Terror und Pegida: Gebt uns ein Feindbild!

Mit den Anschlägen von Paris ist der islamistische Terror endgültig im Bewusstsein der Europäer angekommen. Dabei kosteten die Attentate von Madrid (2004) und London (2005) mit 191 bzw. 52 Todesopfern weit mehr Menschen das Leben als die Morde vom 7. Januar 2015. Allerdings weisen Letztere zwei Spezifika auf: Zum einen richteten sie sich anders als die Bahn- oder U-Bahn-Anschläge oder auch als Nine Eleven nicht gegen eine völlig undefinierte Menge aus Angehörigen aller Nationen und Religionen. Die Mörder von Paris töteten nicht wahllos, sondern gezielt: die „Gotteslästerer“ von „Charlie Hebdo“, Juden und Polizisten.[1] Damit entlarvt sich der fanatische Islamismus als die derzeit wohl radikalste Form dessen, was die Bielefelder Schule um Wilhelm Heitmeyer als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ bezeichnet.[2]

Hinzu kommt ein Zweites: Anders als in den Nuller-Jahren treffen die Anschläge heute, in Folge der zahlreichen Krisen, auf hochgradig verunsicherte und gespaltene europäische Gesellschaften. Exemplarisch dafür ist die Lage in Frankreich. Während in Paris Millionen Menschen aus der Mittelschicht mit „Je suis Charlie“-Plakaten auf die Straße gingen, hielten sich die marginalisierten Muslime der Banlieues von den Demonstrationen ebenso fern wie der immer stärker werdende rechtsradikale Front National.

Deutschland ist von dieser (auch kolonialgeschichtlich) bedingten Erosion der Gesellschaft um Einiges entfernt. Umso mehr muss es beunruhigen, wie sehr sich auch hier mehr und mehr eine Spaltung des Landes abzeichnet – in jene, die die westliche, parlamentarische Demokratie und ihre offene Gesellschaft bejahen, und solche, die sie zunehmend ablehnen. Bei Letzteren kommt es zu einem erstaunlichen Zusammenspiel zwischen Islamisten und ihren radikalen Kritikern vom Schlage Pegidas. Damit wird deutlich: Als bloß soziales Problem sind beide Phänomene nicht hinreichend zu erklären.

Gegen die offene Gesellschaft

Wenn sich heute Muslime, darunter zahlreiche Konvertiten, ganz bewusst für den Weg in den Dschihad entscheiden, verbirgt sich dahinter zwar zumeist auch eine soziale und gesellschaftliche Anerkennungsfrage (in Frankreich und Belgien stärker als bei uns), aber vor allem ein Problem gespaltener Identitäten und Loyalitäten in den westlich-europäischen Gesellschaften (in den USA dagegen weniger). Der radikale, wortgläubige Islam mit seinen klaren Regeln bietet gerade Halt- und Orientierungslosen ein hohes Identifikationspotential. Gleichzeitig sind die Attentäter selbst Produkte einer zutiefst narzisstischen Gesellschaft. Als solche wollen sie ihre Allmachtsphantasien und ihren Wunsch nach ewigem Ruhm ausleben – koste es, was es wolle, und sei es das eigene (irdische) Leben.[3] Auf diese Weise entscheiden sie sich für einen Weg, der gerade nicht auf soziale Verbesserung, sondern auf fundamentale Ablehnung, ja Vernichtung der als dekadent begriffenen westlichen Gesellschaft zielt.

Damit bedienen die Täter in idealer Weise das Ressentiment einer Bewegung wie Pegida. Dabei gründeten sich die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ keineswegs primär aus anti-islamischen Motiven, selbst wenn der Name dies suggeriert. Zur Erinnerung: Die ersten Demonstrationen fanden lange vor den Anschlägen von Paris statt. Diese boten Pegida nur die willkommene Legitimation ihres Anliegens und zudem der AfD die ideale Möglichkeit, auf der Protestwelle zu reiten. Schon bei den Landtagswahlen in Hamburg (am 15. Februar) und Bremen (am 10. Mai) dürfte sich dies für die neue Partei mit guten Ergebnissen auszahlen.

Tatsächlich ist der Islam bloß die perfekte Projektionsfläche einer wesentlich tiefer liegenden, allgemeinen Unzufriedenheit mit „der Politik“ und „den Medien“. Auch wenn es bisher jenseits von Dresden kaum zu nennenswerten Demonstrationen gekommen ist, wäre es äußerst fahrlässig, darin bloß ein Ost-Problem zu sehen. Zwar ist die Lage in der Stadt an der Elbe, dem einstigen „Tal der Ahnungslosen“, aufgrund ihrer Geschichte stets eine sehr besondere, in der xenophobe Ressentiments und Opfermythen besonders wuchern. Dennoch spricht viel dafür, dass es sich bei Pegida bloß um die „Avantgarde“ einer viel grundsätzlicheren, gesamtdeutschen Abwendung von der Demokratie handelt.

Gegen »das System«

Hinter dem Ruf „Wir sind das Volk“ der Demonstranten verbirgt sich der Vulgär-Rousseausche Gedanke, dass der allgemeine Volkswille heute auf der Straße liegt und nicht mehr in den Parlamenten. Die Wutbürger von Dresden treten dezidiert gegen „das System“ auf, womit sie neben der Politik längst auch die angebliche „Lügenpresse“ meinen. So steht Pegida in erster Linie für die völlige Ablehnung dessen, was man als „politisch-medialen Komplex“ bezeichnen könnte: die „Eliten“ aus Medien und Politik.

Angesichts der Geschichte der Bundesrepublik haben wir uns daran gewöhnt, derartige Systemkritik als ein eher linkes Phänomen zu begreifen. Um 1968 glaubte sich die Linke in der Tradition Adornos einem großen Verblendungszusammenhang aus Konsumwirtschaft, Politik und Medien ausgesetzt. Daher gelte es gegen die Mainstream-Medien – und speziell gegen die „Springer-Presse“ – zu demonstrieren und Alternativen aufzubieten. Gleichzeitig firmierte die parlamentarische Demokratie als bloß „bürgerliche“, gegen die rätedemokratische Formen zu entwickeln seien. Heute ist dieses anti-bürgerliche Ressentiment wieder dort gelandet, wo es ursprünglich, in den 1930er Jahren, eben auch herkam – nämlich von ganz rechts, aus der Kritik an den Parteien des „Systems von Weimar“. Daher ist es so fatal, wenn Oskar Lafontaine in klassischer NS-Diktion konkurrierende Parteien als „Systemparteien“ denunziert.[4] Damit arbeitet er, ob gewollt oder ungewollt, den Propagandisten einer Querfront mit der Neuen Rechten in die Hände. So versucht der einstige Linke und heutige Nationalchauvinist Jürgen Elsässer längst alle Anti-Westler, von links wie rechts, gegen das „System“ der EU zu sammeln: „Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks sind alle negativen Elemente der UdSSR auf die EUdSSR übergegangen: Das Politbüro mit den allmächtigen Kommissaren sitzt nicht mehr in Moskau, sondern in Brüssel; je mehr sich Westeuropa entchristianisiert, desto mehr findet das Dritte Rom [Putins Moskau] wieder zum Glauben; der Kampf gegen die Familie und für die sexuelle Umerziehung werden in der EU unter dem Titel Gender Mainstreaming in einem Maße betrieben, wie es nicht einmal im Frühbolschewismus der Fall war.“[5]

In den keineswegs ironischen Rufen „Putin hilf“ in Dresden und anderswo spiegelt sich daher sowohl das Fremdeln mit der parlamentarischen Demokratie als auch die Sehnsucht tendenziell autoritärer Charaktere nach einem autoritären Führer. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, wie diese Menschen derart orientierungs- und führungsbedürftig werden konnten. Dafür bieten sich zwei Erklärungen an.

Politische Heimatlosigkeit

Zum Einen hat das Krisenjahr 2014 bei erheblichen Teilen der Bevölkerung in ganz Deutschland zu großer Verunsicherung geführt. Den daraus resultierenden Vertrauensverlust erlitten neben den Parteien nicht zuletzt „die Medien“, die insbesondere die Ereignisse in der Ukraine tatsächlich nicht immer hinreichend kritisch verfolgten und kommentierten. Die erschreckend irrationale Konsequenz daraus ist eine weitreichende Abwendung von der „Lügenpresse“.

Zum Anderen aber verbirgt sich dahinter eine weit grundlegendere politische Heimatlosigkeit, die auf die Zäsur von 1989 verweist. Speziell den Menschen im Osten scheint die Demokratie bis heute zum Teil äußerlich geblieben zu sein, was sich auch in der stark rückläufigen Wahlbeteiligung manifestiert. Dieses anhaltende Fremdeln mit der Demokratie ist Ausdruck von Enttäuschung, aber auch einer allgemeineren Orientierungslosigkeit; mit Adorno könnte man sagen, „dass in der Fremdheit des Volkes zur Demokratie die Selbstentfremdung der Gesellschaft sich widerspiegelt.“[6]

Hier zeigen sich erstaunliche Parallelen zur Nachkriegszeit im Westen. Wie die bekannten Allensbach-Umfragen von Elisabeth Noelle-Neumann belegten, waren die Westdeutschen bis Ende der 50er Jahre keineswegs überzeugte Demokraten, sondern sie hielten den Nationalsozialismus weiterhin für keine schlechte Sache. Erst über die Jahre wuchs die westdeutsche Bevölkerung mit dem steigenden Wohlstand immer mehr in die Demokratie hinein. Im Osten ist dieser Vorgang bis heute nicht abgeschlossen.

Doch auch im Westen der Republik erleben wir eine zunehmende Entfremdung von der Demokratie. Mit der wachsenden Angst vor dem eigenen Abstieg nimmt hier die Kritik an der Parteiendemokratie und speziell an einer liberalen Zuwanderungspolitik immer stärker zu. Zugleich ist die Abwendung von den „Mainstreammedien“ auch im Westen immens.

All das fungiert als willkommenes Einfallstor für Pegida und AfD. Gleichzeitig zeigt sich vor allem in Ostdeutschland, dass das traditionelle, in Krisensituationen gern hervorgeholte Erklärungsmuster vom „Extremismus der Mitte“ – als einer aus der Fassung geratenen Gutbürgerlichkeit – nicht mehr trägt. Dieses würde nämlich voraussetzen, dass eine derartige Mitte überhaupt noch existiert. Faktisch haben wir es dagegen – nicht nur, aber besonders im Osten – mit einer hochgradig zersplitterten, enttraditionalisierten und dadurch zusätzlich verunsicherten Gesellschaft ohne gewachsene Mittelschicht zu tun. Eine derart „fragile Mitte“[7] entwickelt aus sich heraus ungeheure Fliehkräfte und Ressentiments, die sich gerade in fluiden Organisationen wie Pegida bündeln können – ohne dass diese auch nur in Ansätzen über ein politisches Programm verfügten.

Keine Alternative, aber ein Feind

Was dagegen in jedem Fall verbindet – und Entlastung verschafft –, ist ein gemeinsamer Feind. Wenn das Eigene schon nicht klar ist, dann doch zumindest das Fremde, das Andere, das zum Feind gemacht wird. Um mit Carl Schmitt zu sprechen: „Der Feind ist meine eigene Frage als Gestalt“, er verleiht dem Leben der Orientierungslosen existenziellen Sinn. Das gilt für Islamisten wie für ihre radikalen Kritiker. Denn beide haben in ihrer Frustration und Wut ein Weiteres gemeinsam: Sie begreifen sich als Opfer der Verhältnisse und ihrer Feinde, ob des dekadenten Westens oder der angeblich so verwöhnten „Scheinasylanten“. Verschärfend kommt hinzu, dass die im neoliberalen Kapitalismus angelegte Individualisierung von Schuld und Verantwortlichkeit – „Jeder ist seines Glückes Schmied“ – das Bedürfnis nach dem Feind als Sündenbock immens verstärkt: „Der Andere als Feind entlastet auch das neoliberale Leistungssubjekt, das den Feind [sonst] bei sich selbst ausmacht und mit sich selbst Krieg führt.“[8]

Die politische Gretchenfrage besteht somit darin, ob es den Parteien gelingt, den Protest zu kanalisieren und diese Wutbürger wieder für die Demokratie zu gewinnen. Dabei sind die demokratische Rechte wie die demokratische Linke gleichermaßen gefordert. Denn: Die „Patriotischen Europäer“ artikulieren die gleiche, zweifache Anfrage, die in der „Alternative für Deutschland“ mitschwingt. Erstens: Was macht die Zugehörigkeit zu Deutschland aus, was bedeutet im Jahr 2015 Patriotismus? Hier wäre es gerade für die konservativen Volksparteien geboten, offensiv den Kampf um einen liberalen, weltoffenen Patriotismus aufzunehmen. Diese Anfrage gilt aber natürlich auch für die verfassungspatriotische Linke.

Das Zweite ist aber noch vordringlicher: Wie zu Zeiten der Großen Koalition der 60er Jahre muss es SPD und Linkspartei gelingen, eine politische Alternative zur Dominanz der Union zu formulieren. Die Linke ist hier auch deshalb besonders gefordert, weil es sich bei der Anhängerschaft von Pegida keineswegs um „geborene“ AfD-Wähler handelt. Ihre Aufgabe besteht darin, die großen sozialen Verunsicherungen, die in dieser neuen politischen Heimatlosigkeit auch mitschwingen, aufzugreifen und ihnen einen demokratischen Ausdruck zu verleihen. So käme es etwa darauf an, den breiten Vorbehalten in der Bevölkerung gegen die neoliberale Deregulierung des Welthandels endlich eine Stimme zu verleihen und CETA bzw. TTIP doch noch zu verhindern.

Ob ein Phänomen des Unmuts wie Pegida von Dauer ist, wird letztlich davon abhängen, ob und wie dieser Protest gewendet wird – produktiv von links oder regresssiv von rechts. Slavoj Žižek weist zu Recht (und in der Tradition Horkheimers und Adornos) darauf hin, dass bereits der Aufstieg des Faschismus nicht zuletzt das Versagen einer Linken bedeutete, die die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen nicht zu ihren Gunsten mobilisieren konnte.[9] Selbst wenn wir derzeit von vergleichbaren Entwicklungen weit entfernt sind, droht heute wieder ein Ruck nach Rechts, in Richtung autoritärer Führung, gegen die offene Gesellschaft. Pegida sollte uns allen ein Weckruf sein, denn eines steht wohl fest: Nach einem Anschlag in Deutschland dürfte er endgültig unüberhörbar werden, aus Ost wie West.

 


[1] Ebenfalls gegen Polizisten richteten sich die vereitelten Anschläge in Belgien.

[2] Vgl. Wilhelm Heitmeyer u.a., Deutsche Zustände 1 bis 10, Frankfurt a. M., 2002 bis 2012.

[3] Siehe das Interview mit dem französischen Islam-Experten Olivier Roy, „Hauptsache, Held sein“, in: „Der Spiegel“, 17.1.2015.

[4] So in seinen Artikeln im „Tagesspiegel“, 11.10.2014, und in der „Jungen Welt“, 10.1.2015.

[5] Jürgen Elsässer, Querfront in Europa, in: „Compact“, 6/2014.

[6] Theodor W. Adorno, Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt a. M. 1963, S. 131.

[7] Andreas Zick und Anna Klein, Fragile Mitte – Feindselige Zustände, eine Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2014.

[8] Byung-Chul Han, Sehnsucht nach dem Feind, in: „Süddeutsche Zeitung“, 17.12.2014.

[9] Slavoj Žižek, Wer hat die Kraft der Leidenschaft ?, in: „Die Zeit“, 15.1.2015.

(aus: »Blätter« 2/2015, Seite 5-8)