Jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger. Editorial

Jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger. Editorial[1]

 

1. Allgemeine Determinanten

Über >Hightech-Kapitalismus< nachdenken heißt über das Verhältnis kapitalistischer Produktionsverhältnisse und der unter ihrer Herrschaft angewandten sachlichen wie persönlichen Produktivkräfte auf Grundlage des Computers nachdenken. Der Computer gilt dabei als epochale Leitproduktivkraft, weil er alle anderen Produktivkräfte mehr oder weniger durchdringt und steuert. Er fungiert als Metamaschine, weil allen Maschinen vorgeordnet. Er ist das tendenziell allgemeine Arbeitsmittel. Er steht für mikroelektronische Berechnung, Gestaltung, Steuerung und Kommunikation, sowie für die von ihm vorausgesetzten, ermöglichten und notwendig gemachten Qualifikationen und Verhaltensdispositionen der Arbeitenden. Mehr noch, er ist, wenn man so will, das allgemeine informationelle Lebensmittel, das tendenziell die gesamte Lebensweise durchdringt.

Das Verhältnis von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften nennen wir in Anlehnung an Marx Produktionsweise. Belehrt von Gramsci ziehen wir dabei in Betracht, dass eine bestimmte Produktionsweise eine spezifische Lebensweise bedingt und voraussetzt. In Gestalt des Internet hat die Mikroelektronik das weltumspannende digitale Verkehrsnetz ermöglicht mit umwälzender Auswirkung aufs Ensemble der Verkehrsformen und Institutionen, ein Prozess, der Veränderungen aller gesellschaftlichen Sphären, Praxen und Charaktere nach sich gezogen hat und auf eine Weise weiter ziehen wird, deren Reichweite noch kaum absehbar ist.

Im Blick auf die Produktionsverhältnisse hat sich der Begriff des transnationalen Kapitals bzw., genauer, der transnationalen Konzerne als der herrschenden Kapitalagglomeration durchgesetzt, die den anderen Kapitalen ihre Stellung zuweist.

 

2. Was heißt dabei >Widersprüche<?

Vor hundertfünfzig Jahren hat Marx eine Erfahrung für alle kapitalistische Zeit in die Worte gefasst:

>In unseren Tagen scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen. Wir sehen, dass die Maschinerie, die mit der wundervollen Kraft begabt ist, die menschliche Arbeit zu verringern und fruchtbarer zu machen, sie verkümmern lässt und bis zur Erschöpfung auszehrt. Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen seltsamen Zauberbann zu Quellen der Not.< (MEW 12, 3)

>Auf der einen Seite sind industrielle und wissenschaftliche Kräfte zum Leben erwacht, von der keine Epoche der früheren menschlichen Geschichte je eine Ahnung hatte. Auf der andern Seite gibt es Verfallssymptome, welche die aus der letzten Zeit des Römischen Reiches berichteten Schrecken bei weitem in den Schatten stellen.< (Ebd.)

Das ist noch gleichsam impressionistisch, gibt einen Eindruck wieder.

Wenig später bringt Marx den zu Grunde liegenden Systemwiderspruch des Kapitalismus auf den Begriff:

>Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], dass es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt. […]
Nach der einen Seite hin ruft es also alle Mächte der Wissenschaft und der Natur wie der gesellschaftlichen Kombination und des gesellschaftlichen Verkehrs ins Leben, um die Schöpfung des Reichtums unabhängig (relativ) zu machen von der auf sie angewandten Arbeitszeit. Nach der andren Seite will es diese so geschaffnen riesigen Gesellschaftskräfte messen an der Arbeitszeit und sie einbannen in die Grenzen, die erheischt sind, um den schon geschaffnen Wert als Wert zu erhalten.< (MEW 42, 601f)

Letztlich läuft dies darauf hinaus:

>Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß][2] des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen< (601).

Der Widerspruch, was es heißt, auf Arbeitswertgrundlage Arbeit abzuschaffen, prägt in zunehmendem Maße die Dramatik in der Tiefenschicht des Gesellschaftsbaus. Gleich ein Beispiel: Von den USA heißt es, dass sie im letzten halben Jahrhundert einen Prozess veritabler De-Industrialisierung durchgemacht habe. Martin Neil Baily und Barry P. Bosworth haben jüngst in[3] dieses Bild zurechtgerückt: In Wirklichkeit ist zwischen 1960 und 2010 der Anteil der Industrie am US-BIP gleichgeblieben. Der gegenteilige Eindruck resultiert aus dem technologie-bedingten >Job-Loss Growth<, also eines Wachstums, das mit Rückgang der absoluten Zahl der Arbeitsplätze einhergeht. Da es um die Epoche des Siegeszugs der Automation geht, sprechen wir von hochtechnologischer Arbeitslosigkeit. Ihr Effekt wird verstärkt durch Verlagerung arbeitsintensiver Produktion in Billiglohnländer.

Im gesamten kapitalistisch hochentwickelten Teil der Welt deutet sich hinsichtlich der Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer eine Schubumkehr an. Denn der nächste Entwicklungsschub der hochtechnologischen Produktionsweise, der als Industrie 4.0 beredet wird und unmittelbar bevorsteht, soll Produktionsarbeitsplätze einmal mehr dramatisch verringern und damit den ^Faktor Arbeit^^ in diesem Sektor verbilligen. Auch wenn er ihn dafür in den Sektoren Entwicklung und Planung anschwellen lassen wird, dürfte dieser Prozess insgesamt auf Wachstum bei Beschäftigungsrückgang alias Job-Loss Growth hinauslaufen. Hinzu kommt, dass der aktuelle Schub in angewandter Hochtechnologie auch die Weißkragen- und sog. Freien Berufe betreffen dürfte.

 

3. Der Widerspruch zwischen technischen Möglichkeiten und ihren Realisierungsbedingungen

Als Widersprüche des Hightech-Kapitalismus stehen hier nicht die krisentheoretisch relevanten systemischen Widersprüche im Zentrum,[4] sondern die Kluft zwischen gesellschaftlicher Möglichkeit und Wirklichkeit und die Frage: wie wirken (welche Rolle spielen/können spielen) die unverwirklichten Möglichkeiten? Können sie alternativ oder subversiv verwirklicht werden? Im Kern geht es um emanzipatorisch relevante Widersprüche und das heißt um solche, in denen emanzipatorische und herrschaftliche Möglichkeiten bezogen auf ein und dieselben Bedingungen aufeinanderstoßen.

Wie alle Technologie gewährt die Hochtechnologie Macht-Räume im Sinne des möglichen Machenkönnens. Doch diese Möglichkeit ist als solche noch abstrakt. Möglichkeitsräume bestehen zwar objektiv, doch nicht ohne weiteres aktual. Zur Realisierung des objektiv Möglichen gehört gesellschaftliche Macht. In dominanter Form tritt sie auf als Verfügungsmacht durch Eigentum und sekundär als staatliche Rahmenbedingungen, die diese Macht schützen und in gewissen Grenzen regulieren.

Angesichts des Technikpessimismus von links und des Technikoptimismus von herrschender Seite interessiert die Zweideutigkeit vieler neuer Technologien im Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Widerspruch meint hier: Produktivkraft steht für ein Spektrum möglicher Nutzungen, m.a.W., sie steht für einen objektiven Möglichkeitsraum. Produktionsverhältnis steht für Verfügungsmacht, die über die Verwirklichung entscheidet. Hier also das Kapital, das nach der Profit- und Konkurrenzlogik bestimmte Möglichkeiten selektiv verwirklicht und alle andern entwirklicht.

Paradigmatisch ist der Widerspruch der digitalen Ware. Ihre Reproduktion erfolgt als Kopie, ihr Transport als Datenübertragung. Ihre raison d’être vom Standpunkt des Kapitals ist der Wert, den ihre Reproduktionsweise, deren Grenzkosten gegen null tendieren, aufhebt. Ihr Gebrauchswert hat den Charakter des Gewusst-wie. Solches Wissen kann Warencharakter annehmen. Sobald das Wissen im Prinzip bekannt ist, kann es als solches nicht noch einmal verkauft werden. Also wirft die Form des Privateigentums sich auf seine praktische Anwendung. Das Wie kann allgemein gewusst werden, also muss sein Nutzwert als Rechtsgut anerkannt werden, um als Privateigentum fungieren zu können. Ohne staatlich-rechtlichen Eigentumsschutz an so genannten ^immateriellen Gütern^^ würde sich deren Privateigentums- und damit Warenform auflösen. Der Staat garantiert ihren Eigentümern das Gebrauchswertmonopol. Dies gilt ebenso fürs ästhetische Gebrauchswertmonopol des Designs etc. Wirkt dieses als etwas identitär von der großen Zahl Besetztes/Angenommenes oder bei ihr Ankommendes, gewährt sein Einsatz Marktzugang. Dem Intellektualeigentümer, der das Nutzungsrecht an bestimmte Marktteilnehmer verpachtet, beschert es Informationsrente.

Von der Bodenrente unterscheidet sich diese dadurch, dass hier kein Durchschnitt mehr zählt, sondern einzig die große Zahl. Nicht die Seltenheit, sondern die Häufigkeit entscheidet. Der aller Ökonomie zugrunde liegende Faktor der Knappheit verlagert sich auf sein Gegenteil, die Häufung. Sie begründet ein Monopol neuen Typs. Mit dem Monopol alten Typs verbindet ihn der Faktor Marktkontrolle, in anderen Worten: der Marktausschaltung von Konkurrenten. Aus diesem Sachverhalt und der Prekarität der digitalen Ware, die zur shareware tendiert, zieht das in dieses Geschäftsmodell investierte Kapital die Konsequenz, den nur fiktiven Warencharakter der Nutzung bestimmter Digitalgüter abzustreifen und die Nutzungsmöglichkeit zur Gratisgabe zu machen. Sein profitables Produkt ist das Ensemble der informationellen Spuren, welche die Nutzer hinterlassen. Das Muster dieser Spuren lässt sich nutzen für personalisierte Werbung. Das ist das Google-Paradigma. Das Schlüsselwort heißt Zugang. Der atomisierten Masse wird er zu bestimmten Diensten geschenkt, der Zugang zur atomisierten Masse wird verkauft.

Die Informationsrente, die dieses Modell im Erfolgs- bzw. Massenfall gewährt, setzt die Arbeitswertgrundlage aus. Da diese im Ganzen aber fortbesteht, kommt es zu monopolistischer Umverteilung. An sich ist nichts davon neu; Patente gewähren schon seit langem Eigentumsrecht an >Matritzen< aller Art. Völlig neu sind jedoch Ausmaß und systemische Bedeutung. Damit ist auch der Widerspruch zwischen latenter Wissensallmende und manifestem Warencharakter von Wissen größer denn je zuvor.

 

4. Ambivalenz >On the Edge of Time<

Die Widersprüche sind die Hoffnung, lautet das Motto zu Brechts Dreigroschenroman. Gilt es noch? Und wenn ja, wie? Die zwanghafte Technik-Entwicklung, einer Flucht aus drohendem Untergang in der Konkurrenz entspringend, ist geeignet, Angst zu machen. Spontan ist dieser Prozess für so manche von uns ein Alptraum. Doch dann erinnern wir uns daran, dass vieles an der Hightech-Welt wie für uns geschaffen ist. Viele der vom Kapital aktualisierten Nutzungsmöglichkeiten sind uns unentbehrlich für unsere Handlungsfähigkeit. So entdecken wir, dass Traum und Alptraum ein und demselben Möglichkeitsraum entspringen.

Hier waltet eine fundamentale Ambivalenz. Die gleiche Drohnen-Technologie, mit der die USA auf Distanz töten, wird auch, wie jüngst im Fernsehen idyllisch gezeigt, eingesetzt, um Rehkitze vor den Mähmaschinen zu retten. Mehr noch: Möglichkeiten, die in der aktualisierten Technologie schlummern, können entdeckt und subversiv ergriffen werden. Wie in der Physik von der Umkehrbarkeit der Lichtwege gesprochen wird, können wir mit unserer Kinderstimme von der Umkehrbarkeit der Wege der Verfinsterung sprechen. Probeweise: >Wo aber eine NSA ist, wächst ein Snowden auch.< Oder eine Soldatin Manning oder ein Julian Assange und wie sie alle heißen mögen.

Reden wir von einer virtuellen und überregionalen, ja transnationalen Institution wie dem InkriT.

>Sie wäre nur begrenzt möglich ohne die computerbasierten Informations- und Kommunikationsmittel. In stärkerem Maße gilt dies fürs HKWM. Ohne das Netz und seine Dienste und Datenkraken, an der Spitze Google, Skype u.ä.m. nicht zu vergessen, wäre es schlechterdings nicht zu machen. Insofern sind wir Kinder des Hightech-Kapitalismus. Allerdings sind wir nicht nur das, sondern auch Kinder der Hightech-Commons, des open source und access – allen voran der erstaunlichen Wikipedia.

Beim Schreiben konsultieren wir fortwährend das Netz. Nicht nur das, wir speisen auch unsere Produkte ins Netz ein, ein wachsender Teil unserer Existenz ist netzunmittelbar.

Sofort führt die Folgenabschätzung dieser unserer Existenzbedingung zur bedrohlichen Existenzfrage: wie lange noch wird das HKWM als gedrucktes Buch erscheinen können? Hat nicht die Wikipedia-Produktionsweise es überholt? In seiner körperlichen Daseinsweise und in seiner temporalen Fixierung, dem Zeitstempel der definitiven, weil Druckfassung seiner Beiträge. Die Technologie ermöglicht und die Zeit verlangt den unabschließbar gleitenden Produktionsprozess. Nur die Begrenztheit der wissenschaftlichen Gemeinschaft, die das HKWM verwirklicht, und die Endlichkeit der Lebenszeit ihrer Mitglieder, von den finanziellen Mitteln, die sich in verfügbare Zeit umsetzen ließen, ganz zu schweigen, trennen diese Möglichkeit von ihrer Aktualisierung.

Auf der anderen Seite ist das HKWM einer der Felsen in der Brandung. Der Fließzustand des Internet und speziell von Wikipedia ist Vorteil und Fluch in einem. Anders als das Netz als solches ist Wikipedia nicht voller Treibsand und keine im Ganzen kriterienlose informationelle Staubwolke, durchsetzt von den virtuellen Raumstationen aller etablierten Mächte. Vor allem in Naturwissenschaften ist vieles gediegen sachhaltig, und der Fließzustand kommt der raschen Wissensentwicklung in manchen Frontdisziplinen entgegen. Ansonsten findet auch so manche interessierte Verbiegung, selbst Verleumdung Eingang und schwankt die Wikipedia zwischen kritischem und ideologischem general intellect. Und dennoch gleicht sie einer riesigen Oase im Netz, dessen Datenflut in vielem einer kosmischen Wolke für ewig fixierter Eintagsfliegen gleicht, durchsetzt von Raumstationen der etablierten Mächte.

Die im Netz herrschende Devise >Jeder sein eigner Verleger< umgeht einerseits die Geschmackszensur des Marktes und die Torhüter des Establishments, doch zugleich umgeht sie die kritische Katharsis. Im atomistischen Zerstäuben der Meinungen versagt der von Gramsci als Aufgabe gestellte Rückkoppelungsmechanismus der Kritik, der darin besteht, intellektuellen Blödsinn und Marktschreierei ständig zu stutzen.

Noch verdankt das HKWM sein Existenzrecht der Aufgabe der Sammlung, Sichtung, klärenden Diskussion und schließlichen Verdichtung emanzipatorisch und herrschaftskritisch relevanter Wissensmassen, eingebettet in Reflexion.<[5]

2013 beging das Wörterbuchprojekt seinen dreißigsten Geburtstag. Zwanzig Jahre hat es für die Zurücklegung der ersten Weghälfte seit dem Erscheinen des ersten Bandes gebraucht. Vom Zuzug aus den jüngeren Generationen wird abhängen, ob und wie es in den nächsten zwanzig Jahren der selbstgestellten Aufgabe gerecht zu werden vermag.

WFH



[1] Der hier als Editorial auftretende Text diente als Einleitung zum gleichnamigen Dachthema der XVIII. Internationalen InkriT-Tagung vom 19. bis 22. Juni 2014. Einige Beiträge des vorliegenden Heftes sind die überarbeitete Schriftfassung dort gehaltener Vorträge.

[2] Falsche Einfügung – kurioserweise sogar in antiquierter Schreibweise >das Maaß< – seitens der MEGA-Redaktion, die nichts anzufangen wusste mit der auf den ersten Blick paradox klingenden Rede vom >Tauschwert des Gebrauchswerts<. Sie besagt, dass automatisiert produzierte Güter (Gebrauchswerte), in denen keine Arbeit vergegenständlicht ist, auch keinen (Tausch-)Wert darstellen.

[3] >US Manufacturing: Understanding Its Past and Its Potential Future<, in: Journal of Economic Perspectives, 28. Jg., H. 1, Winter 2014, 3-26 (www).

[4] Sie bilden den Gegenstand von Argument 305/2013, Globaler Kapitalismus und seine Krisen.

[5] Aus dem Vorwort zu Band 8/II des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus, Hamburg 2015.