Geglaubt wird überall

Religionen auf Reisen

in (15.09.2014)

Keywords: Religion, migrant churches, New Religious Movements, religioscapes, world religions

Schlüsselwörter: Religion, migrantische Kirchen, Neue Religiöse Bewegungen, Religioscapes, Weltreligionen

1.  Wenn Religionen reisen...

Die Reisetätigkeit von Religionen zeigt sich deutlich dort, wo sich Götter und religiöse Kräfte an neuen Orten niederlassen und verehrt werden. Auch etablierte Religionen bedürfen des Reisens, der Vermittlung und des Austausches zwischen den zentralen Orten religiöser Praxis und vor allem der Rückkehr zu den tatsächlichen oder imaginierten Ursprüngen. Insofern ist mit „Religionen auf Reisen“ mehr gemeint als nur die „Religionen von Reisenden“. Die Beobachtung dieser Reisetätigkeiten macht darauf aufmerksam, dass sich Religionen, welchen Anspruch sie auch immer haben, ihrer Lokalisierung nicht entziehen können. Sie sind und bleiben verortet und nehmen in dieser Form an der Globalisierung teil.

Reisen von Religionen rund um den Globus werden prägnant sichtbar, wenn iwas, Vodoo-Götter von Haiti, mit ihren Initiierten nach Montreal auswandern um dort Schutz vor pwen, bösen Kräften, zu bieten, die den Migrant_innen aus der Heimat nachgeschickt werden, wenn Len Don, Geister/Götter aus Vietnam wie der Musik liebende Kleine Prinz, von ihren in die USA nach Ende des Vietnam-Kriegs ausgewanderten Medien in Silicon Valley empfangen werden können oder wenn altehrwürdige spirits aus Madagaskar über Toilettengerüche in Frankreich indigniert sind.[1] Die meisten spirits können heutzutage reisen, einige sind schon seit Jahrhunderten weltläufig. Viele bleiben auch in der Ferne, wie ihre Verehrer_innen, ihrer Herkunft, den heiligen Orten (Berge, Bäume, Schreine) in der „Heimat“ verbunden. Nur der Heilige Geist scheint überall zu wehen, aber auch für ihn muss „Platz gemacht“ werden.

Neben der kriegerischen Bekehrung oder der (Selbst‑)Unterwerfung der Könige und Fürsten und mit ihnen ihrer Untertanen unter Christentum, Islam oder Buddhismus gab es immer eine rege religiöse Reisetätigkeit, die den Buddhismus mit Händlern und wandernden Mönchen entlang der Seidenstraße nach China und nach Japan brachte oder den Islam durch Händler und die von ihnen gegründeten Schulen bis in das heutige Indonesien führte. Wie Clifford Geertz (1968) zeigte, wandelte sich der Charakter des Islam auf seinen Wegen nach Osten und Westen bis zur Gegensätzlichkeit. Der Hl. Thomas soll bis nach Südindien gereist sein und dort eine Kirche errichtet haben. Schließlich beweisen die Ansiedlungen von jüdischen, muslimischen und christlichen Händlern und Gemeinden an den Küsten auf beiden Seiten des indischen Ozeans, dass reisende Religionen durchaus zu einem friedlichen Nebeneinander führen konnten.[2]

Für viele christliche Religionen der Gegenwart bedeutet die Reise der Puritaner_innen mit der Mayflower im Jahre 1620 und anderer Dissident_innen, die ihnen in die „Neue Welt“ nachfolgten, einen Aufbruch, der immer noch die Herzen erhebt und den Missionsdrang beflügelt. Mit dem Vorsatz. jene City upon a Hill, von der John Winthrope 1630 redete, das endzeitliche Jerusalem, auf Erden zu errichten (Hochgeschwender 2007: 43), erschien der Auszug den Puritaner_innen zugleich als eine Rückkehr ins „gelobte Land“, das Gott seinem Volk versprochen hatte.[3] In diesen Visionen schwang bereits der Millenarismus mit, der die religiösen Erweckungsbewegungen in den USA bis heute antreibt. In umgekehrter Richtung dagegen gingen und gehen die endzeitlichen Hoffnungen auf Rückkehr aus der „Verstreuung“ derjenigen, die die Zwischendeckpassage überlebten und deren Nachkommen in den black churches ihre Eigenständigkeit und ihre Hoffnungen auf Rückkehr aus der „babylonischen Gefangenschaft“ bewahren. Auch für viele migrantische Gemeinden heute ist „babylonische Gefangenschaft“ ein zentraler Topos ihrer Situationsdeutung.

Wie die Pilgerfahrten der Moslems, der Hindus oder der Christ_innen zeigen, gehört Reisen zu den wichtigen Sozialformen von Religionen, da nur so die notwendigen Verbindungslinien zu jenen charismatischen Orten des Einbruchs der „Transzendenz“ in die diesseitige Welt aufrechterhalten werden können, aus denen viele Religionen ihre wirkenden Kräfte beziehen. Auch die katholische Kirche greift den Topos der Reise auf und beschreibt sich als „pilgernde Kirche“ oder als „pilgerndes Volk Gottes“[4].

Die Formen des Reisens von Religionen ändern sich mit den Reisenden: Waren es früher Missionare, Händler, Krieger und Kolonialbeamte, die das Geschäft der Ausbreitung von Religionen betrieben, sind es heute Arbeitsmigrant_innen und ihre Familien, Flüchtlinge und Asylsuchende, Geschäftsleute und Studierende, Unternehmens‑ und Regierungsangestellte. Daneben bestimmen weiterhin auch der Expansionsdrang und Missionswille der alten wie vieler neuer Kirchen, etwa der Pfingstkirchen oder neuer „Weltreligionen“ wie Santeria (vgl. Kummels 2010), die Bewegungen von Religionen in der Gegenwart. Seit dem Auftritt von Vivekananda beim Weltparlament der Religionen in Chicago 1893 gab es stets eine rege Reisetätigkeit indischer Gurus, die insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten eine Schlüsselrolle in der Globalisierung des Hinduismus übernommen haben (Fuller & Harris 2005: 212). Bei Peter Clarke (2006) findet sich eine umfangreiche Bestandsaufnahme der Ausbreitung von Religionen unterschiedlichster Provenienz und Prätention aus allen Regionen in alle Regionen, etwa chinesischer, koreanischer oder japanischer Bewegungen und Sekten (Falun Gong, Tzu Chi oder die Moonies) in die asiatischen Gemeinden Südamerikas oder der Karibik (ebd.: 227ff; Shimazono 1993).

Bei „Religionen auf Reisen“ handelt es sich um einen Plural, da „Religion“ im Allgemeinen nicht reisen kann. Immer ist das Lokale der Ausgangspunkt der Reise, die zu neuen Lokalitäten führt. Die religiösen Erscheinungen, die transportiert werden, sind in ihrem Ursprung lokal und partikular. Wenn Rudolf Otto von seinen Erfahrungen des „Heiligen“ spricht, dann waren diese stets lokaler Natur: in Ägypten im Angesicht der Sphinx, in Elephanta vor der dreiköpfigen Shiva-Statue oder1911 in einer Synagoge in Marokko, in der er dem Absingen des trisagion (Preisgesang der Engel) beiwohnte (vgl. Alles 2007). „Heiliges“, wie sein Abglanz, bedarf spezifischer Transportmittel, um sich fortbewegen und an neuen Orten niederlassen zu können. Religionen selbst können dabei schließlich als Formen erscheinen, unter denen Heiliges einen Reisepass erhält.

Die unübersehbare Präsenz einer Pluralität von Religionen in den industrialisierten Ballungsräumen, die europäische Beobachter_innen (Riesebrodt 2001; Pollack 2009) von einer „Rückkehr der Religionen“ sprechen lässt, ist eine unmittelbare Folge davon, dass sich Gruppen von Arbeitskräften, ihre Familien und ihre Nachkommen auf Dauer dort einrichteten, nachdem sie, wie etwa in Westdeutschland nach dem sog. Anwerbestopp, nicht hatten bewogen werden können, in ihre Herkunftsregionen zurückzukehren. Einige Staaten betrieben eine Anwerbepolitik in ausgewählten Regionen und Bevölkerungsgruppen, andere ließen vornehmlich Menschen aus Ländern ihrer ehemaligen Kolonialreiche als Arbeitskräfte, aber auch als Bürger_innen einreisen. Der wachsenden „Migrationsbevölkerung“, in der sich die Akkumulationsbewegungen der ökonomischen Sektoren in den Industriegesellschaften abzeichnen, fügen sich zunehmend Menschengruppen ein, die vor den „neuen Kriegen“, den Vertreibungen und ethnischen „Säuberungen“, vor ökologischen Katastrophen oder der schieren ökonomischen Ausweglosigkeit fliehen. Getrieben von rassistischer, sexistischer oder religiöser Repression treten sie den Weg in ein fernes Land an, das vielen von ihnen als „gelobtes Land“ erscheinen mag. Millionen derer, die jetzt ihre Gebete in Berlin, London oder Atlanta verrichten, verfügen nicht über die vorgeschriebenen Papiere und sind von Abschiebung bedroht. Dass viele dieser Männer, Frauen und Kinder ihre Religion gewissermaßen „im Gepäck“ haben, sollte niemanden verwundern.

Viele, die in den urbanen Räumen des Nordens neue Quartiere suchen, waren vielleicht bisher in ihrem Alltag wenig von Religion berührt, kommen mit neuen religiösen Gemeinschaften in Kontakt, werden von Predigern angesprochen, die bereits auf sie warten, und vielleicht von diesen erweckt. Einige werden in der Diaspora tiefgreifend mit Fragen nach ihrer religiösen Zugehörigkeit konfrontiert, andere wechseln zwischen den religiösen Gemeinschaften vor Ort hin und her, wenden sich auf dem „Markt der Religionen“ neuen Bekenntnissen zu oder beteiligen sich an der Gründung neuer Gebetsgruppen und Kirchen. Wieder andere wollen ihre religiöse Vergangenheit abstreifen und kehren der Religion im Alltag ganz den Rücken zu.

Die Situation vieler migrantischer Gruppen war und ist auch im religiö­sen Sinn als Diaspora[5] zu verstehen, als essentielle Rückgebundenheit an die Herkunft, an einen „Ursprung“, der nur mehr unter Opfern oder nur in der Imagination erreichbar ist. Reisende Religionen versprechen nicht nur Aufbruch, sondern auch Rückkehr zu „Ahnen“ oder „Wurzeln“. Afrikanische Religionen, die mit den Sklaventransporten in die Karibik oder nach Brasilien transportiert wurden, brechen heute im Zeichen der globalen Ströme nicht nur in die Länder des Nordens auf, sondern befördern auch eine religiöse Rückkehr zu ihren gedachten afrikanischen Ursprüngen.

Mit den Migrant_innen kehren tatsächlich auch jene Religionen zurück, die ihren Vorfahren von den christlichen Kirchen, den europäischen und nordamerikanischen Missionsgesellschaften während einiger hundert Jahren „angetragen“ worden waren, sich mit autochthonen Religionen verbanden, zu heftigen Gegenbewegungen führten[6], aber auch neue Lebenschancen eröffneten. Was Europäern als „Rückkehr der Religion“ in ihre Städte erscheint, ist Teil einer globalen Beweglichkeit von Religionen und Religiösem, sei es in Begleitung von Chines_innen oder Vietnames_innen in die USA, von Kongoles_innen nach Istanbul, von Haitianer_innen nach Kanada oder von aggressiver Mission durch japanische Neu-Religionen wie Soka Gakkai. Einzubeziehen in eine Betrachtung dieser Beweglichkeit sind daher auch die Dynamiken an den Ausgangsorten, die Multiplizierung von Religionen durch charismatische Führer und Propheten, Prozesse der Auf‑ und Abspaltungen, die Bildung von Orden und Missionsgesellschaften zur Gewinnung neuer Anhänger oder zur Stärkung der Religionstreue in der Fremde in Form einer „inneren Mission“. Prominente Beispiele für muslimische Missionstätigkeit in Europa sind die aus Indien stammende Organisation Tabligh Jamaat (vgl. Reetz 2010b) oder die pakistanische Missionsbewegung Da’wat-e Islami (Gugler 2010). Auffällig reisefreudig sind auch die großen, auf Wachstum orientierten Pfingstkirchen, die in Konkurrenz untereinander und zu anderen Religionen stehen und weltweit aktiv sind. Dabei unterscheiden sich die Fähigkeiten von Religionsgemeinschaften oder Kirchen, internationale Netzwerke von globaler Reichweite zu errichten, Akademien oder Universitäten zu gründen und sich mit Tagungen, Kongressen und Publikationen aller Art eine globale Öffentlichkeit zu schaffen. Einige besitzen seit langer Zeit Stützpunkte in Form von Tempeln oder religiösen Institutionen, die bereits von älteren Generationen von Migrant_innen, von Studierenden oder von Angehörigen der scientific communities, professioneller Berufe und des internationalen Business geschaffen wurden. Beispiele sind etwa die Wilmersdorfer Moschee[7] aus dem Jahre 1925 oder ein hinduistisches Gemeindezentrum im Norden Englands, das Ende der 1940er Jahre von indischen Einwander_innen aus dem südlichen Afrika gegründet wurde (Beaumont & Baker 2011b: 37).[8]

Viele Beobachter_innen sehen in Moscheen, afrikanischen Kirchen oder hinduistischen Tempeln, die sich auf den Territorien der christlichen Nationen Europas mit Gläubigen füllen, Anzeichen einer Auflösung der Grenzziehungen zwischen den Sphären von Politik, Ökonomie und eben Religion, die einmal das „Projekt der Moderne“ zu charakterisieren schienen. Die Verwischung der Differenzierungen zwischen funktional definierten Räumen in den urbanen Zentren, das religiöse Unternehmertum mit seiner Vermischung von Frömmigkeit und Kommerz, die Herausforderungen der Säkularität des Staates durch Kopftuch und Schleier erscheinen als konfliktreiche Konsequenzen einer „Rückkehr der Religion“. In der „postsäkularen Stadt“ scheinen die Grenzen zwischen religiösen und nicht-religiösen Ansprüchen zu fallen. Die staatlichen und kommunalen Administrationen nehmen die religiösen Gemeinschaften in ihren Bedürfnissen zur Kenntnis und bedienen sich ihrer für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Daseinsvorsorge. Nach den Worten von Justin Beaumont und Christopher Baker bildet die „postsäkulare Stadt“ einen umkämpften Raum, in dem „die Trennungslinien zwischen den Rollen von Religion und Wissenschaft, Glauben und Vernunft, Tradition und Innovation nicht länger rigide verstärkt werden (oder sich verstärken lassen) und neue Beziehungsmöglichkeiten entstehen“ (ebd.: 2).

Nach Max Weber führt der Weg in die Moderne zur Entzauberung der Welt, zur Zurückdrängung überweltlicher Kräfte aus den weltlichen Vorgängen und Geschäften. An der Verbannung der Wunder, der Entleerung des Alltags von göttlicher Präsenz waren neben den Aufklärern im 17. und 18. Jahrhundert auch die christlichen Kirchen und ihre Theologen wesentlich beteiligt (Kaufmann 1989: 252). Die Entleerung der Alltagswelt von Zauberkräften, Heiligen und Wundern schafft jedoch, so könnte die These lauten, den Raum für die Ankunft neuer spiritueller Praktiken und Disziplinen, die körperlich-geistige Gesundheit, Heilung von bösen Träumen und Besessenheit, die Erteilung von Visa nach Europa und Nordamerika, sowie Wohlstand und Reichtum mit sich bringen sollen.[9] Sie ermöglicht es den spirits aus Madagaskar oder Haiti in den Städten des Nordens anzukommen, wenn ihnen geeignete Räume hergerichtet sind.[10] Allerdings war die Entzauberung nie konsequent durchgeführt worden bzw. konnte sich gegen die Bedürfnisse der Laien nie restlos durchsetzen. Mit der Ankunft neuer Religionen in den säkularen oder nun postsäkularen Städten können die Zaubergärten wieder erblühen und sich den Bedürfnissen nach Spiritualität oder health öffnen, die von „neuen Geistlichen“ (Bourdieu 2009c: 245) bedient werden. Gleichzeitig werden die Städte auch Orte neuer Kämpfe um die Reinheit der religiösen Lehre oder die Nachfolge der Propheten.

2.  System oder Feld?
Zur gesellschaftlichen Form von Religionen

In den Städten des Globalen Südens, in Istanbul, Rio, Mumbai oder Beirut, scheint sich eine Autonomie des Religiösen, eine Religionsproduktivität „von unten“ Bahn zu brechen (Lanz 2014; Oosterbaan 2014: 449), die im Zuge der Migrationen auch auf den Norden übergreift. Ein Blick auf die Vielzahl von protestantischen Denominationen und die vielen tausend evangelikaler oder pentekostaler Gemeinden in den USA (Hochgeschwender 2007: 14), die zu Tausenden nach dem 2. Weltkrieg entstandenen „Neu‑“ und „Neu-Neu-Religionen“ in Japan (Astley 2005; Shimazono 1993) oder auch die mehreren hundert christlichen afrikanischen Kirchen allein in deutschen Städten (Adogame 2013: 62) zeigt, dass die Fähigkeit von Individuen oder Gruppen, Religionen hervorzubringen, kaum gebremst wird, wenn einmal der obrigkeitliche Zangengriff um das „religiöse Feld“ gelockert ist.[11] Aber auch in den west‑ wie osteuropäischen Regionen ist die Produktion von neuen Gemeinschaften und Kulten nicht versiegt. Vielfältige Bewegungen fördern den Verkehr mit hinduistisch/buddhistischen Zentren in Südasien oder zwischen synkretistischen Bewegungen in Japan und ihren „westlichen“ Partnergemeinschaften (Clarke 2006; Cowan & Bromley 2010); nicht zu sprechen von freischaffenden religiösen Virtuos_innen, spiritualistischen Religionsschöpfer_innen in der Nachfolge von Emanuel Swedenborg und Helena Petrovna Blavatsky, Prophet_innen und Wanderprediger_innen, ihren Fangemeinden und medialen Multiplikatoren.

Reisende Religionen durchqueren diesen Raum religiöser Produktivität und tragen zu seiner Ausweitung bei. Globalisierte Kirchen und religiöse Institutionen scheinen sich aber auch von den Wanderungen ihrer Gläubigen unabhängig zu machen, quasi auf eigene Rechnung zu reisen und ihre Kreise in den medialen Räumen zu ziehen. Welches Verhältnis besteht zwischen diesen Religionen, den kleinen und großen, den alten und den neuen? Gibt es Tendenzen einer Vereinheitlichung, etwa in Form der Suche nach einer neuen Spiritualität (Knoblauch 2013), oder weisen die Zeichen eher auf eine Verweltlichung der religiösen Horizonte? Diese Fragen können hier sicherlich nicht beantwortet werden. Es geht mir im Folgenden daher vor allem um gesellschaftliche Formbestimmungen jenes sich globalisierenden Raumes, in dem sich die Religionen ins Verhältnis setzen. Soweit sich die Religionssoziologie nicht in einer Phänomenologie der „religiösen Erfahrung“ verliert (vgl. Daniel & Hillebrandt in diesem Heft, S. <?>ff), stehen hier prominent, wenn auch umstritten, die analytischen Konstrukte des „religiösen Systems“ (Luhmann) und des „religiösen Feldes“ (Bourdieu) zur Verfügung. Das erste setzt vornehmlich auf Kommunikationsbeziehungen, das zweite dagegen auf Machtrelationen. Beide Konzepte konvergieren jedoch insofern, als sie durch jene „ungeheure Vielfalt von Religionen“, die Kardinal Lehmann (2009) mit Erschrecken registriert, herausgefordert und in Frage gestellt werden.

2.1 Gibt es ein „globales religiöses System“?

Für Peter Beyer hat Religion heute die Form eines globalen religiösen Systems (GRS) (Beyer 2006: 3). Dieses erhält seinen Systemcharakter durch die Selbstreferenzialität der in ihm prozessierenden Kommunikationen. Die in ihm versammelten Religionen existieren gewissermaßen durch (Selbst‑)Aussonderung aus anderen Systemen (Politik, Sport, Recht etc.), von denen aus sie beobachtet werden. Was in diesem System Platz hat, ist jedoch zwischen den Religionen als Teilen des Systems umstritten. Das System umschließt zudem nicht alles, was als „religiös“ betrachtet werden kann. Es ist selektiv und arbiträr. Es kann in der Logik der Systemtheorie zwar nur ein globales religiöses System geben, aber nicht zwingend nur eine einzige (globale) Religion. Ganz im Gegenteil ist die globale religiöse Landschaft mit einer Vielzahl von sich gegenseitig beobachtenden Religionen bevölkert (ebd.). Grundsituation des modernen GRS ist daher sein Pluralismus.

Jede Religion hat, auch wenn einige von ihnen dies bestreiten, eine eigene, explizite oder implizite Definition von Religion, eine Vorstellung von sich selbst im Unterschied zu anderen (Haußig 1999). Praktiken und Glaubenshaltungen bilden aber nicht von sich aus eine Religion. Sie müssen dazu unter dem Etikett „Religion“ gesellschaftlich beobachtet und kommuniziert werden. Religionen entstehen daher nicht durch religiöse Erfahrung oder religiöses Bewusstsein, sondern durch Kommunikation (Beyer 2006: 10).

Historisch wurde in Europa die Unterscheidung von „Religionen“ (im Plural) im 16. Jahrhundert gebräuchlich. In China, Japan oder Indonesien finden sich äquivalente Begriffe (zongjiao, shukyo, agama) in Auseinandersetzung mit den christlichen Bekenntnissen erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit steigen neben dem Christentum auch Buddhismus, Hinduismus und Islam religionswissenschaftlich wie politisch zu „Weltreligionen“ auf (Schäfer & Wienold 2012). Die christlichen Konfessionen Europas waren in die aufstrebenden Nationalstaaten eingebunden und gelangten nicht zuletzt in den kolonialen Imperien an die Spitze einer Hierarchie von „Weltreligionen“. Spätestens nach dem 1.Weltkrieg musste jedoch Ernst Troeltsch in einem vor englischem Publikum geplanten Vortrag die Anerkennung der Existenz ebenbürtiger Weltreligionen durch das Christentum einräumen:

„Mit den Weltreligionen wird immer nur ein geistiges Ringen, wird allenfalls eine gewisse Berührung möglich sein, während jenes Heidentum durch die Berührung mit dem Europäertum überall moralisch und geistig zersetzt wird und daher einen Ersatz durch höhere Religion und Kultur verlangt. […] Den großen Weltreligionen gegenüber aber wird man den Standpunkt einnehmen müssen, dass sie die ihren Kulturkreisen entsprechenden Gestaltungen des religiösen Bewusstseins sind und darauf angewiesen sind, aus eigenen inneren Trieben sich zu reinigen und zu vertiefen, wobei die Berührung mit dem Christentum uns wie ihnen in einer solchen inneren Entwicklung hilfreich sein mag.“ (Troeltsch 2006: 116)

„Religion“ existiert nun in Form einer variablen Menge von unterschiedenen Religionen. Die „Weltreligionen“ sind im einfachsten Fall die in Bezug auf Verbreitung und Institutionalisierung am meisten globalisierten Religionen.[12] Einige religiöse/kulturelle Komplexe allerdings scheitern in der Ausbildung von anerkannten Religionseigenschaften und gelten nur als „Kulte“ (Cowan & Bromley 2010). Die Entstehung der „Weltreligionen“ verweist auf die Singularität des historischen Prozesses der Entstehung der modernen Welt. Sie müssen als Ergebnis der Globalgeschichte verstanden werden (vgl. Bayly 2006).

In der Systemtheorie à la Niklas Luhmann ist für die Identifizierung eines (Teil‑)Systems auf der Ebene seiner Semantik die Herausbildung eines Codes entscheidend, mit dem das System Weltgegebenheiten bearbeitet und sich ausdifferenziert. Das GRS drückt im Code nicht seinen Unterschied zur Nicht-Religion aus, sondern stellt die rekursive, selbstreferentielle Qualität der religiösen Kommunikation sicher.[13] Luhmann (2002) hatte in seiner nachgelassenen Religionsschrift versuchsweise für das Religions-System „Immanenz vs. Transzendenz“ als Code vorgeschlagen, den Beyer jedoch für das GRS für zu eng hält. Für das Christentum sieht Beyer den Code „Erlösung vs. Verdammung“ (E/V) als leitend an. E/V ist jedoch weder eine neue noch eine universelle Unterscheidung und die Frage stellt sich, wie sich hieraus ein Code für ein globales Religions-System ergeben kann. E/V spielt nach Beyer auch im Islam eine gewisse Rolle, jedoch strukturieren hier auch legalistische Aspekte (erlaubt/verboten) die Semantik. Um diesen sekundären Code rankt sich vor allem seine moderne, weltweite Orthodoxisierung. Der mönchische/klösterliche Code des Buddhismus kreist um nirvana/samsara (Nirvana/Kreis der Wiedergeburten) und einen sekundären Code von dharmic/adharmic (verdienstvoll/belastet). Im Hinduismus findet sich mit moksha/samsara (Erlösung, Erleuchtung/Kreis der Wiedergeburten) eine der buddhistischen ähnliche Konstruktion, die durch sekundäre Codes, u.a. rein/unrein ergänzt wird.

Empirisch, induktiv könnte nach Beyer ein gemeinsamer Code der (großen) Religionen auf der Linie von blessed/cursed (gerettet/verdammt) liegen, auch wenn dies stark nach „abrahamitischer“ Religion klingt (ebd.: 85). Nach der Beschreibung der Semantik vieler neuer religiöser Bewegungen bei Peter Clarke böte sich dagegen als Code auch true self/untrue self an, jedoch weist dies direkt in Richtung der Auflösung des Systems, da viele der hierdurch sich selbst charakterisierenden Praktiken, etwa des New Age, sich als ausgesprochen a-religiös verstehen.

Die Code-Probleme werden durch sekundäre Codes gemildert. Alle gegenwärtigen Religionen stilisieren sich daher mit Hilfe von „gut/schlecht“ als Bewahrer von Moral, obwohl sie den moralischen Code nicht für sich alleine reklamieren können. Die Codes bedürfen daher der Ergänzung durch „Programme“, die richtige religiöse Praxis definieren. Aber auch die Orthopraxie ist umkämpft. Es bedarf daher der Autoritäten, um authentische Praktiken aufrechtzuerhalten.

Die Schwäche des Systemansatzes zeigt sich in den Schwierigkeiten, das System durch seinen Code zu schließen. Nach Beyer ist jede durch einen Code ausdifferenzierte Religion für sich bereits als „System“ zu begreifen, die ihren systemischen Charakter aber nur schwer an ein GRS weitergeben kann. Die einzelnen Religionen erhalten so den Charakter von „segmentären“ Subsystemen. Die unentwegte Proliferation neuer und neuester Religionen ist mit dem Systembegriff folglich nicht einzuholen.

Für Beyer stellt sich daher die Frage, ob eine unbegrenzte Multiplizierung von Religionen verhindert werden könnte. So setzen staatliche Kontrollen der Religionsfreiheit, wie etwa in China, Indonesien, Indien, Ägypten, Russland oder Frankreich, und staatliche Zulassungen von privilegierten religiösen Organisationen Grenzen. Das zentrale Problem der Existenz eines GRS verschiebt sich damit von den religiösen Kommunikationen zurück zur Ausgangsfrage nach der Anerkennung von Religionen durch die Religionen selbst und durch die anderen Funktionssysteme (speziell Staat/Politik) (Beyer 2006: 297). Ein gemeinsamer Horizont für religiöse Sinnproduktionen ergibt sich daraus nicht. Auf der Ebene einer möglichen „Weltgesellschaft“ (Stichweh 2000) zeichnen sich keine Tendenzen zur Vereinheitlichung des religiösen Pluralismus ab; im Gegenteil scheinen zentrifugale Kräfte die Oberhand zu besitzen. Im Raum der globalisierten religiösen Kommunikationen scheint es keine Ausschlüsse zu geben. Diese folgen anderen, politischen Kriterien, etwa denen der Sicherheit („gefährliche Kulte“) oder politischer Hegemonieansprüche („Abendland“; „Hindutva“). Religionen stoßen nicht an Grenzen, weil sie Religionen zu sein behaupten. Im Gegenteil, diese Form eröffnet den reisenden Praktiken, Objekten und Lehren unter dem Mantel der „Religionsfreiheit“ einen gewissen Schutzraum.

2.2 Religiöse Felder und ihre Grenzen

In der Analyse von sozialen Praktiken und gesellschaftlichen Verankerungen unterscheidet Pierre Bourdieu „Felder“ kultureller Produktion, die als diskrete „Universen der Vorstellung“ den jeweiligen Raum der Möglichkeiten konstituieren (Bourdieu 1993). Mit dem Begriff des „religiösen Feldes“ will Bourdieu den analytischen Blick auf die religiösen Akteure (Priester_innen, Prophet_innen, Magier_innen, Theolog_innen, Laien u.a.) lenken, die sich in den Kampf um spezifische Formen von Vorteil, Macht und Anerkennung verstricken (Bourdieu 2009b, vgl. auch Wienold & Schäfer 2012). In Bourdieus Sicht bilden die Akteure im Feld in einem zirkulären Prozess einen spezifischen Habitus aus, der sie zu Einsätzen in der „Ökonomie der Heilsgüter“ und zur Akkumulation von „religiösem Kapital“ disponiert.

Das religiöse Feld erweist sich als durch und durch heterogen, da in ihm divergierende Vorstellungen von Religion bzw. Religiosität um die Vorherrschaft kämpfen. Dabei steht der Begriff „Religion“ selbst im Zentrum der Auseinandersetzungen und wird zum Kampfbegriff, der zum Ausschluss von Gegnern (z.B. als Ketzer_innen oder Heid_innen) dient. Im Endeffekt wird im Feld selbst darüber entschieden, was als Religion gelten soll.

Das Feld bildet einen Raum, der aus den Kräfterelationen zwischen den von den religiösen Protagonist_innen und Spezialist_innen eingenommenen Positionen und den ihnen als Klient_innen, ggf. auch als Kontrahent_innen gegenüberstehenden Gruppen und Schichten von „Laien“ resultiert. In diesem dynamischen Rahmen werden Kämpfe um die legitime Verfügungsmacht über die von den Laien, aber auch den Protagonist_innen selbst begehrten Heilsgüter und ihre Monopolisierung (etwa in Form von Sakramenten oder rituellem Wissen) ausgetragen. Der Effekt der Legitimation von Herrschaft, auch in Form einer „Theodizee des Privilegs“, situiert das religiöse Feld letztlich im durch die gesellschaftlichen Klassen bestimmten Feld der Macht.

Die Grenzen des Feldes sind für Bourdieu gebunden an die religiösen Interessen der Akteure. Wie auch bei anderen Feldern sind Interessen nicht als primäre, dem Feld vorausgesetzte zu denken, sondern als geformt durch die Praktiken und Kämpfe im Feld. Die von Bourdieu mit Max Weber herausgestellten „urwüchsigen“ Interessen wie Gesundheit, Glück, langes Leben, Wohlstand sind daher nicht spezifisch religiös, werden jedoch durch religiöse Praktiken geformt und bedient. So mussten die anstaltsförmigen christlichen Kirchen Europas unterschiedliche bis gegensätzliche gesellschaftliche Interessen befriedigen und ein differenziertes Personal für die Seelsorge ausbilden (z.B. Hofprediger, katholische Landpfarrer und Arbeiterpriester).

Die Verteilung der religiösen Arbeiten auf die Spezialist_innen kann sich zu scharfer Konkurrenz von Prophet_innen und Priester_innen oder zum Gegensatz von Zauberer_innen und Priester_innen zuspitzen. So bekämpfen die christlichen Pfingstkirchen in Afrika vehement die traditionellen Religionen wie die unabhängigen afrikanischen Kirchen (AIC) (Meyer 2004). In der Church of Pentecost aus Ghana, die weltweit agiert, gibt es dagegen eine erfolgreiche Arbeitsteilung zwischen Priesterschaft und Prophetentum, mit der auch die religiösen Interessen der Landbevölkerung bedient werden (Daswani 2010). In manchen Zeiten und Gesellschaften war der Kampf der Priesterschaften gegen Wundertätige und Schaman_innen erfolgreich, in anderen Gesellschaften, wie dem heutigen Japan, bestehen Priesterreligionen und Magie nebeneinander oder verbinden sich (Davis 1992: 246f). Das jeweilige religiöse Feld ist daher eine historische Fundsache, abhängig von den historischen Konjunkturen und den Ausgängen der sozialen und religiösen Kämpfe.

Bourdieu definiert das Verhältnis der Laien zu den Spezialist_innen im religiösen Feld als eines der „Enteignung“, durch die „populäre“ Wissensformen und Praktiken entwertet werden. Auch wenn Bourdieu dies nicht betont, sind auch Laien – bei Weber z.B. die Laientheologen – zu religiöser Produktion – gewissermaßen für den Eigenbedarf – fähig. Wuchernde Häresien, die im ausgehenden Mittelalter die Brüche zwischen christlicher Theologie und den popularen Praktiken vertieften (de Certeau 2010: 34f), zeigen an, dass der steigende Druck auf die „populare“ Religiosität diese zu erhöhter Produktion anregen kann. Die Kirchen, soweit sie „Volkskirchen“ sein wollen, waren und sind daher gezwungen, in ihre Rituale auch „volkstümliche“ und magische Elemente aufzunehmen.[14] Die Geschichte der Religionen (nicht nur in Europa) ist daher nicht mit der Geschichte der religiösen Ideen und Lehren gleichzusetzen, sondern sollte als Kampf und Handgemenge zwischen den Anforderungen religiösen Virtuosentums und kirchlicher Bürokratien auf der einen und der alltäglichen Gottlosigkeit von Menschen auf der anderer Seite konzipiert werden, die ihr Heil zunächst in dieser Welt suchen.

Wo es bei Beyer einen Pluralismus im GRS gibt, gibt es bei Bourdieu eine Heterotopie religiöser Felder. Religiöse Felder sind historische Fundsachen, die nur empirisch ausgemessen werden können. Sie lösen sich dort auf, wo es keine spezifischen Zutrittsbedingungen für religiöses Personal mehr gibt, wo Mitgliedschaften nicht mehr exklusiv gehandhabt werden, insbesondere auch dann, wenn Politik und staatliche Verwaltung bestimmte Gemeinschaften und Organisationen nicht mehr als religiös zur Kenntnis nehmen und „religiöses Kapital“ gesellschaftlich nicht mehr konvertibel ist.

System‑ und Feldperspektive stimmen darin überein, dass die Frage der Zugehörigkeit zum System oder Feld eine Frage von Selbstbeschreibungen, von gesellschaftlicher Beobachtung und von Kämpfen ist. Für beide scheint die Zukunft der Religionen ungewiss. Beyers GRS hat mit den Paradoxien der Schließung seines Codes zu kämpfen. Die programmatischen Praktiken der Religionen verselbständigen sich, und ihr Angebot an Moral tendiert zur Nivellierung ihrer Grenzen. In der Bourdieu’schen Perspektive drängt eine Vielzahl von nicht mehr rein religiös qualifizierten Spezialist_innen, die die „Heilsgüter“ in säkulare Dienstleistungen konvertieren und die Heilsökonomie mit säkularem Unternehmertum liieren, auf das Feld. In beiden Perspektiven sehen sich etablierte Religionen mit einer heterogenen „Religionsproduktivität“ konfrontiert, die weder vom „System“ integriert noch vom „Feld“ kontrolliert werden kann.

Angesichts dieser Diagnosen wäre es vergebens, die divergierenden globalen Ströme von religiösen Praktiken und Doktrinen zu einer (neuen) „globalen Religiosität“ synthetisieren zu wollen. Stattdessen sollen im Folgenden die sozialen Formen betrachtet werden, in denen Religiöses rund um den Globus produziert und reproduziert wird, sich aus seinen Lokalitäten löst, auf Reisen begibt, um schließlich relokalisiert zu werden.

Ich stütze mich im Folgenden auf ausgewählte Darstellungen aus einer den religiösen Proliferationen nachlaufenden Flut von Veröffentlichungen, die spätestens mit jener Ausrufung der „Rückkehr der Religionen“ eingesetzt hat. Weiterführend scheinen mir vor allem solche Ansätze zu sein, die die religiösen Phänomene in den Praktiken und Verhältnissen des Alltagslebens zu „erden“ versuchen. Diese Ansätze gehen den Bedingungen des religiösen Lebens, der Neuankömmlinge wie der Eingesessenen, im Dickicht der Metropolen nach (u.a. Robert A. Orsi, die Gruppe metroZones, Justin Beaumont und Christopher Baker sowie Nezar AlSaayad und Mejgan Massoumi).

3.  Sozialformen von „Religionen auf Reisen“

Wird Religion in der (vergleichenden) Religionsforschung in erster Linie als etwas Geistiges oder Spirituelles verstanden, dem u.U. eine geistige, weltbewegende Macht attestiert werden kann, so sehe ich die Aufgabe der Soziologie vornehmlich darin, nach den sozialen Daseinsweisen des Religiösen zu fragen, nach den sozialen Formen, in denen es prozessiert und in denen es beobachtet werden kann. Ich folge dabei auch dem Rat von Max Weber, nicht mit der Suche nach einer Definition von Religion zu beginnen, die, wenn überhaupt, erst am Schluss der Untersuchung stehen kann. Ich werde mich auf einige der wichtigen Sozialformen von Religionen konzentrieren. Dabei übernehme ich Unterscheidungen, die Peter Beyer im Anschluss an Luhmann heranzieht: Interaktionen, soziale Bewegungen und Organisationen. Anstelle von Interaktionen (face to face, heute auch medial) werde ich von Vergemeinschaftungen sprechen, um an einen zentralen Begriff von Max Weber anzuschließen. Dabei geht es u.a. um die Formen der (Re‑)Lokalisierung von Gemeinschaften in der Diaspora und die Bildung von transnationalen religiösen Gemeinschaften. Die „religiösen Bewegungen“ betrachte ich vor allem unter dem Aspekt der Produktion und Reproduktion von „Charisma“ als ihren motivationalen Kern. Neben den religiösen Organisationen werde ich als weitere Kategorie die „religiösen Unternehmen“ einführen. Wichtig für die Reisen sind die medialen Sozialformen der „religiöse Traditionen“, die heute von vielen Religionen virtuos gehandhabt wird. Daran anschließend soll die Sozialform des „religiösen Events“ betrachtet werden, die auf der Performativität und Theatralität religiöser Praktiken beruht und in der sich religiöse Rituale mit anderen kulturellen Praktiken zu „Religionshybriden“ verbinden. Schließlich werde ich „Glauben“ als Sozialform kennzeichnen, unter der Religionen heute gesellschaftliche Anerkennung verlangen. Diese Sozialformen bilden keine erschöpfende Aufzählung und liegen auch nicht auf der gleichen Ebene der Abstraktion. Sie schließen einander nicht aus, sondern überlagern sich, entwickeln sich auseinander bzw. stehen in Spannungsverhältnissen zueinander. Religionen können so als Ensembles von Sozialformen betrachtet und untersucht werden. Es kann hier jedoch keine genauere Darstellung der Verhältnisse der verschiedenen Sozialformen zueinander und ihrer Bedeutungen in den etablierten Religionen (Christentum, Islam etc.) erfolgen, sondern lediglich eine Skizze geliefert werden.

3.1 Religiöse Vergemeinschaftungen und (Re‑)Lokalisierungen

Ich schließe mich der Grundannahme von Max Weber an, dass es sich bei religiösen Praktiken, soziologisch gesehen, zunächst um Gemeinschaftshandeln dreht (Weber 1972: 245). Religionen können sich daher nicht – zumindest nicht dauerhaft –, so die These, von der Sozialform der Vergemeinschaftung ablösen.[15] Auch Großorganisationen wie die katholische Kirche bedürfen ständig der Gemeinschaftsbildungen ihrer Gläubigen. Die Mega-Churches in den USA, Australien oder Singapur inszenieren Gemeinschaften von mehreren tausend Teilnehmenden; auch die Tele-Evangelisten predigen im Modus der Vergemeinschaftung ihrer Fan-Gemeinden.

Nach Danièle Hervieu-Léger individualisieren sich heute institutionalisierte Glaubensgehalte zunehmend zu „religiösen Erfahrungen“, ähnlich den Konversionserfahrungen, die in typischen Erzählformen reflektiert werden, welche Begriffe und Interpretationen für die zu machenden Erfahrungen bereitstellen (Krech 1994).[16] Auch die individualisierte Form der „religiösen“ oder „spirituellen Erfahrung“ verlangt nach Validierung in Gemeinschaften (Hervieu-Léger 2004: 32). Zu beobachten ist in diesem Zusammenhang ein Erstarken von Gemeinschaftsbildungen innerhalb religiöser Institutionen, die sich den neuen Anforderungen öffnen und Erfahrungsräume anbieten, diese aber auch zu kontrollieren versuchen. Im religiösen Feld entsteht nun eine Konkurrenz um die Vermittlung von Gemeinschaft.

Gemeinschaften und ihre Rituale sind unter bestimmten Bedingungen fähig, Ereignisse hervorzubringen, die „eine Steigerung und Intensivierung des gemeinschaftlichen Gefühlslebens bewirken“ (Gertenbach u.a. 2010: 69). Dies ist der Kern der Ausführungen von Émile Durkheim zu den „elementaren Formen des religiösen Lebens“. Die „kollektive Efferveszenz“ (Durkheim 1994: 295), die „gemeinschaftliche, ekstatische Aufwallung“ (Gertenbach u.a. 2010: 69) ermöglicht es Gemeinschaften, Orte oder Gegenstände ihres profanen Charakters zu entkleiden und sie zu heiligen Objekten und Orten zu erheben. Gemeinschaften sind danach in der Lage, jenes „Charisma“ hervorzubringen (oder ggf. auch zu simulieren), von dem die religiösen Traditionen zehren.

Mit dem Konstrukt der Gemeinschaft ist eng das Konstrukt des Lokalen verbunden: eines Platzes, an dem die Gemeinschaft – face to face – anwesend sein kann. Für Arjun Appadurai ist Lokalität eine „Gefühlsstruktur, eine Eigenschaft des sozialen Lebens und eine Ideologie der festgelegten Gemeinschaft“ (Appadurai 2001: 110). In migrantischen Gemeinschaften gehören religiöse Ressourcen zu den Mitteln der Bildung von Lokalität, der Eröffnung von Räumen und der Aufrechterhaltung von Beziehungen zu den Herkunftsorten. Religionen bilden eine Dimension der „transnationalen Räume“ (Pries), in denen sich transnationale religiöse Vergemeinschaftungen formieren können. Die Transnationalisierung vollzieht sich materiell durch den Transport von Personen, Ritualen, Texten, Andenken und Devotionalien und führt zur Bildung von „religioscapes“, die zum Teil aus den Materialien von Weltreligionen, zum Teil aus mitgeführten oder erfundenen Materialien „gebastelt“ werden. In den religioscapes können sich verschiedene Gemeinschaften konkurrierend gegenüberstehen.[17]

Religiöse Gemeinschaften in der Diaspora bilden sich häufig aus kleinsten Gruppierungen heraus. Afe Adogame (2010) schildert etwa den Weg der Christian Church Outreach Mission International (CCOMI), die als „überkonfessionelle“ Gebetsgruppe 1978 unter Leitung ihres späteren Bischof Abraham Bediako in Hamburg von einer Handvoll Afrikaner gegründet wurde. Die religiösen Orte der Immigranten sind zunächst eher unsichtbar. In Faith is the Place (metroZones 2012: 8) findet sich das Beispiel der Manhatten Masjid am Broadway, die die Räumlichkeiten eines Gymnastikveranstalters auf Stundenbasis nutzt. Mit dem Schluss des letzten Gebets startet bereits ein chinesischer Tischtennisclub seine Spiele. Ab einer gewissen Gemeindegröße werden auch ehemalige Kirchen, Kinos, Synagogen, Lagerhäuser oder Gaststätten, für deren Nutzung leichter Genehmigungen zu erhalten sind, zu religiösen Versammlungsräumen umgewidmet (Eade 2011: 156).

Mattilde Cassani schildert detailliert Gemeinden von religiösen Minderheiten in Barcelona in den Jahren 2007/2008. Zu dieser Zeit gab es dort etwa 800 religiöse Einrichtungen für ca. 20 unterschiedliche Traditionen (u.a. Muslime unterschiedlicher Herkunft, nicht-katholische, christliche Kirchen, buddhistische Schulen unterschiedlicher Richtungen), von denen etwa 220 als Plätze für „Gottesdienste“ von migrantischen Gemeinden genutzt wurden. Die meisten der religiös genutzten Räume lagen im Zentrum der Stadt, das im Zuge der Suburbanisierung entleert wurde. Hier fanden sich etwa verborgen in einer schmalen Straße hintereinander ein Sikh Tempel, eine Moschee als Kulturzentrum für Bangladeschi und die Mezquita Tariq Ibn Zyiad. Die Stätten der Verehrung und des Gebets gelten offiziell als Einrichtungen von kulturellen Vereinigungen. Diese müssen als „religiöse“ anerkannt werden und eine Reihe von Auflagen erfüllen. Nach Cassani werden u.a. Ladenlokale oder Lagerräume angemietet, deren Verwendungszweck von den Straßen kaum einsehbar ist. „Nach der Logik der Unsichtbarkeit werden die heiligen Räume, auch wenn sie für eine große Zahl von Personen zugänglich sind, innerhalb privater Räume errichtet und auf eine zukünftige Öffentlichkeit vorbereitet.“ (Cassani 2012: 59)

Für größere Festivitäten und Ereignisse werden öffentliche Zentren genutzt oder Sportstätten gemietet. Ein oder zweimal im Jahr wird die Präsenz in der Stadt durch Massenversammlungen oder Prozessionen mit tausenden Teilnehmenden bekundet. Auf diesem Weg bahnt ein religiöses Ritual der Migrantengemeinde den Weg in die öffentliche Sichtbarkeit. Diese Aktionen hinterlassen jedoch kaum bleibende Spuren. Die Eroberung der öffentlichen Räume verlangt spezielle Strategien des „place making“ und des Managements von Sichtbarkeit.

Für religiöse Gemeinden aus Afrika gestaltet sich in Atlanta die Lokalisierung dadurch kompliziert, dass sich Afrikaner_innen, etwa Kongoles_innen, in der Diaspora in den USA zwischen den sich sozial ausdifferenzierenden Afro-Amerikaner_innen und einer diskriminierenden weißen Mehrheit einrichten müssen (Garbin 2014). Während afrikanische Einwandere_innen, die als hoch qualifizierte Arbeitskräfte vor 30 Jahren in die USA gekommen sind, sich heute auch in „weißen Vororten“ niederlassen können, finden sich die jüngeren Ankömmlinge in den traditionellen Vierteln der schwarzen Arbeitsbevölkerung wieder. Das macht auch die Akzeptanz und Sichtbarkeit von afrikanischen Kirchen problematisch. So scheiterte etwa der Versuch von Angehörigen der Kirche von John Kimbangu, Begründer einer der größten afrikanischen Kirchen, das Bild ihres Propheten in der Hall of Honour im Morehouse College, dem Studienort von Martin Luther King, aufzustellen (ebd.).

Wie in London konzentrieren sich in Atlanta dutzende Kirchen und Gebetsstätten von Migrant_innen unterschiedlicher Herkunft und religiöser Ausrichtung in neuen „religiösen Distrikten“, in Industriegebieten, wo Garagen oder Lagerhäuser zu Kirchen oder Moscheen werden. In Atlanta benutzt die Maman Olangi Church einen leer stehenden Verkaufsraum in einem Einkaufszentrum in der Nachbarschaft einer Reihe von Pfingstgemeinden spanischsprachiger Immigrant_innen. Solche Gebiete oder Gebäudekomplexe besitzen in den Augen von Europäer_innen oder Nordamerikaner_innen keinerlei sakrale Aura, sie sind restlos entzaubert und scheinen daher umso leichter einer Wiederverzauberung offen zu stehen. So werden sie an den Wochenenden unter den mit Lautsprechern verstärkten Gesängen und Gebeten zum Marktplatz der Religionen.

Singen, das Rezitieren von Koranversen, das Sprechen „in Zungen“ sind Praktiken der Gemeinschaftsbildung, denen sich kaum jemand entziehen kann. Wenn der Ruf des Muezzin zum Gebet durch den städtischen Klangteppich dringt, wie es Kathrin Wildner (2012) für einen Stadtteil in Beirut beschreibt, dann verkündet er, dass dieser Raum nun auch zum „Haus des Islam“ gehört. In diesem Sinne gehören die akustischen Praktiken religiöser Gemeinden zu den Instrumenten des „place making“, mit denen diese ihre Präsenz artikulieren und ein „Recht auf Raum“ in der Stadt reklamieren. Das kann zu Konflikten führen wie etwa in Singapur, wo die Stadtverwaltung Muslimen die Benutzung von Lautsprechern für die Übermittlung von Gebeten in einer Anti-Lärm-Kampagne untersagt hatte (ebd.: 219).

Das klandestine Eindringen von religiösen Gemeinschaften in die säkularen Städte hat zur Folge, dass sie dort bereits verbreitet und verortet sind, bevor ihre Präsenz im öffentlichen Raum sichtbar wird. In dieser Weise fordert die migrantische Platzergreifung für religiöse Verrichtungen zunächst die dominanten religiösen Verhältnisse nicht heraus. Im Zuge des Wachstums einzelner Gemeinden und einer immer stärker hervortretenden kirchlichen Organisation treten jedoch fast unvermeidlich massive Konflikte mit der sozialen Umgebung auf, wie etwa bei den Versuchen des Kingsway International Christian Centre, eine Mega-Kirche für 8.000 Besucher_innen in Havering/London zu bauen (Eade 2011: 161f).

In basaler Form bieten religiöse Gemeinden in der Diaspora zunächst Orte der Zugehörigkeit. Wie Afe Adogame am Beispiel der heterogenen Zusammensetzung von Gottesdienstbesuchern zweier Gemeinden der Redeemed Christian Church of God (RCCG; dazu vgl. unten S. <ÜS>ff) in Deutschland zeigt, können – zumindest für eine gewisse Zeitspanne – konfessionelle, ethnische oder kulturelle Differenzen überspielt werden. Neben Pfingstler_innen besuchten eine große Zahl von (ehemaligen) Katholik_innen, Anglikaner_innen, Methodist_innen und Angehörigen afrikanischer Kirchen die Gottesdienste (Adogame 2013: 125ff). Moscheen in England sind Plätze, an denen Muslime aus Marokko, Bengalen, Malaysia, Frankreich oder Indonesien sich einer „globalen Gemeinde“ zugehörig empfinden können (Beaumont & Baker 2011b: 43). Aus den Gemeinden der Diaspora erwachsen die Strategien und Praktiken, sich in der säkularen Welt moderner Nationalstaaten zu bewegen. Nach Beaumont und Baker (ebd.: 34) geht das Stadium des „belonging“ in ein Stadium des „becoming“ über, in dem aus überkommenden, häufig konfligierenden Zuschreibungen neue Identitäten modelliert werden.

Im Verhältnis zum postsäkularen Staat ist religiöse Zugehörigkeit heute ein wichtiges Mittel, in marginalisierten Stadtteilen soziale Einrichtungen, Kultur‑ und Jugendgruppen ins Leben zu rufen. Moscheen in London organisieren u.a. Bildungsangebote, Krippen und Jugendzentren. Um Zugang zu diesen Dienstleistungen zu bekommen, müssen sich Interessierte als Muslim_innen identifizieren (Hussain 2011). Nach Delwar Hussain scheinen sich Muslime_innen in Großbritannien zunehmend über ihren Glauben statt über Ethnizität zu definieren. Das Aufeinandertreffen von Muslim_innen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten macht aus einer Großstadt wie London oder Berlin den Mikrokosmos einer weltweiten Umma und zwingt ihre Gemeinschaften, sich neu und umfassender zu bestimmen. Vor allem in Großbritannien geborene und aufgewachsene Bangladeschi der dritten Generation sind Vorhut und Hauptbefürworter_innen einer Islamisierung der Gemeinden (ebd.: 241).

Auch in Deutschland übernehmen nach Werner Schiffauer (2014) in muslimischen Migrantengemeinden Angehörige der zweiten und dritten Generation, die durch den Zusammenhalt der Familie in der ersten Generation die Bildungsleiter erklimmen konnten, zunehmend die Funktion „organischer Intellektueller“. Sie bewegen sich in der Gesellschaft mit Sicherheit und Leichtigkeit und bleiben doch ihren Gemeinschaften verbunden. Sie fühlen sich verpflichtet, zwischen den Gesellschaften und den Generationen, auch was religiöse Belange anbelangt, zu vermitteln und zu übersetzen. In diesem Sinne sind sie religiöser als die erste Generation, weil sie sich reflektiert mit ihrem religiösen „Erbe“ auseinandersetzen. Hierdurch werden die Grenzen zwischen den Sphären des Religiösen und Säkularen nicht aufgehoben, sondern neu ausgerichtet.

3.2 Religiöse Bewegungen

Religiöse Bewegungen haben eine prekäre Existenz in Zeit und Raum, wenn sie sich aus sich selbst reproduzieren müssen. Als Armuts‑, Reinheits‑ oder Erweckungsbewegungen entzünden sie sich an sozialen Missständen, Fremdherrschaft, Verweltlichung der religiösen Institutionen oder den Umbrüchen der Moderne, die häufig als Werke des Teufels gegeißelt werden. So brachte der Wanderprediger Antonio Conselheiro, der „Ratgeber“, ab 1893 Zehntausende im brasilianischen Sertão gegen Staat und Geldwirtschaft auf die Beine, bis sie 1896/97 von der brasilianischen Armee nach langwierigem Kampf bei Canudos massakriert wurden (da Cunha 1902/1994). Die Aufstandsbewegung in Chiapas, etwa unter den Tojolabalen im lakandonischen Tiefland, wurzelt auch in der Missionsbewegung der 1960er und 1970er Jahre, getragen von Tausenden von indigenen Katecheten unter Führung des Bischofs Samuel Ruiz García, der zu den Protagonisten der lateinamerikanischen Befreiungstheologie zählt (Saavedra 2007: 211ff).[18] Jenseits der Schranken des Alltags erwarten radikalisierte Bewegungen das baldige Weltende oder treiben in einen selbst gewählten Untergang.[19] Pfingstkirchen und andere neue Religionen haben Teil an der messianischen Dynamik bzw. bedienen sich ihrer. Prophetie und Messianismus sind gefüllt mit politischen, herrschaftskritischen und nationalen Belangen. So organisieren die Mitglieder der kongolesischen Gemeinde Atlanta’ s Combat Spiritual/Maman Olangi Church Konferenzen, Gebetsmärsche und Gebetsgruppen um befreiende Energien für ihr Heimatland zu mobilisieren und durch den spirituellen Kampf in der Diaspora an der Befreiung des Kongo aus der Knechtschaft von Zauberei und okkulten Kräften und damit zugleich aus den Fängen von Korruption und Verdammnis mitzuwirken (Garbin 2014: 270).

Die religiösen Bewegungen, die Menschen für Momente oder für ihr Leben aus ihrem Alttag reißen, sollen hier unter dem Aspekt der Produktion und Reproduktion jenes „Charismas“ betrachtet werden, das in ihren Narrativen den Ausgangspunkt der Bewegung und den Garanten ihres Siegeszuges in der Welt darstellt. Charismatisch sind die Energien, mit denen religiöse Bewegungen in Prophetien und Endzeiterwartungen über sich hinausweisen.[20] Für Weber hat das Charismatische als „Einbruch des Außeralltäglichen“ in die Alltagswirklichkeit an sich bereits religiösen Charakter, wobei der Träger des Charismas die Persönlichkeit des Propheten ist, der sich, wie Prophet_innen des Alten Testaments, auch gegen die religiösen Institutionen richten kann. Bourdieu verortet dagegen Charisma nicht in der Person der Prophetin/des Propheten, sondern in der Gruppe von Gefolgsleuten: „Die Grundlage für diese Macht [des Charisma] findet sich nicht in der Person des religiösen Akteurs [Prophet], (…) sondern in dem gesamten Netz von Produktions‑ und Austauschbeziehungen, (…), in dem die Gruppe die über sie ausgeübte Macht erzeugt und projiziert.“ (Bourdieu 2009b: 66; vgl. auch Daswani 2010: 74). Diejenigen, denen es gelingt, die Interessen der Gefolgschaft oder bestimmter sozialer Schichten in religiöse Bedürfnisse zu transformieren, qualifizieren sich als religiöse Virtuos_innen, als Prophet_innen, Ratgeber_innen, Gurus oder Heilige.

Nach Weber ist eines der Hauptprobleme religiöser Bewegungen die Übertragung des Charismas. Dieses Problem wird in der Regel durch eine Routinisierung des Charismas gelöst, z.B. durch das Amtscharisma des Papstes und der ordinierten Priester_Innen, die die Heilsgüter verwalten. Besonders für Offenbarungsreligionen ist die Tradition des Charismas in lückenloser Folge von überragender Bedeutung. Daher steht der Streit um die Nachfolge und die autorisierte Einsetzung von Geistlichen oder Mönchen im Zentrum wiederholter Schismen, die alle sich auf charismatische Gründer_innen berufenden Religionen im Laufe ihrer Geschichte treffen.

Ein Beispiel ist der Streit um die Nachfolge des kongolesischen Propheten Simon Kimbangu (1887‑1951) der, aufgewachsen unter Baptisten, nach Offenbarungen und Visionen von Gott und Jesus, in Nkamba im damaligen Belgisch-Kongo eine Kirche startete, die Tausende von Pilger_innen anzog. Sie wurde durch die belgische Armee in den Untergrund gezwungen, was das Charisma des Propheten nur steigern konnte. Kimbangu starb 1951 im Gefängnis in Lubumbashi. Seine Überreste werden in Nkamba in einem Mausoleum aufbewahrt. 1969 wurde die Église de Jesus Christ sur Terre par Son Envoyé Spécial Simon Kimbangu Mitglied im World Council of Churches. Die Übernahme der Kontrolle über die Kirche durch seinen Enkel Simon Kimbangu Kiangiani, als Träger eines „Erbcharismas“, führte zu einem bis nach Europa und die USA reichenden Schisma, weil auch andere Enkel die Führung der Kirche für sich in Anspruch nahmen. Der Ort, an dem Simon Kimbangu geboren wurde und wo heute die geistlichen Führer der Kirche und Familienmitglieder von Kimbangu residieren, hat jedoch das Charisma des Führers bewahrt. Durch ein „Ortscharisma“ ausgezeichnet, ist Nkamba heute ein zentraler Teil der Kimbanguistischen Religionsvorstellung. Der Ort hat Züge eines Neuen Jerusalems, auf das sich auch die Gemeinden in der Diaspora ausrichten und zu dem Anhänger Kimbangus „zurückkehren“, um sich dort beerdigen zu lassen (Garbin 2010).

Hervieu-Léger (1993) definiert religiöse Gemeinschaften dadurch, dass diese sich einer autorisierten/autorisierenden Tradition unterstellen. Überlieferung und Verschriftlichung oraler Traditionen, ihre Kanonisierung und schließlich ihre autorisierte Interpretation werden häufig quasi zum Inhalt und Zweck einer Religion. Verwaltung der Tradition und Weitergabe des Charismas überführen religiöse Bewegungen letztlich in organisierte Kirchen.

Aus der umrissenen Problematik können sich auch transnationale Religionsgemeinschaften kaum lösen. Die Anknüpfung an die Autorität der Tradition geschieht häufig dadurch, dass sich die religiösen Spezialist_innen von Autoritäten ihrer Herkunftsreligion unterweisen und ordinieren lassen. Authentische Materialien, Gegenstände, Texte müssen bei Besuchen an den religiösen Ursprungsorten erworben werden, und es muss darauf geachtet werden, dass sie an den neuen Orten ihre Wirkungen entfalten können. Religiöse Organisationen an den Herkunftsorten übernehmen die Aufgabe, die neuen Gemeinden mit ordiniertem Personal auszustatten, das in eigenen Ausbildungsinstitutionen für die Aufgaben der Bildung neuer Gemeinden geschult wird. Die Errichtung von Schulen und Seminaren für Geistliche oder Imame wird schnell zu einer Aufgabe, die aus Gemeinschaften und Bewegungen Organisationen werden lässt.

Viele aus der Bewegung in die Organisationsform übergehende Gemeinden beginnen in kurzer Zeit zu missionieren, wie Gertrud Hüwelmeier (2010) an der Holy Spirit Church (HSC) in Deutschland zeigt, die eine große Zahl von Vietnamesen, die als Arbeitsmigrant_innen in der DDR und in Osteuropa gearbeitet hatten, als Klienten gewinnen konnte. Gestützt auf ihre Sprachkenntnisse und Beziehungen wurden sie bald nach Polen und Russland geschickt, um in Prayer-Camps Hunderte von Vietnames_innen zu missionieren. Die Vision des prophetischen Pastor Tung reichte jedoch auch zurück nach Vietnam: In Hanoi organisierten Mitglieder der HSC in den 1990er Jahren Bibelkreise, nachdem sie in Deutschland kein Asyl erhalten hatten. Ihre Ausbreitung in Vietnam profitierte von einer allgemeinen religiösen Wiederbelebung im Land, vor allem auch der traditionellen Religionen. Im Jahr 2005 konnte die HSC in Hanoi ihre Türen öffnen. Heute sendet sie Mitglieder von Hanoi aus zu Evangelisierungskampagnen nach Taiwan, Malaysia, Kambodscha, Singapur, Thailand und Laos.

3.3 Religiöse Organisationen

Organisationen sind nach Luhmann durch Regeln der Mitgliedschaft konstituiert. Für Mitglieder gilt, dass sie nicht mit ihrer ganzen Person in die Organisation involviert sind, sondern nur in Bezug auf bestimmte Funktionen, Verpflichtungen und Rechte.[21] Die Interaktionen und Kommunikationsmöglichkeiten werden auf die Organisationszwecke begrenzt bzw. formelle von informellen Angelegenheiten unterschieden. Mitgliedschaftsrollen regeln nicht nur die Tätigkeiten von Funktionär_innen oder Produzent_innen, sondern auch die Rollen der Klienten und Konsumenten.

Die so verstandenen Organisationen spielen im gesellschaftlichen Gefüge insofern eine besondere Rolle, als ihre Kommunikationen regelmäßig die Grenzen funktional differenzierter Subsysteme überschreiten. So betätigen sich als Kirchen[22] organisierte religiöse Gemeinden regelmäßig auf den Gebieten von Schulen oder Bildungseinrichtungen, der Unterstützung von Müttern und ihren Kindern, von Stätten der Begegnung oder Obdachlosenheimen. Hier ist die religiöse Institution zugleich von ökonomischen, juristischen oder ästhetischen Kommunikationen durchzogen. Diese Multifunktionalität der Organisationsform ist für religiöse Gemeinschaften, kleine oder große, unter metropolitanen Bedingungen mehr oder weniger unverzichtbar. Nur als Organisationen können diese Gemeinschaften mit anderen Organisationen, seien es staatliche, kommunale, wissenschaftliche und vor allem auch andere religiöse, in Austausch treten. In vielen Staaten (z.B. Japan, Indonesien oder Kanada) ist eine Institutionalisierung der Religion Voraussetzung für ihre staatliche Anerkennung, für die Gewährung der Religionsfreiheit und anderer Privilegien. Da die Funktionäre der religiösen Organisation überwiegend professionelle Spezialist_innen sind, werden die Klient_innen weitgehend in die Rolle von Laien versetzt. Die Organisationsform ermöglicht vor allem auch eine schnelle Multiplizierung und Gründung von Niederlassungen in der gleichen Stadt, im gleichen Land und weltweit.[23]

Die Globalisierung der Religionen zeigt sich vor allem in der rasanten Vermehrung ihrer Organisationen und Institutionen in Bereichen der Bildung, als religiöse Schulen oder Universitäten, karitative Einrichtungen, Kongresszentren und Forschungsstätten, vor allem aber in ihren Vereinigungen und Dachverbänden auf nationaler, internationaler oder Weltebene (Beyer 2006: 107ff). Religion erscheint heute überall in organisierter Form, ob als buddhistisches Kloster, als Hindu-Tempel, als Moschee-Gemeinschaft, als Sufi Bruderschaft, als christliche Pfingstkirche oder als internationale daoistische Gesellschaft (Beyer 2006: 109). Am Rande des religiösen Feldes (oder bereits jenseits) bewegen sich dagegen Praktiken wie Transzendentale Meditation, Tai Chi oder Qi Gong, die eher Bewegungscharakter behalten, ohne feste Mitgliedschaften, ohne zentrale Lenkungen. Alle diese Bewegungen und Organisationen jedoch, ob katholische Kirche, Santeria-Gemeinde oder religiöse Briefkastenfirma, speisen ihre Inhalte in die globalen medialen Netze ein und schaffen einen imaginären Raum des Religiösen oder Spirituellen, dem keinerlei Materialität mehr zuzukommen scheint.

3.4 Religiöse Unternehmen

In dem Maße, in dem sich die religiösen Gemeinschaften als Kirchen oder Vereine formell organisieren, sind sie auf Wachstum verpflichtet. So entwickelt sich zwischen ihnen eine latente oder offene Konkurrenz um Mitglieder, Gottesdienstbesuche, Spenden und politischen Einfluss. Neben sozialen, gesundheitlichen und erzieherischen Bereichen wenden sie sich bald auch kommerziellen Bereichen (Verlage, Devotionalienhandel, eigene Fernsehsender und Banken) zu. Als wohltätige oder Non-Profit-Organisationen sind religiöse Unternehmen in vielen Ländern von der Einkommensteuer befreit (US, UK, Neuseeland Australien, Singapur) oder genießen nur geringe Auflagen zur Offenlegung ihrer Bücher.[24] Der Unternehmenscharakter religiöser Organisationen ergibt sich auch aus ihren Management-Methoden und einem unternehmerischen Ethos, das den Mitgliedern verkündet wird. Nach Klaus Teschner stellen viele evangelikale Kirchen in Westafrika heute business religions dar, „bei denen der Glaube den ökonomischen Erfolg garantieren soll und seine Vermittlung selbst als Business organisiert ist“ (Teschner 2011: 100).

Aernout Mik beobachtet in Rio ein Nebeneinander kleiner, mittlerer und großer religiöser Unternehmen, die alle wachsen wollen (in Brasilien vor allem auf Kosten der katholischen Gemeinden). Der Erfolg der großen evangelikalen Kirchen besteht auch im theologischen Sinne in den Massen von Gläubigen, die bei den sonntäglichen Großereignissen zugegen sind. Ein Gottesdienst mit 5000 Anwesenden bezeugt danach die Anwesendheit des Heiligen Geistes und Gottes Segen auf der Kirche (Mik & Oosterbaan 2014).

Die Pfingstkirchen in Nigeria werden von Asonzeh Ukah als „kommerzielle Imperien“ bezeichnet. Hier teilen sich konkurrierende Kirchen bei steigender Zahl von Gläubigen die Produktion, den Vertrieb und vor allem den organisierten Konsum religiöser Dienstleistungen und Güter (Ukah 2011: 110). Die Konkurrenz sei die treibende Kraft hinter dem Wachstum der pfingstkirchlichen Unternehmungen. Der größte Komplex ist die RCCG. Sie errichtete eine kommerzielle Stadt, die als city of god einen sicheren Hort gegenüber dem apokalyptischen Lagos, der verstörenden Gleichzeitigkeit von unermesslichem Reichtum und abgrundtiefer Armut bildet. Das camp mit ca. 40.000 Bewohner_innen verfügt über Banken, eine eigene Universität und mehrere Auditorien. Die Mittel für die Gottesstadt stammen von den Kirchenmitgliedern und ihren Spenden, aber auch aus dem Vertrieb von Medien und Dienstleistungen. Die Kirche bemüht sich, ähnlich den großen Pfingstkirchen in Rio, unter der Losung: „Gott macht die Menschen nicht arm“ (Kirchenführer Enoch Adeboye, ebd.: 120) auch um die Wohlhabenden in Lagos (darunter auch Christ_innen und Muslim_innen). Die spezifisch religiöse Anziehungskraft solcher Mega-Unternehmungen besteht im Erfolgsversprechen, im Versprechen von Gesundheit und Reichtum bei rationaler Lebensführung,[25] ein Reich Gottes auf Erden, das den Gläubigen nicht nur verheißen, sondern bereits errichtet und daher zugänglich ist.

Vorbilder sind die christlichen Mega-Churches (solche mit mehr als 2.000 Besucher_innen die Woche) der nordamerikanischen Vorstädte. Eine der größten Mega-Kirchen ist Hillsong Church in Sidney, die jedes Wochenende auf ihren verschieden camps mit unterschiedlichen religiösen Angeboten mehr als 20.000 Besucher_innen unterhält (Goh 2011). Sie hat Niederlassungen in London, Kiew, Stockholm, Cape Town und Paris. Der Markenname „Hillsong“ steht für christliche Andachtsmusik mit Millionen verkaufter Videos und CDs. In einer ähnlichen Größenordnung bewegt sich die New Creation Church in Singapur, deren Botschaft kommerziell von Rock Productions vermarktet wird. Die Shopping Mall der Kirche umfasst ein Auditorium mit ca. 5.000 Plätzen, Theater, Restaurants, Bars und Tanzclubs. Hier vereinigen sich vordergründig aufs Leichteste die universalen Medien Geld und Glauben und schicken frohe Botschaften über die Kontinente.

3.5 Religiöse Traditionen und medialer Transport

Ein großer Teil der Organisationsbemühungen von Religionen bis hinein in ihre institutionelle Struktur ist auf die Bewahrung der Traditionen gerichtet, die für sie bürgen. Mit Bourdieu zu sprechen, wird hier ein wesentlicher Teil der religiösen Arbeit verrichtet. Ständige Aufgabe ist die Pflege heiliger Orte und Schreine, die Edition der Texte oder die Sammlung von Heil spendenden Reliquien. So kehren Medien aus Madagaskar oder Vietnam aus der Diaspora in Frankreich nach Hause zurück, um den Kontakt zu ihren home spirits zu erhalten (Lambek 2010). Für die Aufrechterhaltung der vietnamesischen Rituale bedienen sich die in die USA eingewanderten Spezialist_innen für den Umgang mit ihren spirits der ganzen Palette technischer Mittel (Fjelstad 2010). Man kann Sitzungen, in denen die spirits von ihren Medien Besitz ergreifen, online aufrufen und Videos von Zeremonien aus Vietnam kaufen. Viele Medien lassen ihre Sitzungen professionell filmen und verteilen die Videos an andere Medien. Sie helfen diesen, das Pantheon vietnamesischer Gottheiten besser kennenzulernen und mit ihnen zu interagieren. Insgesamt hat die Migration von Medien und ihrer spirits in die USA auch die religiösen Akteure in Vietnam vom interkontinentalen Austausch profitieren lassen.

Insbesondere für die Pfingstkirchen sind die elektronischen Kommunikationsmittel ein unentbehrlicher Bestandteil ihrer Aktionen im religiösen Feld geworden.[26] Der mediale Auftritt der Pfingstkirchen hat auch islamische Organisationen veranlasst, öffentlich um Aufmerksamkeit zu konkurrieren. Der Zugang zu öffentlichen oder der Besitz eigener Fernsehanstalten begründet eine Hierarchie der Religionen, etwa im Verhältnis der evangelikalen zu den unabhängigen christlichen Kirchen in Westafrika. Die medialen Formate wurden durch berühmte Tele-Evangelisten aus den USA entwickelt und nach Afrika oder Lateinamerika exportiert. Die media ministries neuer, christlicher Kirchen heute tragen zu einer globalisierten „pfingstkirchlichen Kultur“ bei (de Witte 2010: 82).[27] Insbesondere sollen die elaborierten medialen Darbietungen von Gesten, Ausrufen oder Gesichtsausdrücken den Fluss des Heiligen Geistes durch die Gemeinde der Gläubigen visualisieren.

„In diesem transnationalen Raum der pfingstkirchlichen Öffentlichkeit reist der Heilige Geist mit Leichtigkeit, getragen von massenmedialen Images, transportiert von transnationalen TV-Netzwerken und den Video-Kassetten bzw. CDs in den Koffern von Migrant_innen aus Ghana, die schließlich in Läden, Wohnungen oder Fernsehstationen in der Diaspora landen.“ (ebd.: 88)

Marleen De Witte betont jedoch ausdrücklich, dass auch die magischen Objekte und Botschaften der traditionalen afrikanischen Religionen auf Reisen gehen, jedoch eher im Verborgenen, in Koffern, Taschen oder Beuteln.

3.6 Religiöse Events und Theatralität

Rituell ausgeformte religiöse Ereignisse stellen vielleicht die älteste und zugleich modernste Sozialform des Religiösen dar. Offenkundig wird dies in den Narrationen von Gründungsereignissen, in denen das Außeralltägliche sich offenbart. Hierzu gehören Auferstehungen, Heilungen, Erscheinungen der Jungfrau Maria, autorisierte und nicht-autorisierte Wunder, Stigmatisierungen, aber auch Anfälle von Besessenheit, in denen sich die Präsenz von spirits ankündigt.[28] Michael Lambek (2010) versucht, das Wesen von spirits als Ereignis, als ihre „Vergegenwärtigung“ (coming into presence) zu fassen.

Religiöse Erlebnisse oder Erfahrungen[29] bedürfen bestimmter situativer Produktionsbedingungen, die tiefreichende Emotionen erzeugen können. Einschlägig ist hier auch das Konzept des „deep acting“, das Arlie Russell Hochschild (1990) vom russischen Theaterregisseur Constantin Stanislawski übernimmt. Auch die Besitzergreifung durch spirits oder das Zungenreden bedarf der Einübung in bestimmte Techniken. Martijn Oosterbaan spricht von einer Tradition der pfingstkirchlichen Erfahrungen mit der Niederkunft des Heiligen Geistes. „Durch Nachahmung und praktische Übungen lernt man, dass es noch andere Kräfte gibt, die einen mit sich nehmen.“ (Oosterbaan 2014: 472) Nachahmung, Einübung durch Mitmachen, ein Sich-den-körperlichen-Erfahrungen-Überlassen verweisen wiederum auf die Aspekte der Gemeinschaftlichkeit des religiösen Erlebnisses, die bis in die mystische Kontemplation fortwirkt. Der Reichtum des Seelenlebens hängt ab von der Differenziertheit des Ausdrucksverhaltens und damit von der Einbettung des Subjekts in etablierte Reaktionsmuster seiner Umgebung (von Savigny 1995: 53).

Events sind nichts den Religionen speziell Eigentümliches, sondern heute Teil der Kultur der „Erlebnisgesellschaft“. In der Inszenierung von Ereignissen in Form von Großveranstaltungen an Wallfahrtsorten, bei Papstbesuchen, auf Weltjugendtreffen etc. nehmen Religionen populäre Kulturformen auf. Robert N. Bellahs für die USA geprägter Begriff der „Zivilreligion“ (Bellah 1970) verbindet im Ereignischarakter von Feiertagen wie Thanksgiving oder Präsidentenvereidigungen nationale mit religiösen Symboliken. Die Massenhaftigkeit ist dabei wesentlicher Teil des Ereignisses und sein Erfolgsgeheimnis, dessen sich auch die Mega-Churches und die großen Pfingstkirchen in aller Welt bedienen.

„Der Heilige Geist wird schnell von den Massen angezogen, in großen Kirchenhallen oder auf freien Plätzen. Die vorherrschende Form der Ansprache der charismatischen Kirchen ist die Anrufung von Massen, genauer, des Individuums als Teil einer Masse von Gläubigen. Das entspricht der Logik des Fernsehens, öffentliche Spektakel zu erzeugen und die Massen durch visuelle Attraktionen zu verzaubern. Das Individuum vor dem Fernseher zu Hause wird so angesprochen, als sei es ein Teil des Massenpublikums.“ (de Witte 2010: 96)

Die Inszenierung religiöser Ereignisse ist deutlich bei pfingstkirchlichen Gottesdiensten zu beobachten, zumal dann, wenn die Vorgänge in der Versammlung der Gläubigen medial an diese rückvermittelt werden, wie Aernout Mik im Gespräch mit Jochen Becker und Martijn Oosterbaan (2014) über die großen Pingstkirchen in Rio berichtet. „Bildschirme rund um den Raum geben wieder, was gerade vor sich geht. (..) So befinden sich die Leute mitten im Gottesdienst und erleben gleichzeitig ihre Anwesenheit medial gespiegelt, was extrem faszinierend ist.“ (ebd.: 468)

Die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit religiösen Phänomenen in „spät‑ und nach-christlichen Kontexten“ scheint verstärkt darauf verwiesen zu werden, dass ihre Gegenstände „in sich theatral verfasst“ sind (Berger u.a. 2013b, 13). Die Leiter_innen religiöser Veranstaltungen agieren heute vor und für ein Publikum, das sich als Teil der Aufführungen und Anrufungen versteht, in denen sich die Grenze zwischen Bewirkendem und Bewirktem verwischen. Diese Inszenierungen benötigen dafür eine eigene Ästhetik des Raums, der Bewegungen und des Hörens, die das religiöse Event gezielt zu dem multimedialen Ereignis formen, das es immer schon war. Peter A. Berger, Klaus Huck und Thomas Klie konstatieren eine Verschiebung vom Textcharakter zum Ereignischarakter von Kultur und Religion. Allerdings konnte religiöse Praxis nie nur Text sein, sondern war und ist immer auch eine Praxis der Lesens, der Rezitation und des Hantierens mit den „heiligen Büchern“. Techniken der rituellen Wiederholung machtvoller Formeln und die Raumanmutungen religiöser Verrichtungen verschränken sich in der Inkorporierung bestimmter Haltungen und Gemütszustände, frei nach Pascal: Fromm wird man durch frommes Verhalten (Pascal 1987: 126, Fragment 233).[30]

Es sind spezifische, auf Herstellung und Anerkennung bestimmter Wirklichkeiten zielende Momente performativer Praxis, die das Religiöse in weitere kulturelle Praktiken einbetten. Die Überschneidung religiöser Performanzen, die sich auf ein „Unverfügbares“ richten, mit anderen Praktiken der „Sinnproduktion“ kann daher nicht erstaunen. Dem Spiel der Umdeutungen und „Transkulturationen“ sind hier kaum Grenzen gesetzt. Wenn Detlef Pollack die religiöse Sinnform „durch den Akt der Überschreitung der verfügbaren Lebenswelt sowie durch die gleichzeitige Bezugnahme auf diese Lebenswelt“ gekennzeichnet sieht (Pollack 2009: 279), so ist damit das gesamte Repertoire kultureller Praktiken der Vergemeinschaftung angesprochen, die mit „Alterität“ (Levinas), „Unverfügbarkeit“ (Derrida) oder „Transzendenz“ (Luhmann) Umgang pflegen. „Religionshybride“ sind dann Berger, Hock und Klie zufolge solche Gebilde, die nicht apriorisch als (rein) religiös oder (nur) kulturell kategorisiert werden können. (ebd.). Angesichts der tendenziellen Auflösung religiöser Felder schlägt für Bourdieu Religionssoziologie in Kultursoziologie um (Wienold & Schäfer 2012: 62).

3.7 Die Operation genannt „Glauben“

Geglaubt wird überall.[31] Die Ubiquität von Glauben darf aber nicht mit einer Ubiquität von Religion verwechselt werden. Alle Urteile und Annahmen, Weltsichten und Wirklichkeiten sind durchtränkt von Glauben.[32] Jede als wahr behauptete Proposition beinhaltet den Glauben an diese Proposition (Quine & Ullian 1970). Ein religiöser Glaube bzw. ein Glaube an religiöse Dinge zeichnet sich daher nicht durch Eigentümlichkeiten einer besonderen Art und Weise zu glauben vor anderen Operationen des Glaubens aus. „Etwas zu glauben“, jene Operation genannt „Glauben“, ist im Sinne der analytischen Philosophie weder eine Handlung noch ein seelischer Vorgang (vgl. Giegel 1969). „Akte des (religiösen) Glaubens“ sind hingegen materielle Praktiken, durch die Glaube erzeugt, eingeübt, dargestellt und reproduziert wird, z.B. das gemeinschaftliche oder individuelle Gebet, Opferrituale und Feiern.

Ist der spezifische „Wert“ in einem religiösen Feld der „Glaube“, der in das Feld zu investieren ist, dann besteht die spezifische Illusio (Bourdieu) des religiösen Feldes im „Glauben an den Glauben“. Mit Luhmann könnte man auch sagen, dass der Glaube an die „Wirklichkeit der Transzendenz“ in den „Glauben an die Wirklichkeit des Glaubens“ umschlägt (Luhmann 2002: 314). In der Diktion Luhmanns muss man an die Wirksamkeit des Glaubens glauben, um gegen die Beliebigkeit der Glaubensinhalte gefeit zu sein.

Der den Glauben an den Glauben begründende Glaube ist nicht selbst grundlos oder „fideistisch“, sondern gründet sich auf bürgende Instanzen (Autoritäten, Wahrscheinlichkeiten, Institutionen). Das Vertrauen in diese Instanzen „verdoppelt die Gläubigkeit“ (de Certeau, 1984: 373). Aber die Garantien sind nie gewiss und multiplizieren sich in einer Kette von Substituten (die Familie, die Gruppe, die Kirche, der Staat). Der Glaube im Namen Gottes, der Gesellschaft oder des Staates ist daher der Fluchtpunkt der Bürgschaften, der dem Postulat des Glaubens entspringt, dass es einen Bürgen geben muss (ebd.: 374).[33]

Der vom religiösen Feld eingeforderte „Glauben an den Glauben“, der einen Regress ad infinitum impliziert, kann diesen nur dadurch vermeiden, dass er in eine Praxis oder Lebensform zurückreicht, in der alle Begründungen zu Ende kommen. Hierin gründet sich das von Hervieu-Léger konstatierte Bedürfnis nach Validierung des Glaubens durch Gemeinschaftsbildung. Der Niedergang der Institutionen, die den Wert des Glaubens autoritativ verbürgen könnten, führt zur Suche nach Validierung in neuen Formen kommunitärer Praxen. Es sind dann diese neuen sich selbst bestätigenden Vergemeinschaftungen, die welchen Glaubensvorstellungen auch immer ihre Kraft verleihen (Hervieu-Léger 1993; 2004).

In diesem Sinne greift die vorliegende Betrachtung von „Religionen auf Reisen“ nicht auf die Inhalte religiöser Glaubensvorstellungen zu, sondern auf die Formen, die Inhalte sozial validieren und autorisieren können. Wichtig erscheinen in dieser Perspektive für die Transportfähigkeit von Religionen nicht so sehr die Universalität des Anspruchs einer religiösen Idee (vgl. Csordas 2009), sondern die Bedingungen der Weitergabe und Reproduktion eines Charismas von seinen „Ursprüngen“ her und der realen oder imaginären Bewegungen zu diesen zurück. Religiöses der unterschiedlichsten Form, abgeschnittene Haare, heiliges Wasser, Gebetsmühlen oder ein päpstlicher Segen, tritt die Reise dorthin an, wo es gebraucht wird. Vor allem sucht es nach Raum für seine alltäglichen Wirkungen.

Vor diesem Hintergrund führen die Reisenden lebenswichtige Rituale, Objekte und Bilder mit sich, die ihre Gesundheit und ihren Familienverband sichern, die sie mit Ahnen und Geistern ihrer „Heimat“ verbinden, die ihnen Auskunft geben über die Auspizien der Geschäfte und familiären Verbindungen, insbesondere die Auspizien des Reisens selbst. Kann ein günstiger Reisetag nicht genutzt werden, so ist es doch besser, an diesem schon seinen Koffer zu packen und die Schuhe vor die Tür zu stellen. Es sind jedoch auch die Geister selbst, die den transnationalen Raum durchqueren und die Eingeweihten nicht freigeben. Aufrechterhaltung der Verbindungen zu den Lokalitäten der Geister, den charismatischen Orten der Religionsgründer oder den Ruhestätten der immer noch „hungrigen Ahnen“ kann zur Lebensnotwendigkeit werden. Sowohl der Topos des Aufbruchs wie der Rückkehr sind daher religiös stark besetzt. Die Pfingstkirchen etwa in Westafrika konzentrieren sich in ihrer Pastoral sowohl auf die Wanderungen vom Land in Städte wie auf die Reisen vom Süden in den Norden. In gewisser Weise machen sie Ankömmlinge vom Land „fit“ für den Sprung in den Norden, indem sie sie von alten Lasten befreien und ihnen ein Gefühl der Auserwähltheit vermitteln (Daswani 2010).

Wie schon an anderen Stellen angesprochen, ist der Topos der „Reise“, des Pilgerns oder noch allgemeiner der „Suche“ eine Wendung, die in den Traditionen vieler Religionen mitgeführt wird. Eine derartige „Suche“ arbeitet Christine Matter (2007) in Gesprächen mit Mitgliedern einer unitarischen und einer katholischen Kirchengemeinde sowie einer Gruppe von amerikanischen Buddhisten als Grundfigur „religiöser Existenz“ in den USA heraus. Suche oder Reise haben die Form des Individuellen, des Nicht-Fest-Gelegtseins, das einem urbanen Lebensgefühl entgegenkommen mag. Es ginge jedoch zu weit, das Reisen oder das Suchen, diese Formen moderner Unrast, selbst zur Religion zu erklären.

4.  Grenzen und Ausschlüsse

Den Erfahrungen des Reisens und des Ankommens stehen die Erfahrungen der Grenzen, der Zurückweisung, der Abschiebung gegenüber. Die Hoffnung, die die Menschen, falschen Führern folgend, in die Wüste oder übers Meer führt, ist u.U. bitter zu bezahlen. Die Grenzen und Ausschlüsse verlaufen quer durch die Städte des Nordens wie des Südens, markiert durch gated communities, Sicherheitsschleusen und Passvorschriften, im unmittelbaren Nebeneinander der Wellblechhütten und sich in die Höhe schwingender Wohntürme. Zwischen diesen Bezirken gibt es Durchlässe, Passierscheine und Anwartschaften, verbunden mit Hoffnungen, in den Kreis der Berechtigten oder der zu Berücksichtigenden aufgenommen zu werden. Ein von den staatlichen und städtischen Verwaltungen und ihren Hilfsorganisationen geschickt eingesetztes „Prinzip Zuversicht“ lässt Familien oder Einzelne sich im Glauben wiegen, am Ende doch zu den Auserwählten, den „eligible“ (Simone 2014: 158) zu gehören.

Wenn es etwas Allgemeines gibt, das die gesellschaftliche Situation eines großen Teils der Bewohner_innen Rio de Janeiros, Lagos’ oder Mumbais kennzeichnet, dann ist es die soziale Exklusion. Schiffauer sieht hierin den gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem sich Religionen wie die Pfingstkirchen oder Soka Gakkai mit ihren Versprechungen entfalten können. Die Erfahrungen der Wertlosigkeit oder Entwertung, die von ihnen bearbeitet werden, reichen tief. Nachdem der Kapitalismus seine Versprechungen auf Schaffung von dauerhaftem Wohlstand für alle gebrochen hat, gibt er sein religiöses Element (Benjamin) an einen Messianismus weiter, der die Wiederkehr des Heiligen Geistes, des Erlösers oder eines seiner Propheten, die Errichtung des Reiches Gottes, eines Neuen Jerusalems, die Gemeinschaft der Heiligen und der Gläubigen in naher, näherer oder doch nicht so ferner Zukunft verspricht.[34] Die Pfingstkirchen spielen erfolgreich die Karte des Messianismus. So wird Redemption City als city of god zum Gegenbild zu Lagos, der „Hure Babylon“. Gleichzeitig bietet Redemption City Besucher_innen und Bewohner_innen die Verheißungen eines allerdings vom Bösen gereinigten Kapitalismus mit einem immerwährenden Reichtum für alle.

Die Erfahrung der Entwertung des Individuums durch Exklusion, Nichtteilhabe und Nichtzugehörigkeit macht anscheinend für Viele, ob in Japan, Nigeria oder Brasilien, den Glauben an eine innerweltliche Erlösung (oder Auserwähltheit) attraktiv. In vielen neuen Religionen geht es zwar auch um individuelle Erlösung, diese wird aber nicht ausschließlich auf eine Rettung der Seele im Jenseits verschoben. Vielmehr spielen Naherwartungen eine wichtige Rolle, Erwartungen darauf, dass sich ein moralisch einwandfreies und diszipliniertes Leben auch in diesem Leben auszahlt und, wie Schiffauer (2014: 56) schreibt, dass man zum „Gewinner“ wird, wenn man einer bestimmten „religiösen Gemeinschaft“ beitritt, etwa der World Mission Agency – The Winners’ Chapel.

Der Erfolg der Pfingstkirchen in großen Schichten der städtischen Bevölkerungen Lateinamerikas oder Afrikas dürfte auch darin bestehen, dass sie Modell für eine Rationalisierung der Lebensführung angesichts unübersichtlicher, kontingenter und bedrohlicher Lebensverhältnisse in marginalisierten städtischen Quartieren wie den Favelas in Rio anbieten, einüben und kontinuierlich verstärken.[35] Für Brasilien ist bekannt, dass die Attraktion der Pfingstkirchen für Frauen, insbesondere auch aus der afro-brasilianischen Bevölkerung, in der Ordnung der Familienverhältnisse, z.B. in Bezug auf den Alkoholkonsum der Männer besteht. Die verlangte Selbstdisziplinierung, die verschiedene Autor_innen unter Rückgriff auf Foucault als Governance oder Self-Governance bezeichnen, wird dabei in kollektiven Ritualen eingeübt. Hinzu kommt als wichtiges Element, dass der Kampf gegen den „inneren Feind“ zugleich als ein Kampf gegen den äußeren Feind, das Böse in der Stadt geführt wird. Das Modell des „spirituellen Kampfes“ mag gerade auch für Jugendliche in den Slums attraktiv sein, die zwischen Bandenkämpfen und Drogenkriegen aufwachsen. Der Aufruf zum „spirituellen Krieg“ und die Verkündigung der baldigen Wiederkehr des göttlichen Königreichs auf Erden findet sich jedoch mit identischen Bildern und Phrasen bei konservativen weißen Evangelisten, die damit gegen den Verfall der amerikanischen Kultur in den von Migrant_innen und Schwarzen bewohnten Innenstädten, gegen Abtreibung, Homosexualität und Promiskuität zu Felde ziehen (Elisha 2011).

Religionen bilden, wie Geertz sagt, „kulturelle Systeme“, die sich mit dem common sense die Aufgabe der Vergewisserung der Alltagswirklichkeiten teilen (Geertz 1975). Viele bedürfen ihrer nicht und belassen es beim common sense. Die Erschütterungen des Reisens, der Kette von Aufbrüchen aus dem kaum noch Bewohnbaren, der Ankünfte im gleichfalls kaum Bewohnbaren, lassen bei anderen die Kräfte des common sense erlahmen. Hier sind die „guten Geister“ als Begleiter nötig, während die „schlechten“ besser zurückbleiben.

5.  Statt eines Fazits

Religiöse Semantiken und religiöse Felder kommen nicht zur Deckung. Die Formel von cujus regio, eius religio konnte keine Balance zwischen den weltlichen Mächten schaffen, die sich als Vertreter göttlicher Mächte verstanden wissen wollten. Ebenso wenig konnten Exodus, Vertreibung oder „Säuberungen“ im Inneren der Nationalstaaten religiös homogene Staatsvölker erzeugen. Häretiker_innen, Seher_innen und Heiler_innen wurden und werden angesichts sie bekämpfender Obrigkeiten (oder der Versuche, sie zu vereinnahmen) nicht müde, ihre Gründungsmythen und Endzeitvisionen zu erzählen. Religiöse Gemeinschaften sind, wie das Beispiel der Christen in Japan zeigt, unter Umständen in der Lage, Jahrhunderte der Repression zu „unterleben“. Ebenso überlebte das Heidentum in Europa in den Ländern der allerkatholischsten Majestäten oder belebt sich neu (Favret-Saada 1979). Wie uns Amitav Gosh (1994) erzählt, konnten Christen, Juden und Muslime, Handel treibend, im 13. Jahrhundert für einige Zeit friedlich in ihren Gemeinden in der Diaspora an den Küsten des indischen Ozeans zusammenleben (vgl. auch Mayer 2005). Die Friedfertigkeit ist hier eher Resultat des Lebens in der Diaspora, als dass sie den Religionen selbst entspringt. Lokale Bezüge fördern lokale Interessen, auch wenn diese in die Ferne schweifen, und Kommerz. Kommensualität und Konnubium regulieren die religiösen Bedürfnisse. Geertz musste jedoch während der Massaker 1966 in Java erfahren, dass diejenigen, die den einen Tag noch beim slametan, dem kommunalen Festessen, zusammen saßen, ihren Nachbarn am nächsten Tag zu hunderttausenden mit dem Messer die Gurgel durchschnitten.

Ob etablierte oder neue Religionen, ihnen allen dient das Reisen heute als Form ihrer Reproduktion. Das Mosaik der Religionen in den urbanen Zentren vervielfältigt sich und wird durch ständige Neuankünfte weiter differenziert. Die religiösen Gemeinden tauchen ein in die cities of arrival (Doug Saunders) und erscheinen dort, wo sich ihnen Platz bietet (oder sie nehmen sich ihn). Wie Mattilde Cassani für Barcelona zeigte, ist das Sakrale heute in den Städten (und über die Städte) zerstreut, in religiösen Feldern fragmentiert und in seiner Präsenz intermittierend. Religionen wie Kulturen können unter den Bedingungen postsäkularer Urbanität keine autonomen, in sich abgeschlossenen Räume beanspruchen. Globalisierung erscheint wie das Drehen eines Kaleidoskops, das die kulturellen Versatzstücke durcheinander purzeln lässt. Waren die Schockerlebnisse der Passant_innen in den Großstädten für Walter Benjamin noch Insignien der Moderne, so bildet sich heute in den Schocks des Aufeinandertreffens der Menschen auf den Migrationsrouten oder an den Nicht-Orten (Marc Augé) der öffentlichen Plätze, Flughäfen und Kommerzzentren, in den Ansammlungen politischer, religiöser oder kultureller Events, das Lebensgefühl derjenigen aus, für die die Moderne und ihre Gegensätze bereits in der Vergangenheit liegen.

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Anschrift des Autor:
Hanns Wienold
prof.dr.h.wienold@uni-muenster.de

Peripherie, Nr. 134-135, 34. Jg. 2014, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 148‑186
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[1]       Die drei Beispiele stammen aus dem Band Traveling Spirits von Hüwelmeier & Krause (2010), dem dieser Beitrag viele Anregungen zu verdanken hat.

[2]       Zur Welt der Genisa vgl. Mayer 2005.

[3]       Wie die „Missionierung“ der Kinder Gottes, die schon das „gelobte Land“ der späteren Neuenglandstaaten bewohnten, verlaufen ist, lässt sich etwa bei Francis Jennings (1975) nachlesen.

[4]       http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19641121_lumen-gentium_ge.html, letzter Aufruf: 16. 6. 2014; http://www.wir-sind-kirche.at/archive/dokumente/zeitung/zeitung_41/Kirche%20der%20Erneuerung.pdf, letzter Aufruf: 16. 6. 2014; zur nach-konziliaren Metaphorik vgl. auch Nacke 2010.

[5]       Eine Minimaldefinition findet sich bei Ruth Mayer, die unter Diaspora eine „Gemeinschaft“ versteht, „die sich – durch Vertreibung oder Emigration – von einem ursprünglichen (oder imaginären ursprünglichen) Zentrum an mindestens zwei periphere Orte verteilte“ (Mayer 2005: 13). Dabei kommt Ursprungsmythen und Rückkehrvisionen oder Utopien für die Befindlichkeit in der Diaspora große Bedeutung zu. Dort stellen sich Fragen von Identität und Zugehörigkeit. „Das gegenwärtige Szenario von diasporischen Gemeinschaften privilegiert gemeinschaftliche kollektive Rechte vor individuellen Rechten, das kollektive gegenüber dem privaten Selbst“ (Monik Fludernik, zitiert nach Mayer 2005: 14)

[6]       Lanternari (1960) zeigt, dass viele religiöse Bewegungen in Nord‑ und Südamerika, in Afrika und Asien in den letzten zweihundert Jahren als prophetische Freiheits‑ und Heilsbewegungen gegen die Zwänge der Christianisierung entstanden.

[7]       Der Islamischen Gemeinde Berlin e.V. gehörten in dieser Zeit neben Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinde auch Muslime anderer Strömungen an. Bis Ende der 1970er Jahre galt die Ahmadiyya für staatliche oder kirchliche Organisationen als Repräsentant der Muslime in Westdeutschland (Lathan 2010: 103).

[8]       Die Bildung indischer hinduistischer Gemeinden in den USA oder Europa, die sich aus urbanisierten Mittelschichtsangehörigen rekrutieren, folgt allerdings eigenen Wegen (vgl. Punzo Waghorne 1999). Von Interesse sind hier auch die Rückwirkungen eines durch in den USA tätige Gurus amerikanisierten Neo-Vedantas auf eine Modernisierung des Hinduismus für die religiösen Bedürfnisse von Angehörigen der Business-Elite in Indien (Fuller & Harriss 2005).

[9]       Die New-Age-Bewegung kennt neben den Praktiken des „channeling“ vielerlei Zaubermittel, die die Wege zum „wahren Selbst“ erschließen sollen (vgl. Clarke 2006: 25ff).

[10]      Über „Unterbringungsprobleme“ von Göttern und Göttinnen des Vodou in der „zweiten Diaspora“ in New Yorker Mietwohnungen vgl. McCarthy Brown 1999.

[11]      Hierbei handelt es sich auch um einen männlichen Griff. Die Entwicklungen der amerikanischen Denominationen, der Pfingstkirchen und black churches haben Frauen Möglichkeiten eröffnet, führende Rollen in den Religionsgemeinschaften zu übernehmen. Frauen waren in den USA auch aktiv an der Formung spiritualistischer Strömungen und Gemeinschaften beteiligt (Braude 2002).

[12]      Die Liste der Weltreligionen fällt je nach Standpunkt unterschiedlich aus. Genannt werden regelmäßig Christentum und Buddhismus, mit Einschränkungen Judentum, Islam und Hinduismus. Daneben rangieren auch Sikhismus, Taoismus, Konfuzianismus, Baha’i oder der Zoroastrismus, je nach Gusto, als Weltreligionen (vgl. Masuzawa 2005: 7; auch Schäfer & Wienold 2012).

[13]      Zur Kritik an der Konstruktion binärer Codes bei Luhmann sei hier auf Gerhard Wagner (2000: 210ff) verwiesen.

[14]      Dies stellt Michael N. Ebertz (1986) anschaulich am Beispiel des Wandels des Marienkults nach seiner Einverleibung durch die katholische Kirche dar.

[15]      Zu den am meisten verbreiteten Gemeinschaftsritualen zählt Clifford Geertz das gemeinsame Mahl, für ihn exemplifiziert im javanischen slametan (Geertz 1960: 11). Gemeinschaften, auch durch gemeinsames Bekenntnis überformt, sind jedoch selten frei von Spaltpilzen.

[16]      Individuen, die zu Pfingstkirchen konvertieren, vollziehen einen radikalen Bruch mit ihrer Vergangenheit, indem sie sich, worauf die Kirchen bestehen, von ihren alten Ritualen und Geistern lossagen und eine „zweite Geburt“ durchlaufen (Daswani 2010).

[17]      Zum Begriff der „religioscapes“ vgl. McAlister 1998; Hayden & Walker 2013.

[18]      Zu erwähnen sind auch die christlichen Gemeinden „Las Abejas“, die im Hochland von Chiapas den Widerstand gegen den mexikanischen Staat fortführen (Kerkeling 2013).

[19]      Zu Beispielen vgl. Clarke 2006; Cowan & Bromley 2010.

[20]      Für Lanternari (1960: 478) stehen prophetische Bewegungen regelmäßig im Zusammenhang mit Emanzipations‑ und Befreiungsbewegungen gegen innere und äußere Unterdrückung.

[21]      Ausnahmen bilden die sog. totalen Institutionen wie Gefängnisse, Irrenhäuser, aber auch Klöster und Internate.

[22]      Kirchen sind hierokratische Organisationen mit Satzungen, die die Heilsökonomie auf ihre Priesterschaften übertragen. Im Unterschied zu christlichen Kirchen Europas haben die neuen Kirchen nicht den Charakter von Anstaltskirchen (Weber). Adogame (2013) zeichnet für evangelikale Kirchen in Afrika, etwa die RCCG aus Ghana, tiefgestaffelte und weltumspannende Hierarchien nach, die z.T. der katholischen Kirche nachempfunden sind und es hierin mit dieser aufnehmen können.

[23]      Die Church of Pentecost aus Ghana, mit weltweit ca. 1,6 Mio. Mitgliedern in 69 Ländern, verdankt nach Girish Daswani (2010) ihre Übersee-Erfolge vor allem der Inkorporierung prophetischer Aktivitäten (Weissagungen, Heilungen etc. ) in eine starke bürokratisch-kirchliche Struktur, durch die die weltweite Arbeit ihrer Pastoren kontrolliert wird.

[24]      für Näheres vgl. Goh 2011: 53.

[25]      Die Versprechen der Pfingstkirchen schließt auch Geschäftserfolge ein und die Gläubigen werden durchaus zu einer aktiven, geplanten und am Risiko orientierten Lebensführung ermuntert (van Dijk 2010: 106). Die Kirchen selbst profitieren von den Kollekten und Spenden ihrer erfolgreichen Mitglieder (ebd. 107). Ihre Verkündigungen sind aber nicht generell mit einem „prosperity gospel“ gleichzusetzen, da es ihnen auch um eine Entdämonisierung der luxurierenden Warenwelt geht, in der der „Teufel“ steckt (vgl. auch Taussig 1980).

[26]      Der mediale Auftritt der Pfingstkirchen und ihre Öffentlichkeitsstrategien in Ghana bilden den Gegenstand von weiterweisenden Forschungsarbeiten von Birgit Meyer (2011).

[27]      vgl. auch Meyer 2011 zur medialen Stilbildung von Pfingstkirchen.

[28]      Über Wunder als Ereignisse vgl. Baumeister 2011.

[29]      Weiterführend ist Birgit Meyers (2012) Konzept der religious sensations, die durch sensational forms sozial geprägt sind und medial reproduziert werden können.

[30]      Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Einübung in die Frömmigkeit, das „Glauben-Machen“, in den Familien, Schulen, Klöstern vielfach auch dauerhafte repressive Wirkungen entfalten kann, die von Bourdieu als „symbolische Gewalt“ gekennzeichnet werden (Wienold & Schäfer 2012). Diese disziplinierenden Wirkungen können sowohl als Zwang wie auch als zweite „soziale Haut“ erfahren werden.

[31]      Zum Folgenden auch Wienold & Schäfer 2012: 78ff.

[32]      So steckt nach Wolfgang Spohn (1995: 26) erkenntnistheoretisch in jedem Wissen ein Glaube.

[33]      „Glauben“ bedarf ähnlicher Erhaltungs‑ oder Absicherungsmechanismen wie „Wirklichkeiten“ (Berger & Luckmann 1980: 157ff). Im Sinne von Clifford Geertz überhöht der „Glaube an den Glauben“ die Wirklichkeiten durch „wirkliche Wirklichkeiten“ (Geertz 1973; vgl. auch Wienold i.E.).

[34]      Birger P. Priddat (2013) zeigt die Beziehungen auf, die noch bei Adam Smith zwischen der prästabilisierten Harmonie der „unsichtbaren Hand“ und einer benign order oder heaven on earth bestanden haben. In diesem Sinne besitzt oder besaß der Kapitalismus eine Religion der Verheißung.

[35]      Zum Verhältnis von prosperity gospel und disziplinierter Lebensführung in pfingstkirchlichen Botschaften vgl. Meyer 2004: 460f.