Absahner des Pflege-Notstands

Pflegekräfte organisieren sich gegen Knebelverträge bei GIP

in (30.09.2014)

Mit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise in den Ländern Süd- und Südosteuropas haben deutsche Firmen begonnen, Fachpflegekräfte aus den Krisenländern anzuwerben. Dies ergänzt Anwerbestrategien in sog. Schwellenländern für Fachpflegekräfte sowie Migrationsbewegungen insbesondere aus Osteuropa.

Hintergrund dieser Entwicklung ist, dass gerade im Bereich der examinierten Alten- und Krankenpflege in Deutschland bereits jetzt Fachkräftemangel besteht. Zu wenige junge Menschen wollen die Belastungen auf sich nehmen. Viele examinierte Pflegekräfte verlassen den Beruf schon nach wenigen Jahren, verlassen das Land oder reduzieren ihre Arbeitszeit. Der hierdurch produzierte Personalmangel soll auch durch die Anwerbungen im Ausland kompensiert werden.

Statt die Arbeitsbedingungen im Pflegebereich insgesamt zu verbessern, indem mehr Geld für Personal verwendet wird, versuchen einige Unternehmen, die europäischen Pflegekräfte zu missbrauchen, um den Personalnotstand zu beheben, ohne dafür mehr Geld ausgeben zu müssen. Dabei greifen sie auf Vertragskonstruktionen zurück, bei denen die Kosten für die Erlangung von Sprachkenntnissen genutzt werden, um die KollegInnen an die Unternehmen zu binden. Bei ver.di und dem DGB in Berlin melden sich vermehrt KollegInnen aus verschiedenen Unternehmen, die meist keinen Tarifvertrag und zum Teil auch keinen Betriebsrat haben, mit Fragen zu diesen Vertragskonstruktionen.

 

Die Anwerbe- und Vertragspraxis bei GIP

Ein Unternehmen sticht hierbei besonders hervor. Die GIP (Gesellschaft für medizinische Intensivpflege) hat über Internetkampagnen Pflegekräfte aus Spanien und Griechenland angeworben. Sie werden zunächst für sechs Monate als PflegehelferInnen eingestellt. In dieser Zeit bekommen sie 900 Euro/Monat brutto und werden für die Absolvierung eines Deutschkurses mit anschließender staatlich anerkannter Prüfung für das Sprachlevel B2 von der Arbeit freigestellt. Diese Anerkennung ist Voraussetzung, damit die GIP ausländische Pflegekräfte als examinierte »Gesundheits- und KrankenpflegerInnen« einsetzen darf.

Im Anschluss erhalten die Beschäftigten einen auf 18 Monate befristeten Arbeitsvertrag als Gesundheits- und KrankenpflegerInnen. Ihr Stundenlohn beträgt dann 9,50 Euro (zum Vergleich: das Einstiegsgehalt für eine examinierte Pflegekraft auf Normalstation liegt im TVöD bei ca. 13 Euro). Laut Arbeitsvertrag sind sie bundesweit einsetzbar.

Die GIP bindet die migrantischen Beschäftigten durch eine Kündigungsgebühr für die ersten 18 Monate an das Unternehmen. Dabei werden der Arbeitslohn der ersten sechs Monate sowie weitere Aufwendungen während der Zeit des Sprachkurses den Beschäftigten in Rechnung gestellt. Wollen sie das Unternehmen vor den ersten 18 Monaten verlassen, müssen sie bis zu 6 600 Euro als Ausstiegsgebühr bezahlen. Dies, obwohl die erfolgreiche Absolvierung des Sprachkurses Anstellungsvoraussetzung ist.

Die GIP besitzt keinen Betriebsrat. Allgemeine Regelungen über Wunscheinsatzorte und eine Festlegung des Einsatzgebietes gibt es nicht. Trotzdem wurden die Sprachkurse für die Beschäftigten der GIP aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds finanziert (ESF).

Die Anliegen der Beschäftigten:

·         Abschaffung der Knebelverträge

·         Gehalt: Mit 9,50 Euro liegt das Gehalt für eine examinierte Pflegekraft weit unter der Leitwährung TVöD (13-15 Euro), aber auch unter dem
          Gehalt, das im Privatsektor für examinierte Pflegekräfte gezahlt wird.

·         Pausen und Ruhezeiten werden nicht eingehalten

·         Zwölf-Stunden-Schichten: Nach Arbeitszeitgesetz sind maximal zehn Stunden zulässig. Trotzdem werden die Beschäftigten regulär in
          Zwölf-Stunden-Schichten eingesetzt. Die GIP hat hierfür einen Tarifvertrag nach einer Öffnungsklausel im Arbeitszeitgesetz mit der
          »christlichen Gewerkschaft« GÖD abgeschlossen. Aber hierauf wird in den Arbeitsverträgen nicht Bezug genommen.

·         Dienstplanunsicherheit, unklare Urlaubsregelungen, »Holen aus dem Frei«

Gehaltsunsicherheit: Im Arbeitsvertrag werden eine Normalarbeitszeit und eine Mindestarbeitszeit definiert. Anspruch haben die KollegInnen nur auf die Mindestarbeitszeit, die z.T. nur der Hälfte der Maximalarbeitszeit entspricht, und die entsprechende Bezahlung.

 

Gewerkschaftliche Aktivitäten

Seit März 2014 organisieren sich migrantische KollegInnen bei der GIP in ver.di, um für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen einzutreten. Ihr Beispiel macht inzwischen auch in anderen Betrieben Schule. Die europäischen Pflegekräfte treten in ver.di ein, um für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen.

Bei der GIP haben sie eine Liste von Forderungen aufgestellt, die sie Ende Mai der Geschäftsleitung übergeben hatten. Kernziel ist die Abschaffung der Knebelgebühren und die Gleichbehandlung aller Beschäftigten unabhängig davon, welchen Pass sie besitzen. Sie treten damit auch offensiv dafür ein, nicht für die Verschlechterungen der Arbeits- und Lohnbedingungen der deutschen Beschäftigten missbraucht zu werden. Sie haben sich zum Ziel gesetzt, gemeinsam für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Deutschland zu kämpfen.

Da GIP auf die Forderungen nicht eingeht, haben die ver.di-KollegInnen seit Juni eine öffentliche Kampagne gegen die Arbeitsbedingungen bei der GIP gestartet. Das Thema ist seitdem in vielen deutschen und spanischen Medien präsent. GIP weist unterdessen alle Vorwürfe von sich. Eine Bezahlung von 9,50 Euro für eine examinierte Pflegekraft wird vom Unternehmen als branchenüblicher Lohn verteidigt.

Obwohl die GIP alle Probleme abstreitet, hat das Unternehmen inzwischen auf seiner Homepage erklärt, dass die »steigenden Ansprüche und die Unzufriedenheit einzelner Mitarbeiter« sie dazu bewogen haben, das europäische Anwerbeprogramm zu beenden.

Während andere Unternehmen Werbeprämien und Zuschläge für deutsche Pflegekräfte bezahlen, werden die Knebelverträge mit den Kosten für die Sprachkurse begründet, die notwendig sind, damit die Unternehmen die Beschäftigten überhaupt als Fachkräfte einsetzen können. Deshalb setzen sich die KollegInnen weiter dafür ein, dass für Pflegekräfte aus dem Ausland die freie Berufswahl nicht durch Bindungsklauseln eingeschränkt wird.

Inzwischen hat sich dazu auch der Europäische Gewerkschaftsverband des öffentlichen Dienstes (EGÖD) positioniert. Er fordert, gegen die Bindungsklauseln im Migrationskontext vorzugehen und die Förderung von Unternehmen aus Mitteln des ESF an die Einhaltung von sozialen Standards (Tarifverträge und Existenz eines Betriebsrats) zu binden (www.epsu.org/a/10606).

Inzwischen zeigt auch die Berliner Politik Interesse an dem Thema. Außerdem wird ver.di eingeladen, in berufsbezogenen Sprachkursen, die von der spanischen Regierung in Berlin organisiert werden, zum Thema Gewerkschaften und Arbeitsrechte zu informieren. Ein weiterer Schritt, um ver.di als Ansprechpartnerin in Arbeitsfragen für migrantische Beschäftigte zu etablieren.

 

*  Kalle Kunkel ist Gewerkschaftssekretär im Fachbereich 3 bei ver.di Berlin-Brandenburg.

 

Quelle: ver.di – Infodienst Krankenhäuser, Nr. 66, September 2014, S. 20-21.

 

 

GIP Gesellschaft für medizinische Intensivpflege mbH

Die im Besitz der Lelbach Holding GmbH, Berlin, befindliche GIP Gesellschaft für medizinische Intensivpflege mbH, 2009 Übernahme der Pro Vita Außerklinische Intensivpflege GmbH (Bayern), ist ein auf außerklinische Langzeit- und Intensivpflege und Heimbeatmung spezialisierter Pflegedienst, tätig in ganz Deutschland sowie in Österreich (www.gip-intensivpflege.de).

Lelbach Holding GmbH

Die Lelbach Holding (Geschäftsführer und Namensgeber Abris Lelbach) ist einerseits Mutter des Elektroanlagenbauers Elpro GmbH, andererseits der GIP mbH, jeweils mit weiteren Tochtergesellschaften. Da alle Töchter in den Konzernabschluss einbezogen und von der Veröffentlichungspflicht befreit sind, hier nur zwei Zahlen aus dem Abschluss 2012: über 2 500 Beschäftigte, Umsatz 163 Mio. Euro. Der Berliner Tagesspiegel schrieb 2012 über Lelbach: Der Pflegebereich »macht inzwischen den Großteil seiner unternehmerischen Aktivitäten aus. Von den 2 500 Personen, die für Lelbachs Firmen arbeiten, sind rund 2 000 in der Intensivpflege beschäftigt.«