Versuch, in den Fußstapfen von Rosa Luxemburg für eine Demokratie von unten zu streiten

in (01.05.2014)

Nach dem Geschichtsbruch von 1989 schreibt Volker Braun unter dem Titel Das Eigentum den berühmten Vers »Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. / KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.«1 Georg Büchners ans Landvolk gerichtete Losung »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« (1834) ist als Revolutionsaufruf verständlich. Er wird von Braun durch einfache Verkehrung als Antwort der Herrschenden entzifferbar, und, so ausgesprochen, wiederum als Aufruf zur unbedingten Gegenwehr gegen die vollständige Preisgabe der Geschichte nach der russischen Revolution lesbar. Doch zunächst klingen die Worte Hütten und Paläste als Metaphern für den Untergang der DDR unzeitgemäß, da wir in ganz anderen Zeiten mit anderen Problemen stecken. Aber die Ungleichzeitigkeit von Sprache und heutigem Leben rückt eine andere Sichtweise ins Mögliche und gibt uns, die wir als Streitende für den Sozialismus auftreten, eine längere Geschichte und festeren Boden unter den Füßen im selben Moment, da der bisherige uns entgleitet. Was tun wir anderes, wenn wir die Aktualität Rosa Luxemburgs heute prüfen, als Sprache und Wollen aus einem anderen Zeitalter auf uns Heutige zu übertragen? Das Unzeitgemäße unseres Vorhabens stößt an die Politiken und Praxen aus den zu unseren bewussten Lebzeiten gewohnten Formen des staatssozialistischen Projekts auf der einen, des Kalten Kriegs auf der anderen Seite. Im Westen galt ohnehin nicht die Sprache der Rosa Luxemburg. Niemand redete von »revolutionärer Realpolitik«, ihrem Schlüsselbegriff. Solches dennoch zu versuchen, galt als abgetragen, alt, überholt, ewig gestrig. Heutig dagegen waren die Kompromisse, die dem Kapital unter den Bedingungen des Fordismus abgerungen werden konnten: der Wohlfahrtsstaat, in dem sich Gewerkschafter und Kapitalisten an einen Tisch setzten und verhandelten, wie viel der erwirtschafteten Reichtümer diese an jene, die ihn schufen, abzugeben bereit waren. Ihnen oblag zugleich die politische Aufgabe, im Bündnis von Kapital und Staat zu zeigen, dass dies das attraktivere Modell war auch für die Arbeitenden: reicher, leuchtender, freier vor allem. Vor dem Hintergrund einer real existierenden Alternative wurde viel Anstrengung darauf verwandt, diese als wenig anziehend bloßzustellen. In dieser Konstellation gediehen Lebensstandard und Zufriedenheit der Arbeitenden bis hin zu Mitbestimmung, Co-Management und Vorstellungen von guter Arbeit. Nicht bloße Verausgabung von Kraft sollte sie sein, sondern entwickelnd, nicht eintönig, sondern vielfältig, humanisiert eben. Kurz: ein Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Was sollte da für die Gewerkschaften Luxemburgs revolutionäre Realpolitik, wo sie längst dem Traum der Teilhabe am Luxus näher kamen? Von den kommunistischen Parteien sprach ohnehin keiner. Ihre Wahlergebnisse beliefen sich zumindest in Westdeutschland auf kleine Ziffern hinter dem Komma nach der Null. Jäh fielen die politischen Vertreter der Arbeitenden in die neue Wirklichkeit nach 1989, als es nicht mehr darum gehen musste, einer Alternative die bessere Alternative entgegenzuhalten.

Hier soll nicht die Geschichte des im Oktober 1917 begonnenen sozialistischen Experiments, seiner Gräueltaten, Unmöglichkeiten, Möglichkeiten nachgezeichnet werden – das Projekt ist unvollendet, aber es diente Zeit seine Lebens (fast 70 Jahre) als eine Art Alternative, als Gegengewicht gegen die äußerste losgelassene Barbarei des Kapitalismus mit ihren Kriegen und der wachsenden Armut, mit der sie ganze Erdteile überzog, während sie unendlichen Reichtum einiger in anderen ansammelte. In der Zeit des existierenden sozialistischen Projekts verfolgte kapitalistische Politik um die Arbeit im Westen eine Linie des Kompromisses – ständig herausgefordert, sich als die bessere Gesellschaftsformation gegenüber dem Volk zu beweisen, um Hegemonie zu behalten: nicht bloß mehr Wohlstand, Genuss, Gesundheit, Freizeit, Aufstiegsmöglichkeiten, sondern auch mehr Rechte. ›Unrechtsstaat‹ wurde zum geflügelten Namen für staatssozialistische Länder, ein Name, der schon geläufig wurde, bevor die Fragen von Recht und Unrecht erkannt waren. Dies also war die Zeit der Kompromisse und der Verbesserung der Arbeitsbedingungen auch als Hochzeit der Gewerkschaften. Auf Seiten der industriellen Produktivkräfte war es Massenproduktion, Fließbandarbeit, begleitet von üppigen Profi ten. Für die Lebensweise gab es Beteiligung der Arbeitenden am Wohlstand, soweit möglich eine ›bürgerliche Hausfrau‹, die für Moral, Gesundheit und die Art des Konsums in der Familie sorgte. Es war dies eine Zeit der Verbesserung der Lage auch der Arbeiterinnen – bei gleichzeitiger Subsumtion unter eine Geschlechterarbeitsteilung, die bis heute die Ausschließung der meisten Frauen aus allen wichtigen gesellschaftlichen Orten bestimmt, wie dies zuvor schon die Lage der Frauen der bürgerlichen Klasse kennzeichnete. In dieser kurzen Zeit der »Goldenen Jahre« des Fordismus – also bis in die späten 1970er Jahre, reüssierte eine Gewerkschaftspolitik, die sich im wohlfahrtsstaatlichen Kompromiss bewegen konnte.

Die Krise des Fordismus brachte diese Verhältnisse ins Wanken, und vollends nach 1989 holten die Herrschenden fast über Nacht die alten Waffen wieder hervor: ›Krieg den Hütten‹ seitens der nun ganz zügellosen Marktkräfte begleitete den Übergang zum Hightech-Kapitalismus.

Wir sind Zeitgenossen dieser Geschichte, so muss ich die einzelnen Stationen nicht wiederholen, die bis zur Jetztzeit für die Arbeitenden in nur knapp drei Jahrzehnten zurückholten, was vor 1917 und vor allem in den Anfangszeiten der Industrialisierung galt und jetzt wieder gelten soll: Armut für immer mehr, vor allem im Alter, wachsende Arbeitslosigkeit besonders für die Jungen und die Älteren, schlechte allgemeine Gesundheitsversorgung, unbezahlbare Wohnungen, teurer Strom – kein Wohlfahrtsstaat, sondern Schikane, wer überhaupt Almosen bekommen darf, Arbeitszwang, Arbeitszeiten von fünfzig und mehr Wochenstunden bis ins immer höhere Alter, schlechte Schulen, Rückkehr zum Mehrklassensystem auch hier, an kulturelles Leben für alle kaum zu denken. Kurz, das Rad der Geschichte ist in bestimmter Hinsicht plötzlich zurückgedreht in Marx’ und Luxemburgs Zeiten.

Deutschland gedeiht da noch ein wenig auf Kosten der anderen Länder im Westen. Vorläufig ist besonders am Beispiel seiner südlichen und östlichen Nachbarn zu studieren, welches Antlitz dieser Kapitalismus ohne Alternative hat. Verdutzt stehen die Gewerkschaften mit ihren gewohnten, ehedem erfolgreichen Politiken aus der Zeit des Kalten Krieges: Altersteilzeit, frühere Verrentung, Verringerung der Arbeitszeiten bis zur 35-Stundenwoche, Mindestlöhne, Gesundheitsschutz, Krankengeld, Arbeitslosenunterstützung, Mietsubventionen, Urlaubsbonus, Weihnachtsgeld, Gesetze gegen zu viel Lärm, Schutzbestimmungen gegen willkürliche Kündigungen – soziale Marktwirtschaft und Mitbestimmung, ein Ringen mit der Gegenmacht, Erfolge für die Seite der Arbeitenden bis hin zur Humanisierung der Arbeit, ein ermäßigter Raubbau am Menschen – dabei ungehemmt an der Natur und an der ›Dritten Welt‹ – und auf Seite der Gewerkschaften Nichteinmischung in Politik.

Die Zäsur von 1989 macht Schluss mit der Gegenmacht; fast kein Kompromiss ist mehr nötig, kein Bild, das sich als humaner ausweisen müsste, wird mehr gebraucht – alle Forderungen in diese Richtungen werden lachhaft. Ungezügeltes Profitmachen muss sich nicht mehr um einen anderen Anschein bemühen. Unter dem Schutz der Produktivkraftentwicklung häufen sich Massenentlassungen, werden inszeniert als ultimative Drohung. Verrohung des Alltagslebens ist die Kehrseite der Akkumulation um ihrer selbst willen, die keine Bemäntelung mehr braucht bzw. im Versprechen auf immer mehr Konsum Wellness verheißt. Weitgehend gelähmt, verharrt die bisherige Politik der Gewerkschaften. Ohne Kompass bzw. mit den Waffen aus der Zeit des Kalten Krieges finden sie sich unvermittelt konfrontiert mit einem Krieg gegen Mensch und Natur ganz unverblümter Art. Jetzt heißt es »rennen, rackern, rasen« wie Peter Hartz so eingängig vorgestellt hat (vgl. dazu meinen Beitrag in: Das Argument 252/2003), und die nachwachsende Jugend kann froh sein, überhaupt irgendeinen Arbeitsplatz zu bekommen.

Dabei macht die Entwicklung der Produktivkräfte weniger notwendige Arbeitszeit zum Erfordernis. An der gewerkschaftlichen Politik ist es, einen anderen Weg einzuschlagen – etwa eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit. Ängstlich stehen die Beteiligten vor der Geißel des Profits, die da heißt: lieber große Massen entlassen, als weniger Kapital akkumulieren – bis zur großen Krise, die zugleich eine der Reproduktion von Mensch und Natur ist, eine der Überakkumulation von Kapital, eine der Politik. Und nichts geht mehr. Notwendige gewerkschaftliche Forderungen nach Renten, Gesundheit, Qualität der Arbeit und nach Zeit vor allem treffen auf keinen persönlichen Gegner für einen Kompromiss, sondern auf eine sich globalisierende Unternehmerschaft mit dem einzigen Ziel der schnellen unerhörten Profite.

In dieser Lage prüfen wir wieder Rosa Luxemburgs Politik, ihre Begriffe, ihre Vorschläge, die in einen jungen wilden Kapitalismus passten, in unserer neuen Wildnis. Für unsere heutige Politik lernen wir nicht so sehr aus der Geschichte der Kompromisse, sondern mehr aus den barbarischen Zeiten zu Beginn des Kapitalismus, aus der ursprünglichen Akkumulation und den Analysen zur Manufaktur und der Entwicklung der Großen Industrie, wie sie Marx im Kapital analysiert.

Wie arbeitet Luxemburg im Ringen um Hegemonie, also in der Gewinnung der Arbeiterklasse für eigene Ziele? Ihr strategischer Begriff ist »revolutionäre Realpolitik«. Damit meint sie, in der Nachfolge von Marx: »Dank diesem Leitfaden [der Kritik der politischen Ökonomie, FH] ist es der Arbeiterklasse zum ersten Mal gelungen, die große Idee des sozialistischen Endziels in die Scheidemünze der Tagespolitik umzuwechseln und die politische Kleinarbeit des Alltags zum ausführenden Werkzeug der großen Idee zu erheben. Es gab vor Marx eine von Arbeitern geführte bürgerliche Politik, und es gab revolutionären Sozialismus. Es gibt erst seit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und in vollstem Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist.« (1/2, 373) Es geht ihr also darum, die Spannung zwischen politischer Handlungsfähigkeit und utopisch erscheinenden Zielvorstellungen produktiv zu machen.

Das Neue, von Marx Gelernte, ist die Analyse des Kapitalismus, das Wissen um seine Tendenzgesetze. Luxemburg richtet alle ihre Begriffe und Vorschläge am Ziel der Selbstregierung der Arbeitenden aus: sozialistische Demokratie und ihr Verständnis von Streik, von Revolution. Es geht immer darum, die Unteren zu befähigen, die Gesellschaft zu gestalten. Da braucht es Schulung, Erziehung, Bildung, das auch, aber das Wesentliche: es zu lernen beim Machen. Insofern geht es um Experimente der Gesellschaftsgestaltung schon innerhalb des Kapitalismus. Dabei gilt Marx’ Diktum aus den Thesen über Feuerbach: Selbstveränderung und Verändern der Umstände fallen zusammen. Lehrreich zu lesen ist Luxemburgs Beispiel von der Verwandlung des vorsorgenden Gewerkschafters: »Mit der Psychologie eines Gewerkschaftlers, der sich auf keine Arbeitsruhe bei der Maifeier einlässt, bevor ihm eine genau bestimmte Unterstützung für den Fall seiner Maßregelung im Voraus zugesichert wird, lässt sich weder Revolution noch Massenstreik machen. Aber im Sturm der revolutionären Periode verwandelt sich eben der Proletarier aus einem Unterstützung heischenden vorsorglichen Familienvater in einen ›Revolutionsromantiker‹, für den sogar das höchste Gut, nämlich das Leben, geschweige das materielle Wohlsein, im Vergleich mit den Kampfidealen geringen Wert besitzt.« (2, 133).

Insofern wird man bei Luxemburg keine Rezepte finden, wie Gewerkschaftspolitik zu machen sei. Vielmehr zeigt sie in ihrer Schrift zum Massenstreik, dass das Auseinander von ökonomischen und politischen Kämpfen eine künstliche Trennung ist, dass die Kämpfe ineinander umschlagen. Es gibt einen Anlass – er kann ökonomisch sein, eine Forderung nach mehr Lohn, oder politisch, ein Protest gegen eine Entlassung – im Prozess kann sich der Anlass zum Sturm entwickeln. Sozialistische Politik bestünde jeweils darin, die Zusammenhänge im Großen zu zeigen, um begreifendes Erkennen zu unterstützen. Die Trennung in Tagesinteressen und solche an Zukunft ist eine taktische – beide stoßen an kapitalistische Schranken, die einen streiten für mehr Raum innerhalb dieser, die anderen, die politischen, sind auf Abschaffung der einschränkenden Verhältnisse gerichtet. Die Kämpfe sind paradox, weil sie für Verbesserung sorgen von etwas, das sie abschaffen wollen – wie im Parlament die Stellvertreter der Unteren und Nutznießer einer Politik von oben für eine Politik von unten streiten müssen.

Wesentliches Ergebnis aus den Kämpfen sei die Hebung des Lebensniveaus des Proletariats – »wirtschaftlich, sozial, intellektuell« als »Ergebnis dauernden sozialen Charakters« (GW 2, 114). Hierher gehört ganz unverzichtbar, dass in einem solchen Prozess der Befähigung niemals nur eine Form des Politischen, nur ein Bereich aus dem Leben unter kapitalistischen Verhältnissen zum Gegenstand gemacht werden kann, da jedes, für sich verfolgt, durch den inneren Zusammenhang der Gesamtverhältnisse reaktionär wird. Das Ineinanderverschlungensein der Kämpfe macht, dass in den vorhandenen Kräfteverhältnissen die Kämpfe ebenso verknüpft und zusammengefügt werden müssen und entsprechend also im Parlament, in den Gewerkschaften, auf der Straße, in der Presse zu führen sind.

 

Ein Politikvorschlag mit Luxemburg

Mein eigener Versuch einer zeitgemäßen Politik in der Linken (2008) folgt Rosa Luxemburg in diesen Punkten: Verknüpft und zusammengefügt werden die Tätigkeitsbereiche der Menschen im Erwerbsleben (1), im sozialen Leben (2), wozu die Fürsorge für andere Menschen, Kinder, Kranke, Alte gehört, also die Freundlichkeit in der Welt, und die Entwicklung seiner selbst als Voraussetzung für die Entwicklung aller (3), schließlich grundlegend die Aneignung des Politischen als ebenfalls allgemeine Praxis (4). Die vier Bereiche sollten gleichzeitig angerufen werden, nicht nacheinander – nicht Eliten auf der einen Seite, Hausfrauen und Fußballfans auf der anderen sind zu entwickeln, jede und jeder für sich und allesamt apolitisch. Nur im Zusammenhang ist es revolutionäre Realpolitik. Realpolitik in diesem Sinne kann sofort begonnen werden – sie setzt im unmittelbar drückenden an und ist zugleich gerichtet auf ein Fernziel, das die Überwindung des Kapitalismus beinhaltet, denn es sind Kämpfe um Zeit und ihre Verteilung zu führen, die keine eigne Sparte Zeit für Profit und Mehrarbeit kennen.

Dieses Projekt ist leicht zu vermitteln, viele Menschen sind dafür zu begeistern – die Fußstapfen von Rosa Luxemburg und Marx sind überdeutlich. Aber dieses Projekt müsste selbst eine Bewegung werden. Obwohl man Bewegung nicht machen kann, ist dies dennoch der Versuch, sozialistische Demokratie oder Politik von unten zu machen und Bewegung zu wecken – etwas in Bewegung zu bringen oder anders, solange Funken zu schlagen, bis einer überspringt. Es geht im Großen und Ganzen darum, dass die Vielen Gesellschaftsgestaltung übernehmen, zwar nicht ganz und auf einen Schlag, sondern dass überall in allen Organisationen und Bereichen Menschen sich bewegen, die ihre Geschicke in eigene Hände nehmen. Luxemburg nennt dies (nach Shakespeare und Marx) ein Maulwurfsprojekt.

Prüfen wir die Weise, wie Luxemburg selbst ihre Politik gestaltet. Ihre Reden und Agitationen knüpfen ans Gerechtigkeitsgefühl als starkes ethisches Empfinden an, wir können sie darum als eine ethisch fundierte Politik bezeichnen. Menschen werden dort angesprochen, wo Unrecht offensichtlich ist. Sie fordert auf zum Protest und seiner allgemeinen Verbreitung. Auch hierin folgt das Projekt der Vier-in-einem-Perspektive Luxemburg.

Gegen ein solches Projekt spricht heute im Wesentlichen, dass die gewohnten Politiken in Gewerkschaften und der durch sie bestimmten Linken mit Waffen aus der Zeit des Kalten Krieges kämpfen. Wenn der Parteivorsitzende der LINKEN sagt, das Projekt der Vier-in-einem-Perspektive weist »keinen Weg, weder Einstiege noch Ansätze der Durchsetzung« in gewerkschaftliche Politik (Riexinger, LuXemburg 4/2012, 90), so hat er recht, falls er unter letzterer eben die Politik aus den Zeiten des Kalten Krieges meint, in der der Kapitalismus sich noch als anziehende Alternative darstellen musste und entsprechend hegemoniale Opfer brachte: den Wohlfahrtsstaat.

Wir aber befinden uns seit 1989 in der großen Gesellschaft ohne Alternative. Es geht nurmehr um Profite – und ums Überleben. Mit diesem Komplex kehren wir zurück zu Volker Brauns Eingangsfrage nach dem Eigentum. Aufgabe linker Politik ist es, wie im Projekt der Vier-in-einem-Perspektive versucht, die Unteren für sich selbst zu gewinnen, dass sie ihre Interessen durchsetzen wollen, sie also für Politik zu begeistern in der Perspektive: eine Gesellschaft, in der die Entwicklung eines jeden Voraussetzung für die Entwicklung aller ist.

Obwohl man dies nicht sogleich hört, sind Kämpfe ums Eigentum auch Kämpfe um Zeit. Zeit brauchen wir fürs Politikmachen, also fürs Experiment, und Zeit brauchen wir zum Lernen. Aber Zeit ist ebenso wie Eigentum im Herzen der Kämpfe schillernd und antagonistisch besetzt mit Erfahrung. Es gibt allenthalben zu wenig und zu viel Zeit. Zeit ist Arbeit, und umkämpft ist, wie die lebendigen Menschen ihre Kraft und sich selbst verausgaben. Zeit ist mit Selbstbestimmung verknüpft und mit Ausbeutung: Wer bestimmt über die Arbeit anderer?

Eigentum tritt als Schranke auf, die ermöglicht, dass, was zum Nutzen aller geschieht, auf die Mühlen einiger kommt. Aber Eigentum meint auch: mein eigen soll es sein, nicht im Sinn des privaten Nutzens, sondern als etwas, das besonders geliebt und umsorgt ist. So soll die Erde unser eigen sein und ebenso das Stück Land, auf dem wir wohnen, dass wir dafür sorgen, dass es nicht verkomme sondern »verbessert hinterlassen« werde (MEW 25, 784). Eigentum steht also unter der Spannung seiner enormen Doppelbedeutung: dass wir uns ihm mit allen Fasern hingeben und es pflegen – und dass es auf der anderen Seite Grundlage ist für die Ausbeutung von Arbeitskraft und Erwirtschaftung privat angeeigneter Profite mit dem Effekt der Verarmung Vieler.

Vielleicht geht es nicht darum, die Projekte den Gewerkschaften anzupassen, sondern die Gewerkschaften neuen Projekten für das Leben. Bei Luxemburg klingt das so: »Aus dem Wirbel und Sturm, aus Feuer und Glut der Massenstreiks, der Straßenkämpfe steigen empor wie die Venus aus dem Meerschaum: frische, junge, kräftige und lebensfrohe Gewerkschaften.« (GW 2, 118)

Die »allgemeine Hebung des Lebensniveaus des Proletariats, des wirtschaftlichen, sozialen und intellektuellen« (2, 114), die Luxemburg als ein Ergebnis der Kämpfe hervorhebt, heißt für sie nicht, eine »dauernde Stufe des Wohlseins« zu erringen – immer geht es auf und ab, jedes Stück dem Kapital abgerungen, trifft auf alsbaldige »brutalste Racheakte des Kapitalismus, heute den Achtstundentag, morgen Massenaussperrungen und nackten Hunger für Hunderttausende« (117 ) – als hätte sie dies heute geschrieben, da wir schon 109 Jahre um den Achtstundentag ringen und fast 60 Jahre um die Fünf-Tage-Woche – und die Hungerlinie um den ganzen Globus geht. Die Hebung des Lebensniveaus bringt eine soziale Grundlage, auf der man weiterkämpfen kann. Dies lässt sich in Realpolitik übersetzen und mündet schließlich in die Entwicklung jedes einzelnen, dass sie Voraussetzung der Entwicklung aller ist: eben in ein Maulwurfsprojekt wie die Vier-in-einem-Perspektive.

 

1 Überarbeitete Fassung meines Vortrags auf der Internationalen Konferenz »Rosa Luxemburgs Vorstellungen von Demokratie und Revolution« in Paris vom 4. bis 5. Oktober 2013.

 

 

DAS ARGUMENT 305/2013 ©, S. 898-903