Vom Schicksal zur Geschichte

Wie Bewegungsgeschichte schreiben?

in (05.10.2014)

Das Vorhaben – Es geht um die Geschichte von Frauenbewegung und wie man sie schreiben kann, wenn man selbst Teil der Bewegung war. Können wir Maßstäbe entwickeln, die allgemein gültig sind oder doch zumindest für unsere Zwecke einer kritischen Frauen-Geschichtsschreibung Geltung haben? An tradierter Historiographie können wir uns selbst dann nicht orientieren, wenn sie marxistisch ist, weil wir schon wissen, dass die Geschichte der Frauen in keiner ›allgemeinen‹ Geschichte wirklich Platz nehmen konnte. In den Taten von Frauen scheint ein märchenhafter Geist zu hausen, der sie unsichtbar und unwesentlich macht, sobald sie zur Dokumentation für kommende Generationen aufgehoben werden sollen. Aber an der Frauenbewegung waren ja viele beteiligt, sie waren es weltweit und einige haben längst begonnen, die Geschichte aufzuschreiben. An ihnen können wir Maß nehmen und zugleich kritisch weiter Vorschläge für eine Frauengeschichtsschreibung entwickeln, die allgemein zu sein beanspruchen.

Für das Vorhaben, gegen das Vergessen und Verschweigen an Überlieferung zu schreiten, nehme ich mir stellvertretend Nancy Frasers jüngstes Buch vor, in dem sie die »Schicksale des Feminismus vom staatlich-regulierten Kapitalismus zur neoliberalen Krise«1 in eine feministische Zukunft nachzeichnet. Ihre zentrale Aussage ist, dass die Frauenbewegung aus der Ära des Sozialdemokratismus zu Anerkennungs- und Identitätspolitik fortschritt, bis sie im Neoliberalismus die kapitalistische Krise als Auftreffstruktur ihrer Politik neu fassen musste. Die Aufsätze aus einem Vierteljahrhundert treten dabei selbst als immer schon bereits gültiger und begriffener Ausdruck von Geschichte in ihrer Entwicklung auf. Ihr Vorhaben ist groß genug: Sie will der Entwicklung der feministischen Bewegungen seit den 1970ern nachgehen, um eine neue linke egalitäre Phase feministischen Denkens und Handelns einzuleiten. Das ist auf jeden Fall begrüßenswert, auch notwendig. So scheint es legitim, dass in dem Buch auch ihre schon bekannten Aufsätze in diesem Kontext gesammelt und wieder zugänglich gemacht sind: Sie selbst sind Zeugnisse des Wegs, den feministische Bewegung ging. Das stimmt natürlich nicht ganz. Die Aufsätze, geschrieben zwischen 1985 und 2010, sind ja ausschließlich die Eingriffe von Fraser selbst, sind also immer schon ihre Abbildung der Geschichte. Auch das ist legitim, nur wird ihnen eine im Nachhinein konstruierte Systematik unterlegt, als wäre diese das System der Geschichte selbst.

Wie anders? Die Texte haben einen historischen Kontext, antworten auf bestimmte Entwicklungen bzw. auf Theorien und Aktionen. Insofern ist zu erwarten, dass die Autorin selbst nicht allwissende Erzählerin von Geschichte ist und sein kann. Sie ist Zeitzeugin und zeigt die Dokumente ihrer eigenen Eingriffe in das Geschehen. Diese sind gut und nützlich zu lesen, denn Fraser schreibt in klaren und präzisen Worten, wenngleich man sich bei den vielen bestimmten Urteilen schon Raum für Zweifel und Bedenken gewünscht hätte und zumeist eine etwas literarischere Sprache. Das Merkwürdige ist aber, dass in diesem Geschichtslehrbuch sich jetzt der gesamte Prozess der historischen Frauenbewegung wie eine Erfindung von Nancy Fraser liest, nicht wie eine Entwicklung im Streit, mit vielfältigen Möglichkeiten und Akteurinnen. Mit der Thematik der ausgewählten Aufsätze ist vorentschieden, wenngleich im Nachhinein, wie die Geschichte laufen musste.

 

Erste Vorschläge

Das Problem ist ein allgemeineres. Wie schreiben wir als Aktivistinnen in der Bewegung über diese, ohne uns als Zentrum und alleinigen Motor zu imaginieren? Woher die Bescheidenheit nehmen, uns als bloß eine von vielen zu denken und zugleich so unbescheiden zu sein, die Bewegung historisch wichtig ins Gedächtnis zu schreiben? Es gibt da kein Rezept, wohl aber einen Vorschlag, den wir ins Bewusstsein holen wollen. Im Grunde treten wir doppelt auf: als Mitglieder der Bewegung und als Berichterstatterinnen. Das weist uns auch eine doppelte Aufgabe zu. Wir sind nicht nur uns selbst verantwortlich beim Schreiben, sondern eben auch der Bewegung.

Diese mutet uns zu, nicht nur unsere je eigene Auffassung zu Wort kommen zu lassen, sondern auch die Vielstimmigkeit und Vielfältigkeit, ja Widersprüchlichkeit der Bewegung selbst. Unser Bericht müsste das wiedergeben. Wie betreffen solch allgemeine Überlegungen uns als Autorinnen im Prozess? Da wir eigene Urteile, einen eigenen Standpunkt auch in der Bewegung haben, müssten wir die Reflexion unserer Urteile, Selbstkritik und Revision in den Bericht hineinnehmen, soweit möglich.

Die Schwankungen in der Bewegung lassen uns nicht unberührt. Mal schlagen wir uns weit auf eine Seite, mal auf eine andere. Wesentlich wird uns als Geschichtsschreiberinnen eine Haltung abverlangt, die eine Ethik des Aufhebens befördert. Darunter verstehe ich die Verpflichtung, im historischen Erbe nicht zensierend nach nicht hinterfragten Maßstäben auszuwählen und vieles wegzuwerfen, sondern allen Versuchen Raum zu geben, als käme es auf möglichst vollständige Überlieferung an. Verantwortung haben wir, eine innerlich zerrissene Bewegung so abzubilden, dass wir zugleich eine Kultur in der Zerrissenheit entwickeln, also an der Möglichkeit arbeiten, dass die vielen Unterschiedenen gemeinsam Gesellschaft gestalten können und wollen, ohne darauf zu bestehen, dass alle uniform ›integriert‹ werden. Das ist leichter gesagt als getan. Wir sollten es versuchen.

 

Frasers Geschichtsschreibung2

Mit diesen Vorannahmen wende ich mich dem genannten neuen Buch zur Geschichte der Frauenbewegung von Fraser zu. Alle Beiträge sind historische Parteinahmen in bestimmten Kontexten mit ausmachbaren Andersmeinenden. Wie in einem Theaterstück werden die Aufsätze als Drama in drei Akten arrangiert. Im ersten geht es um Kritik am »sozialdemokratischen Zeitalter«, was weiter lehrreich zu studieren ist.

Es geht um Habermas, wie er in seiner Analyse der Familie als Ort symbolischer Reproduktion und der des Ökonomischen als materieller vollständig übersah, dass Familien ebenso als Stätten der Arbeit, der Berechnung, des Tausches, der Ausbeutung betrachtet werden müssen und auf diese Weise nicht begriff, dass beide Orte beides sind, Kindergroßziehen ebenso wenig als bloß symbolisch aufgefasst werden kann und der ökonomische Bereich nicht bloß als materiell. Es gelte, das Ineinander der Bereiche zu analysieren und zu erkennen, wie die »Schutz-/Angewiesenheitsstruktur« alle Bereiche durchziehe. Habermas habe nicht gesehen, wie die »Rolle des Kindergroßziehens« alle Bereiche von öffentlich-privat verbindet und daher nicht erkannt, dass »die Konstruktion maskulin- und feminin-geschlechtlicher Subjekte benötigt wird, um alle Rollen im klassischen Kapitalismus auszufüllen« (38). Fraser schlägt am Ende vor, die Bereiche des Ökonomischen (mit Arbeit, Konsum und Lohn) und des Politischen (mit dem Staatsbürger) auf geschlechtstypische Effekte zu überprüfen und durch Verschiebung der Ordnung in Richtung auf Überwindung von Frauenunterdrückung Gesellschaft zu verbessern – z.B. das Kindererziehen als politisch zu begreifen und die Verteilung der Rollen also politisch zu bestimmen. Sie will auf diese Weise auch die für sie »krampfhaften« Bestimmungsversuche um Klasse und Geschlecht, Kapitalismus und Patriarchat und die entsprechenden Debatten in der Frauenbewegung aus ihren lähmenden Antagonismen lösen (sie versteht ihren Beitrag als Antwort auf die ›dual economy debate‹, vgl. dazu meine Auseinandersetzung mit Frasers Habermaskritik im Stichwort Geschlechterverhältnisse, HKWM 5, 522-24).

Weitere Beiträge handeln von Bedürfnissen, vom Wohlfahrtsstaat und vom Familienlohn. Die kundige Fraser bleibt jedenfalls Siegerin in der Geschichtsdeutung. Denn die Widerrede war ja im jeweiligen Aufsatz bereits überwältigt, etwa die Hoffnung von Habermas, im Sozialen der Familie Gegenkräfte gegen kapitalistische Kolonisierung zu finden. Gerade weil Frasers Kritik überzeugend ist, sieht man nicht mehr, dass an der Durchdringung der »Lebenswelt« durch die »Systemwelt« auch für feministische Politik etwas zu gewinnen war. Im Gesamtdurchgang erfährt man eher die gesamte feministische Politik als Irrweg, über dessen Ungenügen die Autorin schon immer Bescheid wusste.

Man könnte die Beiträge auch als Lehrstück in Rechthaberei lesen, wäre dies nicht selbst unfruchtbare Rechthaberei. Es wäre auch ungerecht. Denn selbst in der Nachzeichnung des Sieges finden sich ja die brauchbaren Zeugnisse der Unterlegenen, wie Peter Weiss am Pergamonaltar in seiner Ästhetik des Widerstands eindrücklich vorführt. So etwa legt Fraser am Wohlfahrtsstaat mit scharfen Belegen klar, dass der Schutz, den der Staat den Hilfe Bedürftigen, vor allem den Frauen angedeihen lässt, nur die Kehrseite ist ihrer Fesselung, ihrer Kontrolle, ihrer Domestizierung.

Exkurs: Ich erinnere Frasers Auftritt im Hamburger Institut für Sozialforschung Mitte der 1980er Jahre, als wäre es nicht vor 30 Jahren, sondern ganz kürzlich gewesen, als sie den versammelten führenden Feministinnen aus aller Welt verdeutlichte, wieso es sehr bedenklich ist, sich mit dem Staat hilfesuchend einzulassen. Sie war die Jüngste von allen und verkündete mit selbstbewusster klarer Stimme ihre Thesen. Sie traf auf uns Ältere, die wir in dieser Sache äußerst zwiespältig dachten und unbequem uns um eine Entscheidung gedrückt hatten. Zwar empfanden wir es aus protestantischer Erziehung als ehrenrührig, überhaupt staatliche Hilfe anzunehmen, fühlten Armut als Schande und als ein Zeichen von Schwäche, die man nicht zugeben durfte – eine Haltung, die bis heute viele ›Berechtigte‹ davon abhält, Wohngeld und Hartz IV überhaupt einzufordern. Aber wir waren in der Bewegung auch schon andere geworden, die ausgezogen waren, das gute Leben als Menschenrecht für alle Frauen einzuklagen und daher unsere Forderungen an einen Staat richteten, den wir zugleich aus unserer marxistischen Lektüre als Staat der Herrschenden, also auf der Gegenseite wussten. In dieser nicht klar durchdachten und gefühlsmäßig widersprüchlich besetzten Gemengelage traf Frasers klares Urteil über die Schädlichkeit des Wohlfahrtsstaates für Frauen auf fruchtbaren Boden. Sie war die Stimme, die wir brauchten, um weiterhin gegen den Staat zu streiten, weil wir auch seinen Wohltaten gründlich misstrauten. Insofern stärkte Fraser in diesem Moment eine Entschlossenheit in der Politik, wo undurchdachter Wankelmut uns schwächte. Zugleich aber war dies auf lange Sicht keine mögliche Haltung und Politik, sondern wir hätten schon damals über die Widersprüche im Staat arbeiten müssen, statt, jetzt der Skrupel ledig, Fraser einfach zu folgen.

Wäre es dagegen nützlich gewesen, darauf zu bestehen, dass Hilfe dennoch überlebensnotwendig war und ist? Da Frasers Aufdeckung des Schädlichen in der staatlichen Wohlfahrt überzeugend gelang, sind wohl beide Positionen relevant.

Es hilft nicht, sich auf eine Seite zu schlagen. Notwendig wird eine andere, nennen wir sie eine dialektische Denkweise, die es für möglich hält, dass sich die Dinge dauernd verändern und dass wir selbst Teil dieser Veränderung sind, auch im Denken. Notwendig ist auch, sich jeweils über Standpunkt und Perspektive klar zu sein, überhaupt eine Perspektive, ein Fernziel zu haben und die Schritte dorthin beweglich auszurichten. So käme uns vor Augen, dass diese vielen Schäden, die der in der großen Krise verschärfte Abbau des Wohlfahrtsstaates anrichtet im Leben der Ärmeren, und ihre dramatisch zunehmende Zahl keineswegs mit dem Beweis seiner Schädlichkeit erledigt sind, sondern Hilfsbedürftigkeit bleibt und wächst, dass Forderungen an den Staat zu richten sind, mit Vereinnahmung und Fesselung gerechnet werden muss und eine Politik anzuzielen ist, die beweglich sowohl auf Verteilungsgerechtigkeit gerichtet ist, als auch weiß, dass die Probleme tiefer liegen und Freiheit nichts ist, was einfach gefordert werden kann, sondern im Kampf um sie erst die Stärke und Möglichkeit erwächst, sie überhaupt wahrnehmen zu können.

 

Zweiter Akt: Die Wende ins Gezähmte

Wie kam eigentlich historisch eine Wende in die Frauenbewegungsforderungen und feministische Politik? Wir sind beim Eintritt in den zweiten Akt, den Fraser als »gezähmten Feminismus« bezeichnet: von der Verteilung zur Anerkennung, zur Identitätspolitik. Es geht um die 1990er Jahre. Zeitgemäß diskutierte Fraser damals den Einfluss von Lacan in feministischer Politik, die Erkenntnis, dass Geschlechtergerechtigkeit mehr als die Dimension der Gleichheit hat, und natürlich Judith Butler.

Als Feministin kam man in den 90ern kaum umhin, die Wendung zur Psychoanalyse auf der einen und den Einfluss Judith Butlers auf der anderen Seite zur Kenntnis zu nehmen. Sich damit auseinanderzusetzen bleibt historisch wichtig, kam doch mit Lacan die Frage der sexuellen Differenz noch einmal auf die Tagesordnung und mit Butler beinah umgekehrt der energische Impuls, nichts so einfach für natürlich zu halten. Die Wendung bekommt einen seltsamen Beigeschmack, wenn die Kritik etwa an Butler als Entwicklungsgeschichte von Bewegung und Feminismus behauptet wird. Denn sie deutet nicht einmal an, dass Frauenbewegung in der Folge der Krise des Fordismus gewissermaßen weggetaucht war und dass dann nach der Selbstaufgabe der sozialistischen Länder ein intensives Studium um die Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse aufgenommen wurde, das Fragen der Hegemoniegewinnung, des Kulturellen, der Diskurse, kurz der Reproduktion von Herrschaft auch durch die Regierten einschloss.

Das Fehlen solcher historischer Analyse steht dem angestrebten Ziel im Weg, ein zeitgeistiges Projekt in der kapitalistischen Krise im neoliberalen Zeitalter vorzulegen. In Frasers eigener Schreibgeschichte ist Zentrum der Beitrag Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte, der mit großem Echo sogleich in mehrere Sprachen übersetzt wurde (auch auf Deutsch erschien) und als endlich erfolgte Mahnung, gegen all das Geschwätz von Kultur und Bedeutung, zur Ökonomie zurückzukehren, angekündigt wurde. Freunde schickten ihn mir gleich nach seinem Erscheinen in New Left Review (2009) mit der Sicherheit, dass dies genau meinem marxistisch-feministischen Anliegen entspräche. Seine Lektüre hinterließ mich zunächst aufgeregt ratlos. Es ging mir ähnlich wie zuvor bei der Kritik am Wohlfahrtsstaat: Ich fand die einzelnen Sätze und ihre Beweisführungen zugleich richtig und falsch. Das verlangte nach eingehender Auseinandersetzung Satz um Satz. Ich stellte mich dieser Aufgabe, zumal der Aufsatz in dem von da an mit Lust kolportierten Lehrsatz gipfelte, dass der Feminismus der »Steigbügelhalter des Neoliberalismus« sei. Das konnte nicht unwidersprochen bleiben, und dennoch musste solidarisch aufgehoben werden, was an wesentlicher Erkenntnis zu gewinnen war. Bedauerlicherweise hatte Nancy Fraser, die ich sogleich anschrieb, um ihren Beitrag zu übersetzen und für die Diskussion im Argument zu veröffentlichen, den Text schon an die Blätter für deutsche und internationale Politik gegeben, sodass die mir einzig mögliche Form in diesem Fall, eine strenge Lektüre am Material vorzulegen, nicht gegangen werden konnte. Mein damaliger Versuch der Kritik musste sich daher zugleich ins etwas Allgemeinere vom Ausgangstext lösen als auch nahe genug bleiben. So liest er sich ein wenig wie ein Schattenboxen.

Er ist nachzulesen unter dem Titel »Feministische Initiative zurückgewinnen – eine Diskussion mit Nancy Fraser« (Argument 281/2009, 393-408). Er enthält vor allem die für den Umgang mit Geschichtsschreibung über Feminismus und Frauenbewegung aufzuhebende Erkenntnis, dass diese Geschichte nicht als Denkgeschichte zu schreiben ist. Sie bewegt sich verbunden mit Frauenbewegung und -befreiung im historischen Prozess nicht nur in bestimmten Produktionsverhältnissen – das ist Frasers Anspruch –, sondern auch auf der Grundlage bestimmter Produktivkräfte. So wenig der Wohlfahrtsstaat und der Familienlohn ohne die Grundlage des Fordismus zu begreifen sind, so wenig also Massenproduktion, Fließband, ein wenig Teilhabe am erwirtschafteten Reichtum und staatlich gestützte Kontrolle des Konsums (der ja bei Massenproduktion auch massenhaft zu steigern war), so wenig kann der Niedergang der Frauenbewegung bei gleichzeitiger Einlösung einiger ihrer Forderungen – wie Anerkennung der Hausarbeit – begriffen werden, wenn man nicht gleichzeitig den Wechsel in den Produktivkräften – den Aufstieg des Computerzeitalters – in die Analyse einbezieht. Zu erkennen war auch, dass der Neoliberalismus des männlichen Ernährers nicht nur nicht mehr bedurfte, sondern selbst längst begonnen hatte, die Kleinfamilienexistenz zu zerstören, gegen deren Fesseln die feministische Bewegung – etwa mit der Hausarbeitsdebatte – ihre Kämpfe gerichtet hatte. In dieser Weise war die Bewegung als historische Akteurin im Zeitgeist.

 

Letzter Akt: Emanzipation

Der neueste Aufsatz ist von 2010.3 Er muss die Ernte einbringen für das versprochene neue Projekt des »Wiedererwachens« von Feminismus. – Frasers Sprachspiel vom »insurgent« (dem aufständischen Feminismus im ersten Akt) zum »resurgent« (im letzten) ist im Deutschen nicht als solches wiedergebbar. – Da dies der einzige Beitrag ist, der noch nicht bekannt ist (auch noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde), referiere ich ihn etwas ausführlicher. Fraser verspricht, gegen das Schwanken der Feministinnen zwischen Marktbejahung und sozialem Schutz, ein stabiles Projekt mit Zukunft vorzuführen. Ihr Ausgangspunkt ist die Diagnose, dass die Kritik kapitalistischer Gesellschaft aus feministischer Theorie verschwand, dies aber angesichts der großen Krise des Kapitalismus nicht länger hinnehmbar sei. Der Nachholbedarf an ökonomischer Theorie eröffne zugleich die Möglichkeit, eine kapitalismuskritische Theorie zu entwickeln, die nicht-ökonomistisch die Fragen von Feminismus, Ökologie, Multikulturalismus und Postkolonialismus einbeziehe in Richtung auf eine gesellschaftliche Transformation (227). Für dieses Unterfangen empfiehlt sie die Wiederlektüre von Karl Polanyi (1944). In seinem Krisenverständnis betone er außerökonomische Faktoren, die Vermarktlichung des Sozialen und das Zur-Ware-Werden (commodification) von »Arbeit, Land und Geld« (228), »Natur« (229). Sie knüpft an Polanyis Diagnose an, dass die Destruktivität dieser Entwicklung die Gegner in einer Doppelbewegung in Protektionisten des Sozialen und Befürworter des freien Marktes gespalten habe, was letztlich zu politischer Stagnation und schließlich zu Faschismus und Zweitem Weltkrieg geführt habe. Das Verknüpfungspotenzial dieser Theorie, »sie webt lokalen Protest, nationale Politik, internationale Angelegenheiten und globale Finanzregime zu einer kraftvollen historischen Synthese zusammen« (228), müsse Ausgangspunkt für den neuen Feminismus sein. Dabei sei Polanyis Fokus, die soziale Reproduktion, auch wenn er selbst diesen Begriff nicht verwende, für Feministinnen der zentrale Eingriffspunkt.

Sein Theorem der Einbettung und Entbettung schließe die sozialen Bindungen ein und liefere damit die Vorarbeit, die kapitalistische Krise als eine der sozialen Reproduktion zu verstehen, wie dies in den Diskussionen über die Care-Krise gemeint sei.4 Der Effekt sei damals wie heute die Zerstörung von Lebensweisen, Natur und Gemeinschaften. Gegenbewegungen, welche die Gesellschaft vor dem Markt schützen wollen, tauchten wieder auf.

Gegen eine allzu schnelle feministische Übernahme von Polanyi wendet Fraser ein, dass er ausschließlich die Schäden entbetteter Märkte analysiere, alle Ungerechtigkeit, die mit dem Markt nichts zu tun habe, sondern mit Formen sozialen Schutzes, die zugleich Herrschaft festigen, bekämen auf diese Weise einen Persilschein. – Man erinnert ihre weiter oben diskutierte, dann zusammen mit Linda Gordon verfasste Polemik gegen den Wohlfahrtsstaat von 1989 (wieder aufgenommen in dieses Buch, 83-110). – Ihr Ziel ist es jetzt, eine eigene neue, Polanyi angenäherte Krisentheorie zu entwickeln, die sowohl den Ökonomismus vermeidet wie eine »Romantisierung von Gesellschaft«. Dafür schlägt sie vor, ein weiteres historisches Projekt »sozialen Kampfes« hinzuzuziehen: »Emanzipation« (230). Sie soll das fehlende Dritte liefern, das jeden Konflikt zwischen Vermarktlichung und sozialem Schutz vermittelt. Dadurch werde die Doppelbewegung in eine dreifache gebracht, die Markt, Schutz und Emanzipation verbinde (30).

Sie skizziert einführend Polanyis Überblick über die Einbettung der Märkte durch Setzung von meist staatlichem Schutz mit entsprechenden Normen und erinnert an seine Diagnose, dass die Entbettung in selbstregulierte Märkte unvermeidlich soziale Krisen hervorrufe. Seine Perspektive sei die Wiedereinbettung im demokratischen Wohlfahrtsstaat (237), um die Ökonomie an den ihr gemäßen Platz zu verweisen (231). Lernen könne man, Krise als intersubjektiven Prozess zu fassen, Märkte nicht als solche abzulehnen und also nicht entweder »neoliberal« oder »kommunistisch« zu sein. Als Mangel nennt sie, dass Polanyi die Befreiungsdimension in der Entbettung nicht gezeigt habe, auf die hin alle Kämpfe gegen Herrschaft studiert werden müssten. Hier wären die Erkenntnisse von Feministinnen als Ressource zu nutzen.

Wenngleich Polanyi den Term Emanzipation nicht verwende, habe es zu seiner Zeit Emanzipationskämpfe gegeben – gegen Sklaverei, für Frauenbefreiung, gegen Kolonialismus. Diese nimmt sie als Beleg, dass Markt und Plan keine notwendigen Antinomien seien, und Polanyi mit ihrer Kenntnis ein duales Konzept in seiner Erzählung der großen Transformation hätte vermeiden können. Seine zentrale Kategorie des Sozialschutzes unterscheide sich maßgeblich von Emanzipation, man sehe es an ihrem jeweiligen Gegenpol: bei sozialem Schutz Ausgesetztheit, bei Emanzipation dagegen Herrschaft. Während das eine gegen desintegrierende Effekte abschirme, lege das andere alle Herrschaft bloß, sei es in der Gesellschaft oder in der Wirtschaft. Ziel von sozialem Schutz sei soziale Sicherheit, Stabilität und Solidarität, Ziel von Emanzipation sei Herrschaftslosigkeit (233). Vermarktlichung befreie Kauf und Verkauf von Normen und Ethik, gebe Wahlfreiheit und Effektivität, Emanzipation urteile vom Standpunkt der Gerechtigkeit, der auch modifizierend in den Marktmodus eingreifen könne, aber nicht notwendig seine Abschaffung befördere. Polanyis Theorie müsse also in eine dreifache Bewegung transformiert werden (234). Jede der drei Kräfte Markt, Sozialschutz und Emanzipation sei mit den anderen beiden verquickt (235) und müsse in dieser Spannung begriffen werden. Zusammen bildeten sie die Grammatik sozialer Kämpfe in der kapitalistischen Krise (236). Polanyi habe die emanzipatorische Kraft vernachlässigt – die feministische Bewegung dagegen habe übersehen, dass Sozialschutz und Emanzipation über den Markt vermittelt würden.

Ausführlich spielt sie durch, dass die Spaltung in Marktanhänger und Protektionisten vermieden werden könne, wenn jede Seite mit der Frage der Emanzipation verknüpft werde und unterstreicht so auch noch einmal ihre These, dass die Feministinnen dem Neoliberalismus in den Steigbügel verholfen hätten. Gefangen zwischen Schutz und Emanzipation konnten die Feministinnen nicht sehen, dass der Neoliberalismus mit seiner Marktfreiheit ihren Handlungen Krisenfolgen gab.

Unter der Überschrift Feministische Ambivalenzen buchstabiert sie noch einmal durch, was zu gewinnen ist, wenn die Dreifachverknüpfung von Sozialschutz, Marktfreiheit und Emanzipation als Erkenntnisrahmen genutzt werde; erinnert noch einmal an ihre Entdeckung, dass im Familien- oder Ernährerlohn bzw. im feministischen Protest dagegen der neoliberalen Absage an alles Soziale die Legitimation verschafft wurde (238, 240). Umgekehrt normalisiere jeder Kampf um einen Anteil am Sozialschutz (Wiedereinbettung) Frauenabhängigkeit, verdunkle die Existenz unbezahlter Care-Arbeit. Auf der anderen Seite führe der Kampf um volle Eingliederung von Frauen in die Lohnarbeit dazu, den feministischen Kampf gegen Geschlechterhierarchie zur Stützung von Vermarktlichung zu nutzen (239).

Als Lösung aus dem Dilemma unguter Allianzen schlägt sie vor, Emanzipation mit Sozialschutz zu verbinden: die Überbewertung der Erwerbsarbeit und Unterbewertung der unbezahlten als androzentrisch zurückzuweisen (239) und dafür zu streiten, beide Bereiche als wesentlich anzuerkennen. Abhängigkeit und Unabhängigkeit seien neu zu bestimmen, und solcherart müsse die Kritik am Sozialschutz diesen nicht auflösen, sondern transformieren. Jeder einseitige Bezug auf nur eine der drei Kräfte führe zu sozialen Katastrophen, wie zu erfahren sei an der Zunahme der Zweiernährerfamilie mit negativen Folgen für die Lebensweise, am allgemein sinkenden Lohnniveau und Lebensstandard, an der Abnahme an Arbeitsplatzsicherheit, der Arbeitszeitverlängerung gepaart mit Minijobs (240).

Sie resümiert, es sei ihr durch Einsetzung des fehlenden Schlusssteins – der Emanzipation – gelungen, Polanyis Projekt neu zu schreiben, seine polare Konstruktion von Ein- und Entbettung zu überwinden. Ihr Plädoyer lautet: dass wir, die wir für Frauenemanzipation streiten, uns bewusst sein müssen, dass wir auf einem Terrain sind, das von Marktkräften besetzt ist, die Verbindung mit ihnen brechen und eine neue Allianz mit sozialem Schutz suchen müssen, indem wir unser altes Interesse an Emanzipation ins Spiel bringen. Resultat sei ein tieferes Verständnis von sozialer Gerechtigkeit, das Polanyi ehrt und zugleich seine blinden Flecken entfernt (241).

 

Zweifel und Verstörung

Dieser Beitrag, der die verstreuten Interventionen in ein Werk mit gemeinsamer Botschaft heben soll, ist verblüffend. Es ist fruchtbar, polare Konstruktionen in eine dynamischere Spannung zu setzen, aber es verwundert, dass Emanzipation als Maßstab so spät ganz neu hinzutritt, da diese doch geradezu ein Synonym für alle Kämpfe sozialer Bewegungen und erst recht der Frauenbewegung von Anfang an ist.

Die Lektüre ist für mich entsprechend verwirrend. Immerzu möchte ich innehalten und korrigierend die allzu einfachen Feststellungen durch ein wenig Geschichtserinnerung oder wissenschaftliche Redlichkeit ins Wanken bringen. Das gilt zunächst für die Wiedergabe von Polanyi, der nur als einer vorkommt, der die ins Abseits geratenen Marktkräfte verträglicher wieder einbetten möchte. Es gilt der Absage an die Theorien von den Selbstregulierungskräften des Marktes, die ja nicht bloß Theorie, sondern sich selbst widerlegende Praxis aufweisen können. Es gilt vor allem der Weise, wie Emanzipation als Vermittlungskraft auftaucht, wie Deus ex machina und in einem die Frauenbewegung an eine Stelle katapultiert, wo sie gleichrangig mit Markt und Staat ein gemeinsames Konzert veranstalten könnte. Es gilt auch der Methode der Theorisierung, bei der Begriffe für historische Vorgänge wie Einbettung und Entbettung sich munter verbinden mit menschlichem Verlangen, hier dem nach Emanzipation.

Das Unorthodoxe an Frasers Vorgehen macht die Frage fast ungehörig, warum sie, wenn sie diesen Fokus auf Emanzipation als krönenden Schlussstein vorschlägt, gar kein Studium von Befreiungsbewegungen und -theorie vornimmt. Ebenso wenig interessieren sie Theorien und Analysen von Herrschaft, aus der sich befreien zu wollen, als eine Art Gradmesser für das Quantum an Sozialschutz und an Freiheit von tradierten Fesseln auf der anderen Seite, es gehen sollte. Die Desiderate sind zu viele, sie können kaum billig in einem einzigen Aufsatz erfüllt werden. Sie tun dies aber auch nicht in der Summe der neun anderen in diesem Buch, das dem Feminismus ein leuchtendes Befreiungspotenzial für sein Wiedererwachen verspricht.

Befreiungstheoretiker, die einem als erste beim Stichwort Emanzipation einfallen würden – Marx und Engels, Luxemburg, Gramsci und die vielen anderen auf der Seite der Sozialisten und Kommunisten – kommen nicht vor. Aber auch die Französische Revolution und ihre Ziele, an die anzuknüpfen wäre bei Emanzipation, spielt keine Rolle, wenngleich ein Widerschein im Freiheitsverlangen des Marktes, in der Forderung nach Solidarität und Gleichheit erinnert sein könnte. Auch Aufklärung gibt es als Andeutung, wenn auch schon fast in Negation in ihrer Einfassung in ökonomische Vernunft. All dies wäre vielleicht nicht abzufordern von einer Theoretikerin, die sich wesentlich mit Gegenwart im globalen Neoliberalismus befasst, in dem es ohnehin nur Gegenwart gibt, keine Zukunft, keine Vergangenheit. Aber will Fraser nicht doch Zukunft, indem sie für eine reichere freiere Fassung von Sozialschutz gepaart mit Gerechtigkeit plädiert und sich stützt auf Vergangenheit, wenn sie aus dem Schatz der Frauenbewegung zu schöpfen vorschlägt?

 

Weitere Lehren für das Schreiben von Bewegungsgeschichte

Auf der Suche, für das Projekt Frauenbewegungsgeschichte von Fraser zu lernen, lasse ich alle beunruhigten Fragen beiseite und konzentriere mich auf ihre eigene Geschichtsschreibung. Sie skizziert, dass feministische Theorie kapitalismuskritische Vorstellungen verabschiedete (227), dass die Bewegungsfrauen gegen die Bevorzugung von »Arbeitern« (gegenüber Frauen und Kindern) in der Sozialversicherung und für Mütterrenten stritten, erinnert die Kritik am Familienlohn, die damit verbundene Vorstellung vom Ernährer und der Frau als Zuverdienerin und fasst zusammen, dass gerade der Familienlohn die ethische Substanz hergab für den Wohlfahrtsstaat mit der Wiedereinbettung des Marktes mit den Folgen eines androzentrischen Begriffs von Familie und Arbeit und naturalisierter Geschlechterhierarchie, die auch die unbezahlte Sorgearbeit verbarg (238). Sie schließt, diese Kritik sei theoretisch stark gewesen, wenngleich ambivalent aus den schon aufgeführten Gründen, weil die einzelnen Punkte im Effekt jeweils im vielleicht ungewollten Ziel landeten, da sie ihr Gegenteil nicht rechtzeitig genug reflektierten.

Meine Hoffnung, jetzt die versprochene Aufarbeitung der Geschichte der Frauenbewegungsforderungen zu erhalten, um aus vergessener Stärke Elemente für eine neue Gesellschaft zu gewinnen, Bausteine für eine große Transformation, steht frustriert vor der kleinen Skizze feministischen Verlangens. Zwar sind die einzelnen hier aufgeführten Posten – Rente, Versicherung, Lohn, Zuverdienerin usw. – nicht einfach frei erfunden, jedoch sind sie kaum mehr als eine bis auf die Knochen abgemagerte Form eines Teils von Frauenforderungen, wie sie sich in den Programmen parlamentarischer Parteien finden, die auch noch etwas für Frauen tun zu müssen glauben.

Aus der Frauenbewegung und ihrer Geschichte haben sie den Geist der Emanzipation verloren. Dabei ist es zutreffend, dass der Ernährerlohn die Bewegungsfrauen in Zorn versetzte, stand er doch für das Familienmodell, in dem eine Hausfrau für Wohl und Wehe der Familienmitglieder und ihres Konsums sorgte und die Erholung der Fließbandarbeiter gewährleisten musste, dass sie im Modus der Arbeit in der industrialisierten Massenproduktion überhaupt funktionieren konnten – psychophysisch. Ich habe an anderer Stelle vorgeführt (Argument 281/2009), dass Fraser es versäumt, die historische Entwicklung und vor allem die der Produktivkräfte der Arbeit einzubeziehen, deren Studium ihr offenbart hätte, dass das Kleinfamilienmodell mit dem männlichen Ernährer in der fordistischen Produktionsweise gedieh und mit deren Krise just in dem Moment selbst in Krise geriet, als die Frauenbewegung ihren Aufstieg begann. Kurz, die Frauenbewegung war mit ihrer Forderung gegen das Kleinfamilienmodell, die Nur-Hausfrau und den männlichen Ernährer an der Zeit, was sowohl ihren kurzen Erfolg als auch ihren Niedergang erklärt.

Auch wenn der zentrale Punkt ihres Bezugs auf Feminismus nicht weit genug ausholt, wesentliche Triebkräfte nicht wahrnimmt und von daher zu eigenartigen Schuldzuweisungen in Bezug auf den Neoliberalismus gelangt, nehmen wir doch ihre Aufforderung ernst, sich feministischer Geschichte zu erinnern, um so stärker in die Zukunft zu schreiten. Wenn es nicht die heute von den parlamentarischen Parteien umschichtig besetzten Felder von Rente und Lohn und Versicherung sind, die Frauenbewegungsgeschichte beseelten, was war es dann? Wir können an dieser Stelle solche Geschichtsschreibung, die durch tradierte Geschichte verdeckt oder erst gar nicht dokumentiert ist, nicht nachholen, doch aber wenigstens damit beginnen, einige Punkte aus der Seele der Bewegung hervorzuheben.

Beginnen wir spät in der französischen Revolution mit Olympe de Gouges, so galt ihre Hauptkritik dem Ausschluss der Frauen aus der Politik. Eine Gesellschaft, die nicht von Frauen öffentlich mitgestaltet wird, wird krank sein, weil sich der Beitrag der Hälfte der Menschheit in heimlicher, ja heimtückischer Weise, geltend machen muss. Von der ersten Frauenbewegung ist überliefert, dass es ihr um Eigentum, Erbrecht, Frauenwahlrecht gegangen sei. Virginia Woolf lesend, die sich dazu zählte, erfahren wir, dass es um den Umsturz der Gesellschaft ging, keinesfalls darum, so zu sein wie Männer, sondern um neue Sprache, neue Bildung, neue Umgangsformen, um eine Umkehrung von Werten. Die zweite Frauenbewegung, das ist die, auf die sich Fraser bezieht, erinnern wir selbst. Allem voran war es eine unerhörte Freilassung von Phantasie gepaart mit Aktion und eine Neuerfindung von Gesellschaft. Alles war so einseitig wie umfassend. Einige wollten die Gentechnologie für Frauen nutzbar machen und unterwandern, um das Joch der biologischen Reproduktion abzuschütteln – die feministischen Science-Fiction-Romane geben davon bleibendes Zeugnis. Überhaupt waren die reproduktiven Rechte ein Brennpunkt feministischen Protestes. Die Festung, gebaut mit Expertenwissen im Dienst von Herrschaft, das Frauen inkompetent hielt und über Jahrhunderte versklavte, wurde allseitig gestürmt, zuletzt durch eigene Gesundheitszentren, Frauenhäuser usw. Dies war eine Besetzung, die zugleich die Autoritäten ins Wanken brachte, alternative Weisen des Körperumgangs probierte und dabei auch ein Einfallstor schuf, durch das mit der staatlichen Unterstützung neue Abhängigkeit, neue Professionalisierung und schließlich Auslöschung Eingang fanden. In Deutschland galten die ersten Proteste, alle Proteste begannen weltweit in sozialistischer Bewegung, gegen die männliche Dominanz und Arbeitsteilung, die den Kampf für eine bessere Gesellschaft vertröstend auf die Zeit danach verschob. Hier und jetzt sollte der Vorschein schon gelebt werden. Die weiteren Kämpfe im Kulturellen sind kaum erinnerbar ohne Bezugnahme auf die Kraft, die durch die Lesbenbewegung kam. Sie brach aus wie ein Vulkan und gab den Boden ab für die Theorien um Geschlecht, um Heterosexualität, um deren Normativität. Das Aufregendste an der Bewegung war ihr Bewegungscharakter selbst, in dem die vielen, die nie öffentlich gesprochen hatten, die sich nichts zutrauten, die nichts zu können glaubten, plötzlich die in sich schlummernden Fähigkeiten zum Leben erweckten und in der Gemeinsamkeit ein vielfältiges Vermögen entdeckten und zusammenführten. Wollte man diese vieldimensionale und äußerst kraftvolle Geschichte aufschreiben, um sie zu beerben, würde man wiederum auf vielfältige je andere Erinnerungen und ihre Interpretation stoßen, jedoch bald als einigendes Band feststellen: Es ging immer um die Lebensweise, gegen deren Gängelung und Unterjochung, und darin fast zwangsläufig um die Besetzung des Politischen, darum, die eigene Befreiung in eigene Hände zu nehmen, um sie nachhaltig zu machen.

Nichts von alledem gehört zum Bestand, mit dem Fraser die neue große Transformation bewirken will. Allerdings bedenkt sie auch nicht, dass es Frauenbewegung als lebendige Bewegung derzeit gar nicht mehr gibt, sie selbst also erst zu neuem Leben kommen müsste. Doch können wir aus dem Vergessenen, aus dem Weggelassenen folgern: Es wird keine Transformation von Gesellschaft geben, wenn nicht aus der Geschichte gelernt wird. Es ist wichtig, die Emanzipationskämpfe zu studieren, um die Nahrung zu gewinnen, die das Feuer weiterträgt.

 

Weitere Lehren auf der Suche nach Wahrheit

Herausgefordert, selbst Geschichte zu schreiben und in den Prozess der Geschichtsschreibung kritisch einzugreifen, würde man wohl zunächst die Zeugnisse derer, die verloren haben, aufnehmen. Da dies ein kaum übersehbares Gewirr von Texten ergäbe, eine Kakophonie statt des wohlgeordneten Aufmarsches der Schriften einer Autorin, braucht es einen Filter, ein Suchgerät, etwas, das Haltbares findet, auch wo es nicht zum Zuge gekommen ist. Es bleibt also die Aufforderung, nach der Wahrheit zu suchen, ohne vorweg anzunehmen, es gäbe sie bereits, aufbewahrt in einem Schatzkästlein, das wir nur finden müssen mit entsprechend magischer Wünschelrute. In Ermangelung solcher Wunschwerkzeuge orientieren wir uns an einigen Wegweisern, die wir für überprüfbar halten und zugänglich für alle, wenngleich nicht ohne Mühe. Wahrheit also begreifen wir nicht als etwas, das schon vorhanden ist, sondern die Suche nach ihr als unerlässlich für die Geschichtsschreibung, die selbst nie mehr als eine Annäherung werden kann.

 

Menschen in Bewegung

Dass Fraser gewissermaßen am Ende ihrer Schriften auf die Frage der Perspektive von Bewegung, auf das Fernziel der Emanzipation stößt, für das sie keine andere Begründung findet, als dass sie es erfand, um die auseinanderstrebenden Kräfte von Markt und Staat produktiv zusammenzubringen, las ich zunächst als einen erstaunlichen Mangel an historischem Bewusstsein. Zumindest, so glaubte ich, hätte doch Rosa Luxemburg präsent sein können mit ihrer Entdeckung, dass Marx durch seine Kritik der politischen Ökonomie der chaotischen Tagespolitik eine Richtung, einen Kompass gab, ein Fernziel, an dem sich die alltäglichen Kämpfe um Verbesserung der Lebensbedingungen ausrichten konnten. Sie nennt das »revolutionäre Realpolitik«, deren unhintergehbare Begründung ist, dass die Menschen ihre Geschichte selber machen, sozialistische Politik demnach als zentrale Strategie verfolgen, die Gesellschaftsmitglieder instandzusetzen, die Gestaltung der Gesellschaft in eigene Hände zu nehmen; vom Geschick der Subalternität in die Geschichte als Bewusste, selbst Tätige zu kommen. Hier erst habe ich den Titel der Auseinandersetzung, auch mit Fraser, eingeholt, und hier auch fällt als zentrales Manko auf, dass die Akteurinnen von Frauenbewegung, an die das Buch von Fraser gerichtet ist, im gesamten Werk nur dann als selber Handelnde auftreten, wenn sie ›Falsches‹ tun, sich zu sehr in den Schutz des Staates begeben oder gar der neoliberalen Marktwirtschaft zuarbeiten. Als Emanzipationsbewegung fehlt ihnen in Frasers Konstruktion die emanzipatorische Perspektive.

 

Rezeption

Es gibt einige zornige Reaktionen von feministischen Autorinnen. Joan Sangster und Meg Luxton veröffentlichen eine umfassende Antwort (in Socialist Register 2013), die ihren Schwung aus der Empörung über die »Steigbügelhalterthese«, im Englischen »compatible bedfellows«, in Bezug auf den Neoliberalismus erhält, aber sich im Ganzen auf den Kern, die Weise, Frauenbewegungsgeschichte zu schreiben, konzentriert. Sie kritisieren die Vorstellung eines homogenen Feminismus mit einem klar auszumachenden Weg und plädieren stattdessen für eine Analyse der unterschiedlichen Feminismen im Zusammenhang mit dem welthistorischen Niedergang der sozialistischen Länder, der Krise des Fordismus, dem postfordistischen Akkummulationsregime und der schließlichen Naturalisierung von Markt und Kapitalismus mit dem Aufstieg des Neoliberalismus und in der Folge dem verschärften Überlebenskampf der Arbeiterklasse. Gegen Frasers Diagnose, dass die feministische Bewegung neoliberal geworden sei, halten sie, dass bürgerlich liberaler Feminismus diese Qualität immer besaß, aber schließlich gegen den sozialistischen Feminismus Hegemonie gewann (289). Sie kritisieren Frasers Texte als deterministisch und plädieren gegen eine bloße Ideengeschichte für eine kritische Geschichtsschreibung unter Einschluss der Akteurinnen. Die Komplizenschaft, so es eine gebe, sei nicht zwischen Feminismus und Neoliberalismus, sondern zu untersuchen sei, was am Feminismus sich zur Kooptation in den herrschenden Block eigne, und was warum verdrängt werde. Verf. führen vor, wie Fraser bloß die medial tradierte Legende eines einmütigen strahlenden Feminismus bis zur Komplizenschaft mit dem Neoliberalismus wiederhole, um im gleichen Zug die Verbindung von Emanzipation und Erwerbsarbeit zu kappen. Vom Standpunkt Kanadas und der USA weisen sie auch den Ernährerlohn als Zentrum feministischer Kritik zurück, da er niemals für die afroamerikanischen Familien, nicht für die kolonisierten Ureinwohner gegolten habe. In den Koordinaten von Kapital, Klasse, Rasse und Geschlecht skizzieren sie die Geschichte der Bewegung als eine, in der die meisten verlieren, einige in den herrschenden Block aufgenommen werden und Erfolg haben, im Wesentlichen als eine Geschichte zunehmender Verelendung des Sorgebereichs und der Vereinzelung der arbeitenden Bevölkerung inkl. der Frauen. Zentraler Gegenstand der Analyse hätten auch die wachsenden Klassenunterschiede zwischen den Frauen sein müssen, wie vor allem der Einbezug des Südens, also auch des antiimperialistischen Widerstands. Überhaupt plädieren sie dafür, den Widerstand und die Lage der Linken insgesamt ebenso wie die Analysen marxistischer Feministinnen in die Geschichtsschreibung aufzunehmen. Positiv könne man auf Fraser nur antworten um den Preis des historischen Vergessens von Frauengeschichte.

Die Abwesenheit von Frauenbewegung in den Interventionen von Fraser beklagt auch eine andere, sonst eher wohlwollende Kritik. Sie »verdunkele die wesentlichen Flügel und Spannungen in der zweiten Frauenbewegung« und zugleich damit auch die Lektionen, die eine Bewegung gelernt hat, für die sie zu schreiben vorgebe. »In ihrer Wegwerfbemerkung ›dieser oder jener aktivistische Flügel‹ sind wirkliche Fragen von Rasse, Sexualität, Vorrang und Ziel« begraben (»Kicking back, not leaning in«, Dissent Magazine, 29.12.13). Dieser Artikel begrüßt im Übrigen, dass Fraser schließlich den Feministinnen davon abrät, den Kampf um Arbeit zu führen und stattdessen auf gutes Leben und Zeit zu orientieren. Ihr Vorschlag, der in der Verteilung von häuslicher und Erwerbsarbeit auf beide Geschlechter auf der Basis von Arbeitszeitverkürzung und »politischer Partizipation« der Vier-in-einem-Perspektive ähnelt, vergisst allerdings den großen Lernprozess, den die Einzelnen mit sich vornehmen müssen, wollen sie die Umstände und sich selbst verändern, und deren Voraussetzung ist, dass die Entwicklung eines jeden Voraussetzung der Entwicklung aller ist. Im Wellnesscenter des Konsums wird der Aufruf nach gesellschaftlicher Veränderung bloße Phrase, wenn diese nicht als kollektive Arbeit und zugleich als Selbstzweckpraxis aufgenommen wird.

 

Den Auftrag annehmen

An dieser Stelle blicken wir noch einmal zurück auf den Durchgang durch Frasers Schriften, die Aufträge, die wir daraus für eine Bewegungsgeschichtsschreibung gewannen, ergänzt um diejenigen, die feministische Kritik an Fraser dazu schrieb. Letztere ermahnte uns, die Nord-Südfrage ebenso ernst zu nehmen wie die ideologischen Verhältnisse, kurz, Frauengeschichte in bestimmten Kräfteverhältnissen zu schreiben, ein Unterfangen, das immer größer wurde und nur kollektiv angegangen werden kann. Was aber war nach der Ausweitung der Frage auf Geschichtsschreibung in Klassen-, Rassen- und Geschlechterverhältnissen überhaupt aus der Kritik am Vorhaben von Fraser zu lernen, wenn wir unsere Maßstäbe auch an unseren Bericht über sie anlegen? Die Antwort offenbart ein Paradox. Frasers Analysen der wechselnden Staats- und Marktverfallenheit des feministischen Projekts, die als Endpunkt den Ausgangspunkt des Emanzipationsverlangens aufnahm, erregte allgemeines Aufsehen und brachte die Frauenbewegung lange nach ihrem Verschwinden erneut ins Gespräch. Es war bequem, ihr die Schuld an der Verbreitung des Neoliberalismus in die Schuhe zu schieben, obwohl das im Ernst sicher niemand glaubte.

Aber es erschien zugleich auch als schmeichelhaft, ihr, deren gesellschaftliche Ohnmacht jeder sehen konnte, eine so große Kraft zuzuschreiben. Einige Zeitungen und Zeitschriften nahmen das auf und diskutierten die These, die einen schadenfroh, die anderen zornig. Weil aber Fraser sich selbst als sozialistische Feministin bezeichnet (zuletzt ganz eindeutig in ihrer zusammenfassenden Zuspitzung all ihrer Thesen im Guardian News & Media 2013, dt. in Blätter für deutsche und internationale Politik unter dem Titel »Neoliberalismus und Feminismus: Eine gefährliche Liaison«, 12, 2013), brachte sie Sozialismus erneut ins Gespräch des Möglichen.

Hatten wir eingangs herausgearbeitet, dass Bewegungsintellektuelle selbstkritisch und vor allem für die ganze Bewegung verantwortlich, eine Kultur in der Zerrissenheit erarbeiten müssten, so geschieht dies nicht durch Fraser und geschieht zugleich doch. Denn was sie bewirkte, ist ohne Zweifel, dass sich aus der Lähmung der 90er Jahre nach dem Untergang der sozialistischen Länder die vielen aufgebrachten Feministinnen wieder aufmachen, herausgefordert, ihre Einseitigkeiten nicht stehen zu lassen, das Vergessene einzuklagen, zu sehen, dass sie ihr Geschick in eigene Hände nehmen müssen, kurz in die Geschichte selbstbewusst wieder eintreten.

 

1 Fraser, Nancy, Fortunes of Feminism. From State-Managed Capitalism to Neoliberal Crisis,

London 2013

2 Übersetzung von Fraser durch F. Haug

3 Er wurde zunächst 2010 auf Französisch veröffentlicht in der Zeitschrift Revue de l’OFCE 114.

4 Hier bezieht sie sich, wie im angelsächsischen üblich, ausschließlich auf dort geführte Debatten von Bakker, Gill, Hochschild und Federici mit ihrer Anknüpfung an die Hausarbeitsdebatte als einer, in der es um Lohn gegangen sei.

 

 

© DAS ARGUMENT 308/2014, S. 341-355