Machtkampf in der Ukraine – ein Nachschlag

Der Autor dieser Zeilen veröffentlichte in BIG Nr. 2/2014 einen Beitrag über den Hintergrund der Ukraine-Krise. Der Artikel endete mit der Annexion der Halbinsel Krim durch Russland. Seitdem ist die Situation weiter eskaliert und die Prognose von Mitte April, dass die Ukraine wohl am Rande eines Bürgerkrieges stehe, hat sich auf grausige Weise bewahrheitet. Da bei den meisten deutschen Medien an die Stelle einer sachlichen Berichterstattung eine unverhohlene Kriegsrhetorik trat, entschloss sich die Redaktion zu einem Nachschlag. Der folgende Artikel behandelt die Ereignisse vom Ausbruch des Bürgerkrieges bis zum Inkrafttreten des Anfang September geschlossenen Waffenstillstands.

Teil 1: Machtkampf in der Ukraine

Der Autor dieser Zeilen veröffentlichte in BIG Nr. 2/2014 einen Beitrag über den Hintergrund der Ukraine-Krise. Der Artikel endete mit der Annexion der Halbinsel Krim durch Russland. Seitdem ist die Situation weiter eskaliert und die Prognose von Mitte April, dass die Ukraine wohl am Rande eines Bürgerkrieges stehe, hat sich auf grausige Weise bewahrheitet. Da bei den meisten deutschen Medien an die Stelle einer sachlichen Berichterstattung eine unverhohlene Kriegsrhetorik trat, entschloss sich die Redaktion zu einem Nachschlag. Der folgende Artikel behandelt die Ereignisse vom Ausbruch des Bürgerkrieges bis zum Inkrafttreten des Anfang September geschlossenen Waffenstillstands.

Nationalistische Exzesse und Flucht nach Osten

Die faktische Machtübernahme durch faschistoide Milizen in den meisten Städten der West- und Zentralukraine wurde von einer Welle von Verfolgungen der Anhängerschaft des gestürzten Präsidenten Janukowitsch, von Kommunisten und anderen organisierten Linke flankiert, die man pauschal mit dem längst untergegangenen Sowjetsystem in einen Topf warf. Gewählte Abgeordnete der Kommunistischen Partei wurden in der Kiewer Rada, dem ukrainischen Parlament, körperlich angegriffen und am Reden gehindert, Büros linker Organisationen gestürmt und verwüstet. Es gab eine ganze Reihe von Morden und Mordanschlägen.

Am bekanntesten ist das Massaker in der Hafenstadt Odessa, wo am 2. Mai 2014 eine Horde eigens herangekarrter Rechtsradikaler unter Duldung der örtlichen Polizei ein Camp unbewaffneter Demonstranten angriff und verwüstete. Nachdem ein Teil der Angegriffenen sich in das benachbarte Gewerkschaftshaus geflüchtete hatte, wurde dieses von den Rechten belagert und in Brand gesetzt. Aus den Fenstern des in Flammen stehenden Hauses flüchtende Demonstranten oder auch gänzlich unbeteiligte Gewerkschaftsangestellte wurden zusammengeschlagen, zum Teil totgetrampelt. Andere Überlebende wurden von der Polizei festgenommen, in den nächsten Tagen allerdings auf Druck der Bevölkerung wieder aus dem Gewahrsam entlassen. Nach offiziellen Angaben kamen bei dem Massaker46 Menschen ums Leben; die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen. Der Bürgermeister von Odessa begrüßte das Vorgehen der Rechtsradikalen und sanktionierte den Sturm auf das Gewerkschaftshaus. Die Kiewer Übergangsregierung erklärte die Geschehnisse als Folge einer Provokation des russischen Geheimdienstes. Die russischsprachige Bevölkerungsminderheit stand unter Schock.

Zahlreiche der an Leib und Leben Bedrohten flohen in der Folge in die mehrheitlich russischsprachigen östlichen Grenzregionen, wo der ukrainische Nationalismus über keine nennenswerte Basis verfügt. Mit faktischer Außerkraftsetzung der Rechtsstaatlichkeit in weiten Teilen der Ukraine verlagerten auch die Reste der ukrainischen Linken ihre Aktivitäten in den östlichen Landesteil.

Die "Volksrepubliken" Donezk und Lugansk

Die nach dem Umsturz von Februar 2014 hochgeschwappte Welle von ukrainischem Nationalismus rief eine gleichfalls nationalistische, mit Sowjetnostalgie gepaarte Welle bei der russischsprachigen Bevölkerungsminderheit hervor. Zumal diese es mehrheitlich nicht einsieht, wieso sie erneute neoliberale Plünderungsorgien über sich ergehen lassen soll, während es im benachbarten Russland seit Jahren langsam aber stetig wieder bergauf geht. Öl ins Feuer gossen Politiker der Übergangsregierung durch Verabschiedung diskriminierender Gesetze; so sollte in dem faktisch zweisprachigen Land die Verwendung der russischen Sprache bei Amtsgeschäften künftig untersagt sein. Dies musste später wieder zurückgenommen werden.

In den östlichen Industriemetropolen Donezk, Lugansk und Dnepropetrowsk sowie umliegenden Städten kam es zu einer Welle von Demonstrationen und Besetzungen öffentlicher Gebäude. Während es in Dnepropetrowsk der von der Übergangsregierung als Gouverneur eingesetzte Oligarch und Milliardär Igor Kolomojskyj durch eine gelungene Kombination von Gewalt und Bestechung binnen kurzer Zeit vermochte, die Proteste wieder abzuwürgen, konnten die Aufständischen in den östlichen Nachbarbezirken Donezk und Lugansk ihre Macht stabilisieren. Sie organisierten am 11. Mai 2014 eine Volksbefragung über eine Abspaltung der beiden Regionen von der Ukraine. Nach Angaben der Organisatoren sprach sich bei einer hohen Wahlbeteiligung eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung beider Regionen für eine Unabhängigkeit aus. Die Sezession war damit faktisch vollzogen.

Die Abstimmung fand jedoch ohne Anwesenheit internationaler Beobachter statt und wurde überschattet von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen ukrainischen und russischen Nationalisten. Die einseitigen Unabhängigkeitserklärungen wurden demzufolge nicht einmal von Russland anerkannt. Ein gleichfalls einseitig proklamierter Anschluss an das Nachbarland wurde von Seiten Russlands bisher ebenfalls nicht umgesetzt. Die russische Regierung sprach sich stattdessen stets für eine "Regionalisierung" der Ukraine aus, also faktisch für eine Teilung des Landes in eine russische und eine EU-Interessensphäre. Dieser Vorschlag wurde bislang weder von der Kiewer Regierung noch von den westlichen Staaten akzeptiert.

Aus dem Territorium der beiden "Volksrepubliken" Donezk und Lugansk liegen nur wenige zuverlässige Informationen vor. Ideologisch bildet ihre politische Führung wohl ein krudes Gemisch aus Sowjet-Nostalgikern, russischen Nationalisten und pragmatisch agierenden Wirtschaftsfunktionären. In der Verfassung der "Volksrepublik Donezk" ist beispielsweise neben einem Fortbestehen sozialstaatlicher Regularien auch die Zugehörigkeit zur russisch-orthodoxen Kirche festgeschrieben.

Über ihre ökonomische Basis liegen ebenfalls keine zuverlässigen Angaben vor. Vermutlich finanzieren sich diese instabilen politischen Gebilde zu nicht unbeträchtlichen Teilen aus Spendengeldern russisch-nationalistischer Organisationen. Es gibt auch Verlautbarungen, gemäß denen im aufständischen Territorium zeitweise chaotische Zustände herrschten. Es kam massiv zu Plünderungen, zu Entführungen, Schutzgelderpressung und Mord. Bewaffnete Gruppen räumten Banken aus, die sich im Besitz regierungsnaher Oligarchen befanden. Da staatliche Institutionen nicht mehr vorhanden waren und die Aufständischen es unter dem militärischen Druck der Gegenseite nicht vermochten, funktionierende Strukturen aufzubauen, wurde die Macht in verschiedenen Städten zeitweise von privaten Werkschutzeinheiten im Auftrag ihrer jeweiligen Firmenleitung ausgeübt.

Versuche der Aufständischen, sich mit in der Ost-Ukraine wirtschaftlich aktiven Oligarchen zu verständigen und von ihnen Steuern einzutreiben, schlugen fehl. Unter dem Druck westlicher Sanktionen könne er dann seine Produkte nicht mehr auf dem Weltmarkt absetzen, ließ beispielsweise der das Donezkbecken dominierende Oligarch Rinat Achmetow durch einen seiner Vertrauten ausrichten. Die Aufständischen konterten mit einer Ankündigung, Achmetows Betriebe zu "nationalisieren". Zumindest eine seiner Firmen wurde dann auch tatsächlich militärisch besetzt.

Die die beiden "Volksrepubliken" militärisch stützenden Milizen, die sich aus gestürmten Arsenalen der ukrainischen Armee und durch Waffenschmuggel massiv aufrüsten konnten, sollten ebenfalls nicht idealisiert werden. Neben beschäftigungslosen Ex-Militärs und anderen Freiwilligen, die tatsächlich meinen, Russland gegen den Vormarsch des internationalen Faschismus verteidigen zu müssen, finden sich in ihren Reihen auch Monarchisten und andere Rechtsradikale. Auf Seiten der "Volksmilizen" kämpfende Kosakeneinheiten erwarben sich schon vor Ausbruch des Bürgerkrieges traurigen Ruhm durch Pogrome gegen nicht-slawische Minderheiten. Und während auf der Gegenseite schwedische, italienische und kroatische Rechtsradikale als Söldner für den "Ruhm der Ukraine" kämpfen, konnten die aufständischen Milizen französische Rechtsradikale als willkommene Verstärkung für sich rekrutieren.

Die Ost-Ukraine wurde so binnen kurzer Zeit zur Spielwiese militanter Faschisten aus ganz Europa; der anfängliche Verteidigungskrieg der abtrünnigen Grenzregionen gegen Kiewer Truppen und Verbände ukrainischer Nationalisten entwickelte sich zu einem nationalistisch motivierten Verteilungskampf zwischen verfeindeten Bevölkerungsgruppen.

Bürgerkrieg im Osten

Bei den Präsidentschaftswahlen der Ukraine im Mai 2014 setzte sich der als gemäßigt geltende Oligarch und Milliardär Petro Poroschenko gegen seine Mitbewerber durch. Unter dem Druck der nationalistischen Rechten reagierte die neugewählte Regierung auf die Abspaltung der beiden Grenzregionen ausschließlich repressiv. Es stellte sich allerdings schnell heraus, dass das instabile und finanziell am Rande eines Abgrundes manövrierende Regime nur noch über begrenzte Möglichkeiten verfügte, die abtrünnigen Gebiete wieder unter seinen Einfluss zu zwingen. Polizeieinheiten, die mit der Wiederherstellung der "Ordnung" beauftragt waren, verweigerten anfangs mehrheitlich den Befehl oder gingen sogar auf die Gegenseite über; eilig in die Region geworfene Truppen ließen sich von aufgebrachten Dorfbewohnern stoppen und entwaffnen.

Die militärischen Auseinandersetzungen eskalierten erst, als Einheiten der überwiegend aus west-ukrainischen Rechtsradikalen bestehenden Nationalgarde sowie unabhängig von ihnen agierende faschistische "Freiwilligenverbände" gegen die aufständischen Gebiete vorrückten. Anführer dieser Verbände verkündeten gegenüber westlichen Journalisten ganz offen, dass ihr endgültiges Ziel die Eroberung Moskaus sei. Was unter Berücksichtigung des militärischen Stärke Russlands allerdings nur mit schwerem Größenwahn erklärbar ist.

Auf eine detaillierte Schilderung der einzelnen Etappen des mit wachsender Verbissenheit geführten Bürgerkrieges wird hier verzichtet. Das brutale Vorgehen der Nationalgarde und der sie unterstützenden Reste der regulären Armee lief jedenfalls auf eine ethnische Säuberung der Ost-Ukraine vom russischsprachigen Bevölkerungsteil hinaus. Von den Aufständischen kontrollierte Städte wurden von den belagernden Regierungstruppen gezielt von der Energie- und Trinkwasserversorgung abgeschnitten und anschließend mit schwerer Artillerie sturmreif geschossen.

Die Milizen, die das ständig schrumpfende Gebiet der beiden "Volksrepubliken" gegen ukrainische Regierungstruppen und die Bataillone ukrainischer Faschistenverbände verteidigen, erhielten zunehmend Verstärkung durch über die Grenze gesickerte russische Nationalisten und beschäftigungslose Ex-Militärs. Der russischen Regierung brachte dies den Vorwurf der Unterstützung separatistischer Bestrebungen ein. Tatsächlich hat sich diese anfangs sehr in Grenzen gehalten. Einer offenen Konfrontation mit der mehrfach überlegenen russischen Armee wären die aus den Resten der regulären Streitkräfte, rechtsradikalen Milizen und internationalen Berufssöldnern zusammengewürfelten ukrainischen Regierungstruppen schwerlich gewachsen gewesen.

Opfer des Bürgerkriegs war jedenfalls vorrangig die zivile Bevölkerung des umkämpften Territoriums, die abwechselnd das Ziel von Übergriffen ukrainischer Regierungstruppen, aufständischer Milizen oder ganz gewöhnlicher Krimineller wurde. Schulen, Krankenhäuser und Wohnviertel gingen als Folge von Artilleriebeschuss und Luftangriffen in Trümmer. Ein mehrmals ausgerufener Waffenstillstand hatte keinen Bestand, da die Milizen beider Seiten zunehmend außerhalb jeder politischen Kontrolle agierten. Ein Bericht von amnesty international warf beiden kämpfenden Parteien schwere Menschenrechtsverletzungen vor.

Die Kiewer Regierung kündigte für den Fall des Sieges eine "politische Säuberung" des Gebietes von allen Anhängern der Aufständischen an. Hunderttausende Bewohner der Ost-Ukraine flohen nach Russland; in mehreren russischen Grenzgebieten musste angesichts der Flüchtlingswelle der Notstand ausgerufen werden. Nach Eroberung der weitgehend zerstörten Stadt Slowjansk durch Regierungstruppen im Juli 2014 stellte sich heraus, dass nur sechs Prozent der Bevölkerung nicht vor ihren "Befreiern" geflüchtet waren. In den von den "Volksmilizen" gehaltenen Gebieten brach der Eisenbahnverkehr zusammen; nach Osten strebende Flüchtlingskolonnen wurden von der ukrainischen Luftwaffe beschossen.

Als die Versorgung mit Lebensmitteln und medizinischen Gütern nicht mehr funktionierte und in dem umkämpften Territorium ein akuter Notstand ausbrach, wurde ein mit Hilfsgütern beladener russischer Konvoi von ukrainischen Behörden an der Grenze tagelang blockiert, bis die russischen Fahrzeuge schließlich auch ohne vorherige Genehmigung auf ukrainisches Gebiet fuhren und sich dort ihrer Ladung entledigten. Von ukrainischer und westlicher Seite wurde dies als Aggressionsakt definiert.

"Die Russen kommen"

Die Versuche einer Krisenbewältigung von Seiten der Kiewer Regierung hatten sich in zunehmenden Hilfeschreien in Richtung Westeuropa erschöpft. Dass der Westen überhaupt nicht willens war und ist, auch nur einen Cent in die zusammenbrechenden Reste des osteuropäischen Staates zu stecken, kam in den Köpfen ukrainischer Oligarchen offensichtlich nie an. Von Seiten der ukrainischen Regierung wurde jedenfalls mit ermüdender Regelmäßigkeit eine militärische Einmischung Russlands in den ost-ukrainischen Bürgerkrieg behauptet und ein Einmarsch von NATO-Truppen gefordert. Mehrere von diversen Geheimdiensten und Medienagenturen beigebrachte Beweise eines Einmarsches regulärer russischer Truppen entpuppten sich jedenfalls schnell als primitive Fälschungen. Auf das Konto welcher Konfliktpartei der über ost-ukrainischem Gebiet erfolgte Abschuss des malaysisches Passagierflugzeuges MH 17 ging, ist bis heute ungeklärt.

Der Bürgerkrieg im Nachbarland berührte spätestens im August 2014 unmittelbar russische Interessen. Zwar befindet sich glücklicherweise keiner der 17 ukrainischen Atomreaktoren (nicht mitgerechnet die vier stillgelegten Tschernobyl-Ruinen) in den umkämpften Gebieten. Die Betriebsleitung des größten ukrainischen Chemiewerkes Styrol schickte damals aber einen verzweifelten Hilferuf an die Kiewer Militärführung, die Beschießung des Betriebsgeländes sofort einzustellen – bei einer Explosion ihrer Lagerbestände drohe eine länderübergreifende Umweltkatastrophe. Dieser Vorfall veranlasste wahrscheinlich die russische Regierung, ihre Unterstützung der beiden "Volksrepubliken" zu intensivieren. Als Folge schlug das militärische Kräfteverhältnis binnen ganz kurzer Zeit um. Die Kiewer Truppen erlitten eine Reihe schwerer Niederlagen – mehrere Bataillone der Nationalgarde wurden eingekreist und vernichtet. In der zum großen Teil aus Wehrpflichtigen bestehenden regulären Armee mehrten sich die Auflösungserscheinungen. Ganze Einheiten desertierten geschlossen von der Front oder flüchteten auf russisches Gebiet und baten dort um politisches Asyl. Zurückgehende Truppenteile wurden nicht selten von rechtsradikalen Freiwilligenverbänden beschossen und zur Umkehr gezwungen.

Die russlandfeindliche Rhetorik der ukrainischen Regierung nahm teilweise paranoide Züge an. So wurde gegen zahlreiche "regierungsnahe" russische Künstler ein Einreiseverbot verhängt. Das Konzert einer ukrainischen Pop-Sängerin, die zuvor in Russland gastiert hatte, wurde von einem rechten Mob attackiert. Polizisten, die die Künstlerin beschützten, wurden in der Folge aus dem Dienst entlassen.

Noch irrationaler war freilich eine Rede des Bankers und jetzigen ukrainischen Ministerpräsidenten Jazenjuk: Als die militärische Niederlage bereits unübersehbar war, ein Belagerungsring russischer Milizen sich um die von Resten der Regierungstruppen gehaltene Stadt Mariupol zu schließen drohte, kündigte dieser an, die Ukraine werde sich mittels dem Bau einer "Mauer" vom östlichen Nachbarland abschotten. Eine Meldung, die bei westlichen Nachrichtenredaktionen zwar zunächst Kopfschütteln auslöste, dann aber doch begierig weiterverbreitet wurde. Die unbestreitbaren Tatsachen, dass die betreffenden Grenzregionen sich gar nicht mehr unter Kontrolle der Regierung befinden und dass der faktisch bankrotte Staat außerdem die finanziellen Mittel für die Errichtung einer über 2000 Kilometer langen Grenzbefestigung nie und nimmer aus eigener Kraft aufbringen kann, wurden nicht erwähnt. Und erst recht nicht, dass eine wirtschaftliche Abschottung nach Russland für die schon jetzt weitgehend zerstörten Grenzregionen das endgültige Ende bedeuten würde.

Als die Kiewer Regierung trotz ihrer Begriffsstutzigkeit dann doch verstand, dass mit einem Eingreifen westlicher Truppen vorläufig nicht zu rechnen sei, entschloss sie sich angesichts des Vormarsches gegnerischer Milizen schließlich zum Einlenken. Mehrere rechte Hardliner mussten allerdings aus dem Kabinett entfernt werden, bevor es am 5. September zum Abschluss eines sehr instabilen Waffenstillstandes kam. Die NATO kündigte umgehend an, die ukrainische Armee neu zu strukturieren und mit modernen Waffen auszurüsten. Eine Fortführung des Konfliktes scheint damit vorprogrammiert.

Wieviel Menschenleben der Bürgerkrieg in der Ost-Ukraine bisher gekostet hat, ist unklar. Die zuletzt offiziell genannte Zahl von 2000 Toten dürfte mit Sicherheit viel zu niedrig gegriffen sein.

Plünderung, Korruption und Staatszerfall

Der Bürgerkrieg in der Ost-Ukraine wurde auch in den nicht umkämpften Gebieten von einer Welle krimineller Gewalt begleitet. Gegenüber den rechten Milizen, die große Teile des Landes faktisch unter ihre Kontrolle gebracht hatten, war die Polizei hilflos. Es gab zahlreiche Fälle, in denen politisch missliebige Bürger es angesichts gezogener Waffen vorzogen, lieber ihr Eigentum als das Leben zu verlieren.

Das gewöhnliche Banditentum auf der Straße fand seine Entsprechung in Chefetagen von Politik und Wirtschaft. Seit Wiedereinführung der Wehrpflicht grassiert ein schwunghafter Handel mit Freistellungsbescheinigungen. Ursprünglich für das Militär bestimmte westliche Hilfslieferungen kamen nie an der Front an, sondern landeten umgehend auf dem schwarzen Markt. Rechtsradikale "Freiwilligenbataillone" drohten aus diesen und ähnlichen Anlässen schon mal, auf Kiew zu marschieren und eine offene Militärdiktatur zu errichten.

Da verschiedene Oligarchen es angesichts leerer Staatskassen zu Beginn des Bürgerkrieges übernommen hatten, Bataillone der Nationalgarde und der "Freiwilligeneinheiten" auszurüsten und zu besolden, agieren diese zunehmend als deren Privatarmeen. Verschiedene Oligarchen benutzten die von ihnen bezahlten Kämpfer als willige Erfüllungsgehilfen bei kriminellen Verteilungskämpfen mit anderen Oligarchen. Unter dem Druck rechtsradikaler Milizen bei gleichzeitiger Ohnmacht der Polizei verwandelt sich die formell unabhängige Justiz zunehmend in ein willfähriges Werkzeug krimineller Enteignung: Verträge wurden kurzerhand annulliert, Eigentumsurkunden umgeschrieben.

Regierungsnahe Oligarchen konnten auf diese rabiate Weise ganz ohne Risiko ihre Konkurrenten berauben. Genannt sei hier als ein Beispiel der Milliardär Igor Kolomojskyj, der als Gouverneur der Industriemetropole Dnepropetrowsk diese mittlerweile faktisch unabhängig von der Kiewer Zentrale regiert und dabei fleißig in die eigenen Taschen wirtschaftet. Dem Oligarchen Rinat Achmetow, noch vor einem Jahr reichster Mensch der Ukraine, ist vermutlich nur noch ein Bruchteil seiner Vermögenswerte geblieben. Maßgeblich geschröpft wurde wohl auch der Oligarch, mutmaßliche Mafia-Strohmann und Milliardär Dmytro Firtasch.

Eigentlich Leidtragender von Umsturz und Bürgerkrieg ist jedoch die hoffnungslos verarmte ukrainische Bevölkerung. Die schon zuvor desaströse Wirtschaftslage hat sich als Folge des Bürgerkrieges rapide verschlechtert. Von westlicher Seite aus gewährte Kredite wanderten umgehend in den Schuldendienst und in durch den Bürgerkrieg aufgerissene Haushaltslöcher. Die Kiewer Regierung hält sich faktisch nur noch durch nackte Ausplünderung des eigenen Volkes. Als Schuldige an der grassierenden Armut werden jedoch ausschließlich die ost-ukrainischen Aufständischen und der "Erbfeind" Russland ausgemacht. Lebensmittel- und Energiepreise steigen, Löhne und Renten werden gekürzt, die Steuerlast wächst. Für den öffentlichen Dienst ist eine weitere Entlassungswelle angekündigt. Eine (geringfügige) Erhöhung des Mindestlohnes musste unter dem Druck westlicher Kreditgeber umgehend wieder rückgängig gemacht werden.

Mit nennenswertem Widerstand gegen diese Politik der Plünderung ist schwerlich zu rechnen. Ukrainische Bürgerrechtler berichten, dass im Windschatten des Bürgerkrieges eine ganze Reihe repressiver Gesetzesänderungen durchgewinkt wurde. Die Polizei darf mittlerweile ohne richterlichen Beschluss Wohnungen durchsuchen und verdächtige Personen bis zu 30 Tage lang festhalten.

Eine geplante Streichung von Subventionen für defizitär arbeitende Kohlebergwerke dürfte die durch den Bürgerkrieg bereits stark in Mitleidenschaft geratene Steinkohleproduktion im Donezkbecken wohl endgültig zusammenbrechen lassen. Da die ukrainische Regierung außerdem weder willens noch in der Lage war, ihre Schulden bei russischen Erdgaslieferanten zu begleichen, hat Russland seine Gaslieferungen schon seit Monaten eingestellt. Westliche Energiekonzerne sprangen zwar eilig in die Bresche, bestehen angesichts der desaströsen Finanzlage ihres Geschäftspartners jedoch auf Vorkasse. Zudem sei ein Gastransport über die Slowakei in Richtung Ukraine frühestens ab 2015 technisch umsetzbar. Der ukrainischen Bevölkerung wird jetzt wohl ein sehr kalter Winter bevorstehen.

Das mittlerweile unterzeichnete Assoziationsabkommen zwischen der Ukraine und der EU – eigentlicher Auslöser der Ukraine-Krise – wurde jetzt für ein Jahr auf Eis gelegt. Russland rechnet wohl nicht zu Unrecht bei Inkrafttreten des Abkommens mit Milliardenverluste für die eigene Wirtschaft. Experten befürchten nun, dass in diesem Zusammenhang angekündigte russische Abwehrmaßnahmen zu einem endgültigen Kollaps der ukrainischen Wirtschaft führen würden. Die EU hatte noch vor einem Jahr diesbezüglich Verhandlungen mit Russland und der Ukraine abgelehnt Voraussehbare Folge ist das gegenwärtige politische und wirtschaftliche Desaster.

Dem Westen kann es mittlerweile schwerlich noch einmal gelingen, den von ihm selbst losgetretenen faschistoiden Ungeist wieder in die Flasche zu zwingen. Das korrupte Oligarchenregime in Kiew verliert bei der Bevölkerung zunehmend an Akzeptanz. Es ist nachgewiesen, dass der faschistische "Rechte Sektor" insgeheim von der Front abgezweigte Waffen hortet. Eine offene Machtergreifung der nationalistischen und faschistoiden Rechten in Kiew ist für die Zukunft daher keinesfalls auszuschließen.

Ein gelungener Putsch der Nationalgarde und anderer rechtsradikaler Milizen hätte allerdings unweigerlich ein Szenario zur Folge, gegenüber dem das Bürgerkriegschaos in der Ost-Ukraine fast noch als gesittet und friedlich durchgehen könnte: Ethnische Säuberungen gegen die Reste der russischsprachigen Bevölkerung im Osten sowie gegen die moldawische, ungarische, belorussische und bulgarische Minderheit in den westlichen Grenzregionen, in diesem Zusammenhang eskalierende Auseinandersetzungen mit den Nachbarstaaten, schließlich und endlich ein endgültiges Auseinanderbrechen der Ukraine in verfeindete, einander bekämpfende Regionen.

Teil 1: "Machtkampf in der Ukraine" gibt es hier

s. auch: Entstaatlichte Territorien – Bürgerkrieg und Plünderungen.Aufzeichnung einer öffentlichen Veranstaltung in Frankfurt am Main am 04.12.2014 mit Gerd Bedszent.


 

 

BIG Business Crime

ist eine Dreimonatszeitschrift des gemeinnützigen Vereins Business Crime Control e.V.
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