Statussymbol Gymnasium: Der Kampf ums G9

Völlig überhastet und ohne durchdachte pädagogische und fachliche Konzepte verkürzten vor gut zehn Jahren fast alle Bundesländer die Schulzeit bis zum gymnasialen Abitur von dreizehn auf zwölf Schuljahre. Begründet wurde dies vor allem mit wirtschaftlichen Argumenten: Im weltweiten Wettbewerb seien die deutschen Abiturienten zu alt und stünden damit dem Arbeitsmarkt zu spät zur Verfügung, dies führe zu Wettbewerbsnachteilen für Deutschland und zu geringen Einnahmen für die Sozialkassen. Zugleich ließe sich mit dem eingesparten Schuljahr Geld sparen. Die Schulzeitverkürzung an den Gymnasien ergänzte somit den Umbau der Hochschulen im Zuge des Bologna-Prozesses: Auch hier bestand das Ziel darin, dem Arbeitsmarkt mit den neuen zweigeteilten Abschlüssen Bachelor und Master jüngere Absolventen zur Verfügung zu stellen.

Hier wie dort haperte es jedoch massiv in der Umsetzung: An den Universitäten klagen die Bachelorstudenten über vollgestopfte Semester, die keine Freiräume für selbstorganisiertes Studieren ließen und zum schnellen Auswendiglernen anstelle des Verstehens von Zusammenhängen führten.[1] Ganz ähnlich lauteten zu Recht die Klagen der Schüler und Eltern an den neuen „G8“-Gymnasien, die den alten Lehrplan in einem Jahr weniger unterzubringen versuchten[2]: Die Arbeitsbelastung der Kinder sei zu hoch, aufgrund der höheren Stundenzahl bleibe keine Zeit mehr für Familie, Freunde und Hobbys. Zudem wurden Wissenslücken und mangelnde Reife bei den beim Abschluss oft noch nicht einmal volljährigen Abiturienten befürchtet.

Inzwischen gibt es in fast allen Bundesländern Elterninitiativen, die mit großer medialer Resonanz für eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium kämpfen: In Bayern führen die Freien Wähler eine geplante Volksinitiative an, in Hamburg sind die Verhandlungen zwischen der Initiative „G9 jetzt“ und der sozialdemokratischen Regierung gescheitert, so dass es voraussichtlich zu einem entsprechenden Volksentscheid kommen wird. Im März hat die rot-grüne Regierung in Niedersachsen sogar kurzerhand eine komplette Rückkehr von G8 zu G9 für das Schuljahr 2015/2016 angekündigt. Zuvor stellte bereits Hessen den Gymnasien frei, selbst zu entscheiden, ob sie das Abitur in neun oder acht Jahren abnehmen wollen.

Wie Dominosteine scheinen die (westdeutschen) Bundesländer nun also wieder zu kippen und einer überstürzten Reform eine hektische Re-Reform folgen zu lassen. Dabei gibt es in der Frage, ob das sogenannte G8 noch immer so verheerende Auswirkungen zeitigt, keineswegs so eindeutige Gewissheiten, wie die G8-Gegner glauben machen. Offenbar sind die Eltern hier weit kritischer als die Kinder: Diese sind zwar gestresst – doch gibt es keine Unterschiede im Stressempfinden zwischen Kindern, die 13 und jenen, die 12 Jahre Zeit für das Abitur haben. Die große Mehrheit der Schülerinnen und Schüler kommt mit dem neuen Gymnasium gut zurecht. Und bezüglich des Fachwissens gibt es unterschiedliche Ergebnisse: Eine Studie, die G8- und G9-Absolventen in Sachsen-Anhalt untersuchte, kam zu schwächeren Matheleistungen, während in Hamburg bessere Ergebnisse der G8-Schüler festgestellt wurden.[3] Jüngere Studien können gar keine Unterschiede mehr feststellen.[4]

Tatsächlich haben viele Schulen mittlerweile nachjustiert, Arbeitsgruppen in die Stundentafel integriert, die Lehrpläne entrümpelt und vielerorts Mensen für ein Mittagsangebot zur Verfügung gestellt. Die Lage an den Schulen hat sich offenbar entspannt – Lehrer und Schüler sind auf die neue Schulzeit eingestellt, auch wenn es noch überall eine Menge Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Selbst jene Wissenschaftler, die fachliche Einbußen festgestellt haben, warnen daher davor, das Rad nun wieder komplett zurückzudrehen und „über dramatische Einzelfälle eine Debatte über die Schulstruktur loszutreten“, so Manfred Prenzel, Leiter der deutschen Pisa-Studien.[5]

In der aktuellen Debatte lohnt ein Blick in den Osten der Republik, wo es nur wenige Klagen über das Abitur nach zwölf Jahren gibt: Sachsen und Thüringen haben nach 1990 an dem kurzen Weg zum Abitur festgehalten und dabei zwar die Lehrpläne den westdeutschen Anforderungen angepasst, aber eben von Beginn an für eine zwölfjährige Schulzeit konzipiert. Dort gibt es deshalb bis heute keinen Stau des zu vermittelnden Unterrichtsstoffs.

Hier aber liegt die eigentliche Aufgabe für die Kultusminister in den kommenden Jahren: Anstatt das zwölfjährige Gymnasium wieder zu verlängern, sollten sie gemeinsam die Anforderungen an das Abitur neu abstimmen. Anstatt starre Stundenvorgaben zu machen, sollten sie sich über geforderte Kernkompetenzen verständigen. Denn was auf den ersten Blick „nur“ wie eine Korrektur einer verfehlten Reform erscheint, würde zu einem noch größeren Durcheinander der bundesdeutschen Schullandschaft führen.

Ein Gymnasium muss es sein

Hinzu kommt ein Weiteres: Beim Blick auf das Gymnasium drohen jene in Vergessenheit zu geraten, um die sich das deutsche Schulsystem noch viel dringender kümmern müsste – nämlich jene fast zwanzig Prozent der Schülerinnen und Schüler, die ohne ausreichende Lese-, Schreib- und Mathekenntnisse die Schule verlassen. So hat die jüngste Pisa-Studie ergeben, dass 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler an der Lösung von Alltagsproblemen scheitern. Eine gesamtgesellschaftliche Debatte darüber bleibt bislang jedoch fatalerweise aus.

Stattdessen sägen speziell die Hamburger G9-Befürworter an den erfolgreich arbeitenden Stadtteilschulen: Wie zuvor bereits Berlin ist Hamburg 2010 vom dreigliedrigen zu einem zweigliedrigen Schulsystem übergangen. An den dortigen Stadtteilschulen, die Real-, Haupt- und Gesamtschulen zusammenführen, kann man schon heute das Abitur in neun statt acht Jahren absolvieren. Mit Erfolg: So stieg die Zahl der Abiturienten, während sich die Zahl der Schüler ohne Schulabschluss halbierte.

Auch in Berlin gibt es erfolgreich arbeitende integrierte Sekundarschulen und insbesondere Gemeinschaftsschulen, die sogar von der ersten bis zur 13. Klasse führen: An der vor Jahren durch einen „Brandbrief“ der Lehrerinnen und Lehrer bundesweit berühmt gewordenen Rütli-Schule lernen mittlerweile zahlreiche Schülerinnen und Schüler mit Gymnasialempfehlung. Zugleich sanken die Schulabbrecherzahlen gegen Null und vervielfachte sich die Zahl jener Absolventen, die nach der Schule einen Ausbildungsplatz finden. All jene, die früher typischerweise aufs Gymnasium gingen, nun aber keine Lust auf den Schnelldurchlauf haben, sorgen so für sozial durchmischte weiterführende Schulen.

Die Rückkehr zum alten gymnasialen Abitur nach neun Jahren droht nun aber genau diesen gewünschten Effekt zu torpedieren: In Hamburg befürchtet selbst die „Vereinigung der Leitungen Hamburger Gymnasien und Studienseminare“, dass die angedrohte Rückkehr zum G9 (mittels Volksentscheid) die Stadtteilschulen zu „Restschulen“ machen wird, weil dann die leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler abgezogen würden.[6] Durch die Hintertür würde so wieder ein dreigliedriges Schulsystem etabliert: G8-Gymnasien für besonderes flinke Schüler, G9-Gymnasien für alle, die mehr Zeit wünschen, und schließlich die Stadtteilschulen, die dann wieder nur von jenen besucht würden, die vormals auf Haupt- und Realschulen sortiert wurden. Genau um diese Trennung vermeintlich schwacher und guter Schüler scheint es den Initiatoren der Hamburger G9-Initiative denn auch zu gehen, und zwar in schlechter Tradition: Schon vor vier Jahren haben sie die geplante schwarz-grüne Schulreform zur Verlängerung der gemeinsamen Grundschulzeit von vier auf sechs Jahre mit einem Volksentscheid verhindert.[7]

Faktisch bieten schon heute alle Bundesländer – bis auf Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen – die Möglichkeit, das Abitur an allgemeinbildenden Schulen auch in 13 Jahren zu absolvieren. Es geht also bei der Debatte um G8 im Kern um den besonderen Status, den das am Gymnasium erlangte Abitur verspricht: Laut Umfragen wünschen sich 70 Prozent der Eltern, dass ihr Kind auf einem Gymnasium lernt – und das am besten mit mehr Zeit, damit es nicht überfordert wird.

Neue Lernkultur – nachhaltig miteinander lernen

Der Wunsch der Eltern, so wichtig er ist, kann jedoch kein alleiniges Kriterium für die Schulpolitik sein. Um dem Bedürfnis nach einem guten Schulabschluss für alle Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden, sollte vielmehr das Berliner und Hamburger Modell Schule machen – und überall die Möglichkeit geboten werden, an einer Gesamtschule das Abitur nach dreizehn Jahren zu erlangen.

Anstelle einer Rolle rückwärts brauchen die hiesigen Schulen viel dringender eine Qualitätsdebatte: Wie kann Schule (noch) besser werden? Wie soll gelehrt und was soll gelernt werden? Und, nicht weniger wichtig, auf was kann in Zeiten von Internet und Wikipedia verzichtet werden? Welche Kompetenzen müssen Schülerinnen und Schüler stattdessen erlangen? Und was wollen wir uns all das kosten lassen? Das sind die Fragen, die jetzt auf der Tagesordnung stehen müssten.

Denn immer wieder zeigt sich vor allem eins: dass erfolgreiches Lernen ganz besonders an guten, motivierten Lehrerinnen und Lehrern hängt, die sich auf die unterschiedlichen Fähigkeiten ihrer Schüler einlassen und dafür sorgen, dass das Gelernte von allen verstanden und nicht nur gepaukt wird. Das sollten die Kultusminister der Länder bedenken, bevor sie nun überstürzt den Rückwärtsgang einlegen, letztlich zu Lasten von Lehrenden und Lernenden.

 


[1] Vgl. Annett Mängel, Annette Schavan: Politik für die Spitze, in „Blätter“, 4/2013, S. 17-20.

[2] Es geht übrigens gar nicht überall um die Frage G8 oder G9, in Berlin und Brandenburg beginnt das Gymnasium i.d.R. erst mit der Klasse sieben, dort beträgt die Zeit auf dem Gymnasium also nur sechs bzw. früher sieben Jahre.

[3] Vgl. Interview mit Stephan Thomsen und Ulrich Vieluf in „die tagszeitung“, 11.6.2013.

[4] Vgl. Christian Füller, In der Wahnsinnsrepublik, in: „Freitag“, 3.4.2014.

[5] Vgl. das Interview mit Manfred Prenzel, „Das bringt die Qualität sicher nicht voran“, in: „Süddeutsche Zeitung“, 5./6.4.2014.

[6] Zugleich sorgt sich der Hamburger Elternrat darum, dass für die Schulzeitverlängerung an den Gymnasien Gelder umgeschichtet werden müssten, die eigentlich für den weiteren Ausbau der Stadtteilschulen, für Inklusion und eine bessere Betreuung benötigt würden, vgl. „taz nord“, 28.3.2014.

[7] Vgl. Annett Mängel, Hamburger Bildungskampf, in: „Blätter“, 7/2010, S. 13-16.

(aus: »Blätter« 5/2014, Seite 17-19)