Machtzuwächsen in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht werden. »Anscheinend waren die Propheten und Prophetinnen, die ihre Botschaft aus freiem Willen und ohne Unterweisung verkündet hatten, in den drei oder vier Jahrhunderten ausgestorben; ihr Platz wurde von den drei geistlichen Ständen, Bischof, Priester und Diakon eingenommen […], bezahlte Männer.« (136) Statt darauf zu beharren, den Priesterberuf für Frauen zu öffnen, entwickelt Woolf die Strategie des »Sich-Fernhaltens«, um eine »Gesellschaft der Außenseiterinnen« zu gründen (117). Die Debatten, die Frauen die gleichzeitig verweigerten und angetragenen Positionen wie »gehobenes Management« zerstritten antragen, sollten in ähnlicher Weise die vorgeschlagenen Berufe auf ihre Kernkompetenzen und Arbeitsweisen, ihre Art des Gepanzertseins, mehr als nur mit »gläserner Decke«, hin untersuchen. Die Kernkompetenzen in diesen Managementpositionen sind tatsächlich gefährlich und lassen sich mit der Bezeichnung von »selbstbewusster Performance des selbstillusionierten Subjekts« gut begreifen. Realer Weise zeigen sie eine verschärfte Arbeitsteilung zwischen Können und Darstellen, die die Elitenberufe auszuzeichnen scheint und für alle anderen ähnlich eingefordert wird, hier jedoch unter der Bezeichnung von performter Kompetenz.

Wer Material sucht, das vom konkreten Tun handelt, von Biographien, in denen die Modulierung von Fremdbeauftragung in Selbstbeauftragung zu verstehen ist, kann dies bei Gabriele Goettle (2012) in 26 langen Interviews mit Frauen finden, die von ihr in Biographisierungen des Alltagsstoffs übersetzt wurden und den Fokus auf das »tätige gesellschaftliche Sein« legen. Die privaten Dimensionen spielen darin nur jene Zentralrollen, als sie Mit-Verursacherinnen für Wandel und notwendige Reflexion wurden. Die Tätigkeiten sind häufig eine Berufung, die in ihre Interessiertheit eingebettet wird, in den selbstbestimmten Sinn. Die Interviews zeigen keine »beruflichen Laufbahnen«, also »Karrieren«, obwohl es sich durchaus bei der Hausmeisterin oder der Wissenschaftlerin, der Bestatterin oder der Bodybuilderin um Berufsverläufe handelt; vielmehr wird die sinnstiftende Funktion der Arbeit, der darin verarbeitete gesellschaftliche Ausschnitt, das widerständige Wollen, die Kritik an Zu- und Umständen, kurz und knapp: der Grund und seine Ausformung für diese Tätigkeiten entfaltet. Und in allen Interviews wird die Sache, um die es geht, dargestellt und auf wundersame Weise die Darstellende anstrengungslos kenntlich.

In diesen erzählten Suchen nach dem richtigen Leben wird ein Selbstbewusstsein erkennbar, das weit über sich hinausweist und – um es pathetisch zu sagen – die Lust dieser Suche zu transportieren weiß. Der Vorschlag, der aus diesen Texten notwendig mitzunehmen ist, lautet: Sammelt die vielen klugen konkreten Negationen zu den gesellschaftlichen Bedingungen ein. Sie sind kompetent formuliert, zusammen ergäben sie ein Netz von Widerspruch und Veränderungswillen. Und mir scheint, dass die erneute Verschiebung von »Utopie« zur »Kritik« mit solchen Texten ausgezeichnet zu begründen wäre.

Insofern sollten sich Sozial- und Kulturwissenschaften doch wieder deutlich den konkreten Erfahrungen zuwenden, das ihnen innewohnende implizite Wissen explizit machen und das Kritische und das Reflexive artikulieren (gliedern) und vielen zur Verfügung stellen; dies ist bescheiden und kommt ohne die Phantasie des Übermorgens oder des ausgedehnten Konjunktivs aus und lässt sich täglich und in jeder Situation praktizieren. Feminismus als Handwerk (Methode)! Gender war eine starke Moderne-Kategorie, die das Selbstverständlich-Gemachte ent-selbstverständlichte und lehrte, dass sie eine Geschichte hat, die sich brach (und bricht) an den verrechtlichten Rechten und ihrer Vergeschlechtlichung (vgl. Baer 2013), die sich nicht mehr von selbst verstand, sondern erst begreifbar werden musste, zu der sich also theoretisch und – wie oft kommt das bei Kategorien vor – existenziell-praktisch verhalten werden konnte in ändernder Absicht.

Kritik als Haltung und Gender als Gegenstand – wenn etwas fehlt, dann ist es dieser Zusammenhang, der sich auch utopielos, aber nie ohne überschießende Intelligenz herstellen lässt, zu dem neu zurückgekehrt werden muss in Anbetracht eines Zuviel an fremdbeauftragter Geschlechtswerdung.

 

Literatur

Adorno, Theodor W., »Ohne Titel«, in: Schmölkers, Claudia, u. Daniel Keel (Hg.), Balzac. Leben und Werk, Zürich 2007, 395-415
Baer, Susanne, »Hat das Grundgesetz ein Geschlecht? Gender und Verfassungsrecht«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 58. Jg., 2013, H. 1, 107-118
Butler, Judith, »Kann man ein gutes Leben im schlechten führen?«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 57. Jg., 2012, H. 10, 97-108
Goettle, Gabriele, Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag. Reportagen, München 2012
Hausen, Karin, Die Polarisierung der »Geschlechtercharaktere«: eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, Stuttgart 1976
Honegger, Claudia, u. Bettina Heintz (Hg.), Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen, Frankfurt/M 1981
Nordmann, Anja, Alltäglicher Feminismus. Geschlecht als soziale Erfahrung und reflexive Kategorie, Sulzbach 2011
Prokop, Ulrike, Weiblicher Lebenszusammenhang. Von der Beschränktheit der Strategien und der Unangemessenheit der Wünsche, Frankfurt/M 1976
Sander, Helke, »Rede des Aktionsrates zur Befreiung der Frau«, in: Frauenjahrbuch 1, Frankfurt/M 1975, 10-15
Smith, Dorothy, Der aktive Text. Eine Soziologie für Frauen, Hamburg 1998 [1987]
Woolf, Virginia, Drei Guineen, 3. Auflage, München 1983

 

1 Ausgearbeitete Fassung eines Vortrages, gehalten auf der Tagung »Es geht um mehr! Gender und Utopien«, 1.-2. März 2013, Evangelische Akademie Tutzing.
2 http://www.leuphana.de/fileadmin/user_upload/ZentraleEinrichtungen/frauenb/pdf/Genderkategorien_in_Studiengaengen.pdf, 15.1.2013.
3 So am Otto-Suhr-Institut, Freie Universität Berlin.
4 http://fss.plone.uni-giessen.de/fss/org/beauftragte/frb/dateien/hedwig45/file/Hedwig45_72dpi.pdf, 15.1.2013.
5 www.leuphana.de/gender-diversity-portal/studium-lehre/gender-diversity-zertifikat/lehrangebot-im-rahmen-des-gender-diversity-zertifikats.html, 15.1.2013.
 

DAS ARGUMENT 304/2013 ©, S. 733-747