Im europäischen Sandkasten

Übel wird mir, denk ich dran. Als ich vor über vier Jahrzehnten als Soldat der Nationalen Volksarmee, anderthalb Jahre Ehrendienst zwischen den Kiefern Brandenburgs, die eine und die andere Übung mitmachte, dachte ich das Wort „Scheiße“ ungefähr eine Million Mal am Tag.
Nicht, dass ich sonderlich gezweifelt hätte. Dass ich meine Heimat zu verteidigen hätte, und dass dafür ein Handwerk erlernt und ein Rüstzeug zugelegt werden musste, schien mir logisch. Der Feind stand im Westen ungefähr so bedrohlich wie für die Jungs im Westen der Feind im Osten stand. Nehme ich an. Es ist seit alters her – sollte ich sagen: seitdem es Brudermord und Kriege gibt? – eine ziemliche Unmöglichkeit, mit einem Feindbild erzogen worden zu sein und zugleich sich selbst als Feind des Feindes vorzustellen. Wer das kann, wird der Begründer des Weltfriedens. Er (oder sie) sei erstens von mir herzlich begrüßt und geehrt und bewundert. Zweitens würde ich vor Glück zerspringen, gäbe es den. Ich bin altmodisch und würde auf die Pionier-Ehrenwort-Frage, was ich mir am sehnlichsten wünsche, tatsächlich noch immer antworten: Frieden allüberall …
Trotzdem dachte ich damals das Wort „Scheiße“. (Vielleicht nur eine halbe Million Mal; ich war ein Junge mit guter Kinderstube.) Und warum? Weil es bei allem Sinn, der mir erzählt wurde, durchaus sinnlos und unangenehm war. Die damaligen Übungen fanden im Frühling oder im Herbst statt. In meiner Erinnerung war es kalt, feucht; wir waren müde und aßen aus klapperndem Geschirr Suppen, die wir nur deshalb aßen, weil wir jung waren und Knast hatten, und wärmten die Hände am Blech. Nun ja.
Nun ja, es wurde der E-Fall simuliert, der Ernst-Fall. Das war der Fall, der einträte, wenn die Oma von der Ofenbank aus ihrer Stube gezerrt, der volkseigene Betrieb überrannt, die Freundin (so es sie gab) vergewaltigt, der Staat, der Bildung und Gesundheit ermöglichte, vernichtet wird – wenn all das, was einem lieb war, zermalmt würde zwischen den Zähnen des Imperialismus.
Warum der E-Fall voraussichtlich an kalten, feuchten Tagen stattfinden würde, für die wir trainiert wurden, erschließt sich mir bis heute nicht. Wird meteorologischer Zufall gewesen sein. Und, geht mir grad so durch den Kopf: Die Jungs, die da grad in Polen ein bisschen Krieg spielen, als „Speerspitze“, wie ich lese, und nur zu „defensiven Übungszwecken“, haben besseres Wetter. Sommerwetter. Vermutlich haben sie auch bessere Verpflegung, kalte Cola am Abend, eventuell ein Bierchen. Und netteres Publikum haben sie sowieso: Mehrere europäische Verteidigungsministerinnen statt der sauertöpfischen Leutnants und Obristen schauen zu; da geht einem Soldaten doch der Knopf auf! Da reißt man sich doch zusammen! Dem Weibe, ob nah ob fern, zeigt ein richtiger Kerl seine Schwäche nicht! Vielleicht sind wir Männer nur deshalb Soldaten, weil wir – ach, was weiß ich! – Ich schweife ab.
Die Simulation eines Krieges, einer Schlacht, eines Gefechts – ich gehe mal rückwärts vom Großen zum Kleineren. Ein Soldat stirbt nicht in einem Krieg (der später im Geschichtsbuch steht), sondern in einer sehr konkreten Sekunde, nachdem er einen sehr konkreten Befehl befolgt und indem er das außerordentliche Pech hat, von einer konkreten Kugel, von einem konkreten Granatsplitter, von einer konkreten Mine getötet zu werden. Oder er schafft es umgedreht, vorher, also bevor es ihn erwischt, seinem Menschen-Bruder (seiner Menschen-Schwester) eine Kugel in Kopf, Leib, Steißbein, Gelenk (Liste ist nach Belieben fortzusetzen) zu schießen. Also:
Diese Simulation des Kämpfens geht logischerweise davon aus, dass man selber überlebt. Sonst wäre es kein Manöver. Sonst könnte man ja gleich richtig Krieg machen. Sonst würde eine Armee, eine Kompanie, eine Gruppe – wieder mal vom Großen zum Kleinen – geschwächt werden, wenn die Übung der E-Fall wäre. Das will niemand. Außer der Feind. Der ist quasi realer als man selber ist.
Um den geht es schließlich. Ob der nun angreifen wird (der Russe greift immer an!), ob wir ihn angreifen müssen (der Westen, die NATO, meine ich jetzt, und dieser Angriff ist die beste Verteidigung, weiß man vom Schach) – ein bisschen Üben vorher ist immer gut. Wegen, siehe oben, Handwerk und Rüstzeug.
Und so im Großen und Ganzen spielt es keine Rolle, dass – auch nichts Neues; es macht mich, ehrlich, fertig, dass das immer gleiche Spiel der Blödheit, Lüge, Manipulation gespielt wird, dass aus dem Qualm der Granaten, bumbum im Felde des Manövers, ein Gespenst aufsteigt. Es ist ausnahmsweise nicht das Gespenst des Kommunismus (obwohl man Putin auch schon in diesem Gewand gesehen hat; sagen die westlichen Geheimdienste), sondern der Ungeist des … ja was? des Kapitals?
Oder geht es doch nicht um Verteilungsinteressen, Machtinteressen, Popanze westlich und östlich der Grenzen auf einem grenzenlosen Planeten – wollen wir alle nur ein bisschen Krieg? – da einen, hier keinen – also wer nun gegen wen, und warum der ganze Scheiß – aber ich kann mich beruhigen: Es sind ja nur Sandkastenspiele