Nahost im 21. Jahrhundert: Kampf der Religionen?

in (29.07.2015)

Im Jahre fünf nach den arabischen Revolten sieht die arabische Welt erschreckend aus: Staaten wie Irak und Libyen sind zusammengebrochen, Jemen und Syrien und vielleicht auch Libanon auf dem Weg dahin. Eine nicht mehr überschaubare Zahl von Banden, die sich auf die Religion berufen, verbreiten Angst und Schrecken – bis in die Kanzleien des Westens. Die USA stehen nicht mehr an der vordersten Front der kaum mehr zählbaren bewaffneten Konflikte,1 die die Region wie ein Flächenbrand2 überziehen. Unmittelbar nach dem Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali hatte Washington die Arabellion enthusiastisch begrüßt. Philip Crowley, Sprecher des US-Außenministeriums, sagte bei einem Besuch in Algier am 18. Februar 2011: „Der Wandel ist notwendig. Wir ermutigen diesen Wechsel, und wir wollen einen friedlichen Wandel.“3 Fortan setzten sie auf die Muslimbrüder (MB) als neuen stabilisierenden Faktor.

Nach den Revolten: Konterrevolution und Konfessionalisierung

Die Zeit nach der Arabellion wurde zum Kampfplatz der innerarabischen Rivalitäten unter Einschluss der Türkei. Der sich anbahnende Sieg der Konterrevolution zeigte sich bereits während des Krieges in Libyen: Am 12. März 2011 beschloss die Liga der Arabischen Staaten, „den Sicherheitsrat zu veranlassen, seine Verantwortung wahrzunehmen, indem er ein Flugverbot über dem libyschen Luftraum verhängt, um die libysche Bevölkerung zu schützen.“4 Auf der Grundlage dieser Resolution beschloss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 17. März 2011 die Resolution 1973, die die Einrichtung einer Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung verfügte und dem Bombenkrieg Frankreichs und Großbritanniens, dem sich erst später die NATO anschloss, den Schein der Legitimation verschaffte. An diesen Bombardierungen beteiligten sich zwar nur 14 der 28 NATO-Staaten, dafür aber auch die Luftwaffen Jordaniens, Qatars und der Vereinigten Arabischen Emirate. Auch dies zeigt das langsame Schwinden der Führungsmacht der USA und den Willen der reaktionären arabischen Monarchien, die arabischen Verhältnisse in ihrem Sinne zu „ordnen“.

Diese seltsame Allianz aus Demokratien und Despotien schien auf den ersten Blick jenes unheilvolle Paradigma des Samuel P. Huntington zu widerlegen, das dieser pünktlich nach dem Ende des West-Ost-Konflikts in die Welt gesetzt hatte: Als mit dem realen Zusammenbruch des Sozialismus dem Westen dessen Feind und Feindbild zugleich abhanden gekommen waren,5 lieferte Huntingtons Clash of Civilizations6 die Blaupause für die Kriege der Zukunft – die Bedrohung des Westens durch den Islam, denn: „Islam has bloody borders.“7 Die Attraktivität der Huntington’schen Thesen besteht darin, dass sie eine rationale Erklärung von Konflikten vermeiden und die Frage nach Interessen unterschlagen. Stattdessen werden sie als gewissermaßen schicksalhaft erklärt, wie der Verweis Huntingtons auf die Exemplarität der tektonischen Platten belegt, an deren Rändern sich nicht beherrschbare seismische Katastrophen ereignen. Die Ausblendung von 200 Jahren Geschichte und imperialistischer Präsenz im Nahen Osten und der von ihr verursachten Konflikthaftigkeit macht die Wirksamkeit des Huntington’schen Paradigmas (und das Vertuschen eigener Schuld) möglich.8 Huntingtons Paradigma mutierte zur self-fulfilling prophecy: Für den Westen wurde ein neues Feindbild geschaffen, das sich mit dem 11. September 2001 empirisch zu bestätigen schien, im Nahen Osten, wo Religionen unter „dem Islam“ anderthalb Jahrtausende recht friedlich zusammengelebt hatten, wurde die Religionszugehörigkeit plötzlich zur Konfliktursache und Konflikterklärung zugleich stilisiert.

 

Exkurs: Wie man religiösen Eifer produziert, um Interessen zu sichern.

Der Fall Irak.

Geradezu drehbuchartig hat Paul Bremer, der Statthalter („Zivilverwalter“) der USA nach der Invasion von 2003, die „Ent-Baathifizierung“ des Landes betrieben.9 Der säkulare Diktator Saddam Hussein wurde mitsamt der gesamten irakischen Armee und der in weiten Teilen hoch professionellen Verwaltung als sunnitisch identifiziert. Konfessionszugehörigkeit, nicht Kompetenz wurde zum Kriterium der Übertragung von Ämtern an Schiiten, die als Garanten für die endgültige Vernichtung des Vorgängerregimes gesehen wurden. In der Folge erreichten Vetternwirtschaft und Korruption einen einsamen Höhepunkt.10 Dies galt vor allem für die offiziell 350.000 Mann starke Armee, die ganze „Geisterbataillone“ zählte, deren Sold in den Taschen der Generäle landete.11 So ist es kein Wunder, dass während der ersten Angriffe des IS auf Mossul die beiden kommandierenden Generäle sich als erste absetzten. So kam es dann zu der Meldung: „Im Juni 2014 (vertrieben) weniger als 400 IS-Kämpfer … 20.000 schiitisch-irakische Soldaten und Tausende Polizisten.“12

Das einzige Interesse der USA während der Invasion galt dem Öl und der Privatisierung des bis dahin staatlichen Energiesektors.13 Die aus der Machtübertragung an die Schiiten resultierende Diskriminierung der Sunniten in dem durch die seit 1990 mit einer katastrophalen Embargopolitik belegten Land14 und die Folgen der Kriege hatten den Boden bereitet für eine von Korruption und Gesetzlosigkeit gekennzeichnete Ökonomie – und zugleich für den zunehmenden Widerstand der diskriminierten sunnitischer Iraker. Bei den derzeitigen Kämpfen um die Städte Falludja und Ramadi steht nicht die offenkundig untaugliche irakische Armee an der vordersten Front, sondern dort kämpfen schiitische Milizen, die der Premierminister Nuri Al-Maliki als eine Art Privatarmee aufgebaut hatte. Diese Milizen zeichnen sich vor allem durch Plünderungen und äußerste Brutalität gegen die sunnitische Zivilbevölkerung aus, die ethnoreligiösen Säuberungen gleichen, wie Human Rights Watch schon im Februar berichtete.15 So scheint Huntingtons Paradigma, heruntergebrochen auf innerislamische konfessionelle Konfliktlinien, zum Selbstläufer zu werden und entwickelt eine Eigendynamik, die sich mit machtpolitischen und ökonomischen Interessen verquickt.

 

Saudi-Arabien: Die neue Hegemonialmacht?

Lange vor Huntingtons wirkmächtiger Erfindung des Clash of Civilizations hatte Saudi-Arabien begonnen, die Religion als Instrument seiner Außenpolitik zu nutzen. Schon während des beginnenden Zerfalls der Sowjetunion hatte Riad – erstmals im Einverständnis mit Moskau – in die muslimischen Sowjet-Republiken eine Million Exemplare einer in Medina gedruckten Ausgabe des Koran geliefert und Hilfe für den Bau von 500 neuen Moscheen zugesagt. Im Jahre 1990 besuchten erstmalig mehr als 1.500 sowjetische Pilger die heiligen Stätten des Islam.16 Der wahhabitische Proselytismus wurde systematisch auch in den Großraum des Sahel ausgedehnt, wobei Petrodollars eine entscheidende Rolle spielten, wie mauretanische Soziologen konstatierten: „Die Existenz einer saharischen Diaspora, die in den Petro-Staaten fest verankert ist, und die jüngsten Ausdehnungen des Wahhabismus, aber auch der Muslimbrüder (in Mauretanien, und dies dürfte gleichermaßen für die übrigen Sahel-Länder gelten; W.R.) stellen, ganz abgesehen vom jihadistischen Radikalismus, Faktoren dar, die ein Andocken an eine globalisierte ‚fromme Ökonomie‘ ermöglichen.17 Dies geschieht über den Aufbau karitativer Netzwerke, die eng verbunden sind mit dem islamischen Finanzwesen einerseits und politischen islamistischen Bewegungen andrerseits.18

Bekannter ist, dass im Krieg in Afghanistan die Saudis jene von der CIA ausgebildeten „Freiheitskämpfer“ finanzierten, die nach dem Abzug der Sowjetunion zu Terroristen mutierten, die dann für den Anschlag vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York verantwortlich gemacht wurden. Immerhin 15 der 19 Attentäter waren saudische Staatbürger. Werden Anschläge im Westen (New York, Madrid, London) schon fast systematisch auf das Konto salafistischer Radikaler geschrieben, so ist unbestreitbar, dass die sogenannten Afghanen (Freiwillige aus islamischen Ländern, die in den 80er-Jahren in Afghanistan kämpften, oft mit Hafterfahrung in Guantanamo oder anderen Folterlagern) heute im arabischen Raum wie im Sahel Anführer jener Banden sind, die dort berüchtigte Berühmtheit erlangten.

Offenkundig wurde die Verbindung aus wahhabitischer Missionierung und saudischer „Entwicklungspolitik“ im Gefolge der arabischen Revolten: In Tunesien wurden z. B. Bildungseinrichtungen auf nahezu allen Ebenen eingerichtet – bis hin zu Kindergärten, in denen vierjährige Mädchen Schleier tragen mussten. Wahhabitische Prediger tourten durch das Land und fanden gewaltigen Zulauf in den Moscheen. In Ägypten finanzierten die Saudis als Konkurrenz zu den Muslimbrüdern die salafistische Partei an-Nur (das Licht). Dass es nicht um Religion geht, sondern um Interessen, belegt der scheinbare Widerspruch, dass der Armeeputsch in Ägypten gegen den demokratisch gewählten, zur Muslimbrüderschaft zählenden Präsidenten Mohammed Mursi ganz offensichtlich von den Saudis getragen wurde: Schon am Tag nach dem Putsch sagte Saudi-Arabien dem Putschistenführer Abdel Fattah al-Sisi zwölf Mrd. USD Hilfe zu,19 wenige Tage später legte Kuweit noch mal vier Mrd. drauf.20

Der Putsch traf auch die USA überraschend, die – wie der Westen generell – gute Beziehungen zu den Muslimbrüdern und auch zu en-Nahda pflegten, versprach man sich von ihnen doch neue Stabilität. Außerdem galten die MB als verlässliche Partner, die aufgrund ihres Bekenntnisses zum Wirtschaftsliberalismus ausländische Kapitalinteressen nicht stören würden. Als Reaktion auf den Putsch verfügten die USA zunächst das Einfrieren umfangreicher Rüstungslieferungen und der Budgethilfe.21

Dies alles mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, doch steht hinter dem Putsch die Rivalität zwischen Saudi-Arabien und dem ultrareichen, diplomatisch höchst effizienten Qatar: Das Emirat hatte die Regierung der Muslimbrüder mit jährlich acht Mrd. USD unterstützt. Schützenhilfe lieferte der in Doha ansässige und in der arabischen Welt einflussreiche Sender al-Jazeera, von wo einer der Chefideologen der Muslimbrüder, Yusuf al-Qaradawi, in seinen Freitagspredigten die arabischen Massen agitiert. Als der Emir von Qatar sich unter Berufung auf die Pressefreiheit (!) weigerte, die Sendungen einzustellen, beriefen Anfang März 2014 die Saudis, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate ihre Botschafter aus Doha ab.22

Den Saudis sind die Muslimbrüder schon seit dem 2. Golfkrieg (1990/91) verhasst, da sie damals den Diktator Saddam Hussein gegen die USA unterstützten, während Saudi-Arabien sein Territorium zum Aufmarschgebiet für die US-Truppen machte. Ferner: Zentraler Programmpunkt der Muslimbrüder ist soziale Gerechtigkeit, ungeachtet des konsequenten Bekenntnisses zum Wirtschaftsliberalismus. Die MB hatten auf Wahlen gesetzt – und dabei in Tunesien wie in Ägypten Siege errungen. Dies ist für die saudische Despotie die rote Linie: Die MB, die im ganzen Raum von den islamistischen Bewegungen im Maghreb über die palästinensische Hamas bis hin zur türkischen AKP eine Massenbewegung darstellen, sind damit eine fundamentale Bedrohung des saudischen Herrschaftssystems wie desjenigen der Golfdespotien schlechthin.

Diese komplexe Gemengelage zeigt sich auch im Konflikt in Syrien: Gemeinsames Ziel der Golfstaaten wie der Türkei23 ist der Sturz eines der letzten säkularen Regime im Nahen Osten. Doch dahinter zeigen sich Widersprüche: Die Türkei hegt den neoosmanischen Traum, die Provinz Damaskus wieder heim ins AKP-Reich zu holen.24 Für Qatar ist wichtig der Bau einer Erdgaspipeline, die in der Türkei an die großen asiatisch-europäischen Transportwege angeschlossen werden könnte. Diese Pipeline kann nur über das Gebiet Syriens geführt werden. Daher hält Qatar seine Hand im Spiel im Kampf gegen Assad und unterstützt dortige Milizen, auch um sie nicht allein seinen Rivalen am Golf zu überlassen. Während Qatar, teils in Abstimmung mit Ankara, tendenziell die Muslimbrüder unterstützt, setzen die Saudis auf die mit al-Qaeda verbundene Nusra-Front. All dies scheint nicht auszuschließen, dass Finanzmittel auch an private Gewaltakteure fließen, die dem Rivalen näher stehen: So wird versucht, Einfluss auch auf diese Gruppen auszuüben. Für die Golfdespotien wie für die türkische AKP ist der Krieg in Syrien zugleich ein Kampf gegen den Iran, der seinerseits die Achse Teheran – Damaskus – Hizbullah erhalten muss. Hinzu kommen die Interessen der Großmächte wie der USA um ihren Einfluss in der Region generell und Russlands, das mit Syrien seinen letzten Verbündeten in der Region und seinen einzigen Marinestützpunkt außerhalb seines Territoriums, Tartus, verlieren könnte.

Die Parole „Assad muss weg“, die die widersprüchliche Koalition zu einigen scheint, vermag es also nicht, die widersprüchlichen Interessen zu verdecken, die innerhalb dieser Negativkoalition bestehen.25 Von besonderer Komplexität ist die Rolle der USA, die ja formal noch immer nicht dem von George Bush ausgerufenen „Krieg gegen den Terror“ abgeschworen haben. De facto aber tolerieren sie nicht nur die Unterstützung islamistischer Banden durch die die Golfstaaten und die Türkei, sie versuchen auch, diese Gruppen durch militärische Unterstützung selbst zu steuern.26 Da sie nach den zwei verlorenen Kriegen in Afghanistan und Irak und der allgemeinen Kriegsmüdigkeit ihrer Bevölkerung keine Bodentruppen mehr entsenden wollen, setzen sie abermals auf Stellvertreter, wobei ihnen selbst die Zusammenarbeit mit djihadistischen Terroristen opportun erscheint. So empfahl der Council on Foreign Relations (CFR) schon am 6. August 2012:

Die syrischen Rebellen wären heute ohne Al-Qaeda in ihren Reihen unermesslich schwächer. Die Einheiten der Freien Syrischen Armee sind weitgehend erschöpft, zerstritten, chaotisch und ineffektiv. (…) Al-Qaedas Kämpfer können jedoch helfen, die Moral zu steigern. Der Zustrom der Dschihadisten bringt Disziplin, religiöse Leidenschaft, Kampferfahrung aus dem Irak, Finanzmittel von sunnitischen Sympathisanten aus den Golfstaaten, und am wichtigsten, tödliche Resultate, mit sich. Kurz gesagt, die FSA braucht al-Qaeda jetzt.“27

In einem zur Veröffentlichung freigegebenen, bisher geheimen und an vielen Stellen noch geschwärzten Dokument der US-Administration vom 12. August 2012 wird belegt, dass die Obama-Regierung offensichtlich der Empfehlung des CFR folgte und tatsächlich auch direkt djihadistische Terrorgruppen unterstützte, wobei den Entscheidern bewusst war, dass solche Unterstützung zur Bildung einer Terrormiliz wie der des Islamischen Staates führen könnte:

“… es besteht die Möglichkeit der Bildung eines erklärten oder unerklärten salafistischen Fürstentums (principality) in Ost-Syrien (Hasaka und Der Zor), und dies ist genau das, was die die Opposition unterstützenden Mächte wollen, um das syrische Regime zu isolieren, das als die strategische Drehscheibe der schiitischen Expansion (Irak und Iran) anzusehen ist.“ Und weiter: “(Ein solches Fürstentum) wäre ein neuer Impuls im Blick auf die Vereinigung des Jihad in den sunnitischen Teilen des Irak und Syriens und dem Rest der Sunniten in der arabischen Welt gegen diejenigen, die sie als den gemeinsamen Feind, die Abweichler, betrachten. ISI könnte auch einen Islamischen Staat ausrufen durch die Vereinigung mit anderen terroristischen Organisationen im Irak und in Syrien, was eine schwerwiegende Gefahr im Hinblick auf die Einheit des Irak und den Schutz seines Territoriums darstellen könnte.“28

Die Errichtung eines solchen Staates durch Vereinigung der Terrorgruppen erscheint also durchaus als Option, auch wenn erkannt wird, dass dies den territorialen Bestand des derzeitigen Irak gefährden könnte. Neben der Unterstützung dieser Djihadisten versuchen die USA, „gemäßigte“ Milizen aufzubauen, die in Jordanien, Saudi-Arabien, Qatar und der Türkei ausgebildet werden.29 Diese sollen die Freie Syrische Armee unterstützen, über ihren Verbleib ist allerdings nie etwas bekannt geworden, so dass anzunehmen ist, dass diese Gruppen nach professioneller Ausbildung mitsamt ihren Waffen mit oder ohne Wissen ihrer Financiers und Ausbilder zu den djihadistischen Banden wechseln.

Nicht weniger doppelbödig erscheint auch das Agieren des NATO-Partners Türkei: Als am 22. Juni 2012 die syrische Luftwaffe ein türkisches Kampfflugzeug im syrischen Luftraum abgeschossen hatte, reagierte der Westen mit der Stationierung deutscher Patriot-Raketen an der türkischen Grenze zu Syrien. Zugleich fungiert die Türkei als Durchreiseautobahn für Djihadisten, die auch Todenhöfer anlässlich seines Besuchs beim IS, unbehelligt von der türkischen Polizei, nutzte.30 So scheint die Politik der USA und des Westens dem simplen und untauglichen Prinzip „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ zu folgen. Mangels eigener langfristiger Konzepte muss solche Politik zwangsläufig zu kontraproduktiven Folgen führen.

 

Jemen: Vorläufiger Höhepunkt sub-hegemonialer Auseinandersetzungen

Auch das ärmste arabische Land erlebte im Frühjahr 2011 seine teils blutigen Proteste. Im Kontext der Unterstützung der USA und des Westens für die Muslimbrüder mag es kein Zufall sein, dass Tawakkol Karman, prominentes Mitglied der Partei al-Islah, des jemenitischen Ablegers der Muslimbrüder, im Jahre 2011 zusammen mit zwei weiteren afrikanischen Frauen den Friedensnobelpreis erhielt. Der Kampf gegen das herrschende, den USA willfährige Regime von Präsident Ali Abdullah Saleh war auch in Jemen zugleich ein Kampf gegen das soziale Elend und die krassen regionalen Disparitäten. Die sozialen Spannungen, die sich schon seit Jahren in Entführungen und Lösegeldforderungen (meist für den Aufbau von Schulen, Straßen und Krankenstationen) geäußert hatten, schlugen nun um in einen militärischen Konflikt, in dem Stammeskrieger der zaiditischen (schiitischen) Huthi aus dem bitterarmen Norden schließlich die Hauptstadt Sana besetzten und den amtierenden Präsidenten Abdu Mansur Hadi in die Flucht nach Saudi-Arabien schlugen. Gegen ihre früheren Verbündeten im Krieg gegen das nasseristische Ägypten führen die Saudis nun einen unbarmherzigen Bombenkrieg, unterstützt von einer aus zehn Staaten bestehenden Koalition, der sich außer den Mitgliedern des Golfkooperationsrats auch die Königreiche Jordanien und Marokko sowie Ägypten angeschlossen haben, das so für die saudische Unterstützung des Militärputsches bezahlt.

Die Zugehörigkeit der Huthis zur schiitischen Konfession ermöglicht es, diesen im Kern sozialen Konflikt auf die Ebene des Kampfes der Konfessionen zu heben, wurden seitens der Golfdespotien doch schon die Aufstände des Jahres 2011 in Bahrain als von Teheran instrumentalisiert dargestellt. Dies passte hervorragend in das damalige Bild von Freund und Feind: Iran war der große Böse, Assad und die Hizbullah seine regionalen Stellvertreter. Doch der Vormarsch des IS und der Zusammenbruch der irakischen Armee scheinen die Karten neu gemischt zu haben: Die USA scheinen im Iran einen neuen Verbündeten zu entdecken. Darauf deutet auch das plötzlich zustande gekommene Abkommen zwischen den USA und Teheran im Streit um das iranische Nuklearprogramm. Können nur Verschwörungstheoretiker hier einen Zusammenhang vermuten? Offensichtlich mit Einverständnis Washingtons hat der Iran zwei Bataillone der Eliteeinheiten der Pasdaran nach Irak verlegt, ihr legendärer Kommandeur Kasim Suleimani hat offiziell Bagdad besucht, die iranische Armee wurde entlang der Grenze mit Irak in Alarmbereitschaft versetzt.31

Auch wenn die USA sich nicht mehr direkt in die Kampfhandlungen einmischen, verfolgen sie in der Region weiterhin ihre eigenen geostrategischen Interessen: 50 % des weltweit mit Schiffen transportierten Öls kommen aus dem Roten Meer durch das Bab Mandab und aus dem Persischen Golf, wo sie die Straße von Hormuz durchqueren müssen. Zur Kontrolle dieses Seewegs haben die USA eine Reihe strategischer Basen aufgebaut, die von Djibouti am Horn von Afrika (das mit Frankreich geteilte Camp Lemonnier) über die zu Jemen gehörende Insel Socotra und die omanische Insel Masirah bis zur Insel Diego Garcia reichen: Damit kontrollieren sie den gesamten Indischen Ozean. Auf Socotra unterhalten die USA eine Marinebasis mit Einrichtungen für U-Boote, Nachrichtenkommandozentralen, einen Flughafen, auf dem sowohl Langstreckenbomber starten und landen können wie auch Stealth-Drohnen,32 die wohl hauptsächlich in Jemen und Somalia zum Einsatz kommen. Im März 2012 waren dort rd. 10.000 US-Soldaten stationiert.33

Deutlich ist, dass Riad mit dem erbarmungslosen Bombenkrieg im Jemen das Signal zu setzen versucht, dass es die entscheidende Ordnungsmacht auf der Arabischen Halbinsel ist – und zugleich hegemonialer Gegenspieler des Iran. Der Wille zum Ausgleich mit dem Iran, den US-Präsident Barack Obama mit dem noch nicht ratifizierten Abkommen verbindet, hat bei den Saudis die Alarmglocken schrillen lassen: Zum Gipfel der Staaten des Golfkooperationsrats mit Obama in Washington reiste der neue saudische König Salman demonstrativ nicht an, sondern ließ sich durch Kronprinz Mohammed bin Nayef und den stellvertretenden Kronprinzen Mohammed bin Salman vertreten.34 Die Saudis fürchten – ebenso wie Israel – um ihr Alleinstellungsmerkmal als privilegierter Partner der USA. Doch zugleich sehen sie darin eine Chance für ihre politische Emanzipation: Auf jenem GCC-Gipfel mit Obama machten sie deutlich, dass auch Saudi-Arabien und möglicherweise weitere Golfstaaten ihr eigenes Nuklearprogramm vorantreiben wollen.35

Damit wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt, der voll die Befürchtungen jener bestätigt, die seit Jahren ungehört eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten gefordert haben. Das Nuklearabkommen mit Iran, das diesem die atomare Anreicherung nur in eng begrenztem Umfang gestattet, wird nun genutzt, um hegemoniale Ziele der Saudis in der Region zu verwirklichen. Ob nun die USA selbst, wie in Teilen der arabischen Welt befürchtet,36 oder, begünstigt durch ihr laissez-faire gegenüber dem Verbündeten, Saudi-Arabien einen Flächenbrand vom Mittelmeer bis zum indischen Subkontinent auslösen, läuft in der Konsequenz auf dasselbe hinaus: Ein allgemeiner Kampf der Sunniten gegen die Schiiten würde eine Büchse der Pandora öffnen.

Der Krieg im Jemen, bei dem bis Anfang Mai 2015 mehr als 1.400 Menschen getötet wurden (zehn Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen),37 hat aber noch weitere Konsequenzen: Von Socotra wie von Djibouti aus hatten die USA seit 2002 immer wieder Angriffe mit Drohnen auf vermutete oder behauptete Personen geflogen, die mit al-Qaeda in Verbindung gebracht wurden. Der Krieg der Saudis gegen die (schiitischen) Huthi, die als fünfte Kolonne des Iran eingestuft werden, bringt nunmehr eine Verkehrung der lokalen Fronten mit sich: Unter saudischer Kontrolle des Jemen werden die USA es schwerer haben, ihre gezielten Tötungen fortzusetzen, da al-Qaeda auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) wieder – wie damals in Afghanistan – zum „natürlichen“ Alliierten der Saudis wird. Auch der der Küche der US-amerikanischen und saudischen (und türkischen?) Dienste entsprungene „Islamische Staat“ des selbsternannten „Kalifen“ Abu Bakr al-Bagdadi, der mit Sicherheit noch Verbindungen zu seinen einstigen Erfindern haben dürfte, könnte in einem solchen Kampf wieder zum freundlichen (sunnitischen) Partner werden.

 

Perspektiven?

Mit dem „Islamischen Staat“ tritt ein neuartiger, Staatlichkeit beanspruchender Akteur auf den Plan. Hier kämpft eine ungeheuer brutale, zugleich aber disziplinierte und hierarchisch aufgebaute Truppe, die inzwischen eigenständig und unabhängig von fernen Auftraggebern effizient agiert. Mit der Proklamation eines Kalifats durch al-Bagdadi ist das Chaos im Mittleren Osten in eine qualitativ neue Phase getreten: Im Gegensatz zu al-Qaeda, die sich dem Kampf gegen „den Westen“ verschworen hat, erhebt „Kalif Ibrahim“ erstmals den Anspruch auf Territorialität und eine Staatlichkeit, die Syrien, den Libanon und wesentliche Gebiete des Irak umfassen soll. Dieser „Islamische Staat“ scheint sich derzeit zu einer regionalen Macht auszuweiten, bekennen sich mittlerweile doch auch djihadistische Gewaltakteure in zahlreichen anderen Ländern zu Abu Bakrs Kalifat. Inwieweit solche Bekenntnisse nur dazu dienen, die jeweiligen Gruppen aufzuwerten und für den Zustrom von Kämpfern attraktiv zu machen oder ob aus solchen Bekenntnissen auch eine zentrale Kommandogewalt des „Kalifen“ erwächst, wird abzuwarten sein. Der IS selbst bemüht wirkmächtig religiöse Symbolik: Mit seinem Kriegsnamen Abu Bakr knüpft der „Kalif“ an den ersten rechtgeleiteten Kalifen und direkten Nachfolger des Propheten an und beschwört symbolisch den Beginn des „goldenen Zeitalters“ arabischer Herrschaft. Mit „al-Bagdadi“ verweist der nicht in Bagdad, sondern in Samarra geborene Djihadist auf das Abassidenreich, das 762 die Stadt Bagdad gegründet hatte.

In den von ihm kontrollierten Gebieten in Syrien und Irak hat sich IS eine territoriale Basis geschaffen, die erstmals konkret die bestehende territoriale Ordnung des Nahen und Mittleren Ostens infrage stellt. Dieses „Kalifat“ könnte 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs der Ordnung von Sèvres, die auf dem britisch-französischen Sykes-Picot-Abkommen von 1916 basierte, endgültig den Todesstoß versetzen: Im Pariser Vorort Sèvres war 1920 das Osmanische Reich von den Siegermächten aufgeteilt worden. Die imperialistischen Großmächte hatten damals jene bis heute gültigen Grenzen gezogen und Regime installiert (oder gestürzt), wie dies ihren Interessen oder momentanen politischen Zielsetzungen entsprach, keinesfalls aber bilden die Grenzen von Sèvres die ethnischen oder religiös-kulturellen Gegebenheiten der Region ab. All dies, nicht nur die damals ungelöste Kurdenfrage und das Palästinaproblem, kommt nun wieder auf die politische Tagesordnung. Der vollendete regime change im Irak und in Libyen und der seit drei Jahren mittels bewaffneter Subunternehmer betriebene regime change in Syrien erweisen sich als ein Sprengsatz, der nun unmittelbar die territoriale Ordnung der Region zu bedrohen scheint.

Im Zuge der Arabellion gelang es zwar, Diktatoren von der Macht zu vertreiben – oft aber um den Preis der Zerstörung bestehender Staatlichkeit. Die multikonfessionellen und multiethnischen Gesellschaften des Nahen Ostens versinken in Chaos und Barbarei – in Somalia, Afghanistan, Irak, Libyen, wo inzwischen Banden und Milizen stellvertretend oder auf eigene Rechnung kämpfen und Religionszugehörigkeit zum neuen identitären Konzept erheben. Der „Islamische Staat“ schreitet von Erfolg zu Erfolg: Trotz massiver Bombardements ist er auf dem Vormarsch, die Zahl seiner Kämpfer steigt. In der arabischen Welt wächst die Unterstützung durch Terrorgruppen, die sich ihm in Algerien, Libyen, Jemen und anderswo anschließen. Der vom Westen initiierte Zerfall von Staaten impliziert nicht nur das Ende der „Ordnung“ von Sèvres. Die Übertragung des fatalen Huntington’schen Paradigmas vom „Kampf der Kulturen“ auf die politische Landschaft des Nahen und Mittleren Ostens droht die gesamte Region in ein Chaos zu stürzen, in dem die Religion als neue staatsbildende Ideologie für Jahrzehnte zu blutigen Auseinandersetzungen, Vertreibungen, ja Völkermord führen kann. Die Konfessionalisierung der Konflikte befördert die Vorstellung von neuen, auf ethnoreligiöser Identität basierenden politischen Gemeinwesen – ein Konzept, das bisher in der Region allein Israel weitgehend durchgesetzt hat. Dass gerade diese Entwicklung in der Region als Brandbeschleuniger wirken kann, scheint bisher kaum bedacht worden zu sein.

Nicht nur der Anspruch auf Staatlichkeit, den der IS – im Gegensatz etwa zu al-Qaeda – formuliert, erscheint bedrohlich: Wird das Konzept ethnoreligiöser Identität zum neuen Ordnungsmuster für staatliche Organisation im einst multiethnischen und multikonfessionellen Orient, dann stellen die barbarischen Akte des IS, die Vertreibung von Bevölkerungsgruppen, ihre teilweise Versklavung möglicherweise nur den Anfang einer Entwicklung dar, für die der Völkermord an den Armeniern – im Namen des türkischen Nationalismus – nur ein Vorgeschmack war.

 

1_ Brzezinski, Zbigniew: Strategic Vision: America and the Crisis of Global Power, New York 2012.

2_ So der treffende Titel des soeben erschienenen, hoch informativen Buches von Karin Leukefeld: Flächenbrand, Köln 2015.

3_ Interview mit der algerischen Tageszeitung Liberté, 19, Februar 2011.

5_ Ruf, Werner: Der Islam – Schrecken des Abendlands. Wie sich der Westen sein Feindbild konstruiert, Köln, 2. Aufl. 2014.

6_ Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations, in: Foreign Affairs, Summer 1993, S. 22–49.

7 Ebenda.

8_ Pfaff, William: Arabisches Inferno, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2012, S. 97 – 105.

9_ Guillard, Joachim: Neoliberaler Kolonialismus: Irak unter US-Besatzung, in: Kraitt, Tyma (Hrsg.): Irak. Ein Staat zerfällt. Hintergründe, Analysen, Berichte, Wien 2015, S. 95–118.

10_ Dodge, Toby: Can Irak be saved? In: Survival vol. 56, 5/2014, S. 7–19.

11_ Napoleoni, Loretta: Der islamische Phönix, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 3/2015 S. 45–55, hier S. 46.

12_ Todenhöfer, Jürgen: Inside IS – 10 Tage im „Islamischen Staat“. München 2015, S. 38.

13_ Guillard: a. a. O., Kneissl, Karin: Von der Entstehung und Zerstörung des irak im Namen des Erdöls. In: Kraitt (Hrsg.) a. a. O. S. 37–56. S. auch: Leukefeld: a. a. O., S. 94–98.

14_ von Sponeck, Hans-Christof: Irak, die Sanktionspolitik des UN-Sicherheitsrats und die humanitäre Ausnahmeregelung. In: Kraitt (Hrsg.): a. a. O., S. 77–94.

16_ Gresh, Alain: The Gulf Crisis and the Islamic Dimension: Continuity and change in Sowjet Policy, in: Middle East Report Nov–Dec 1990, S. 4–10.

17_ Ould Bah, Mohamed Fall/Ould Cheikh, Abdel Wedoud: Frömmigkeitsrente. ‚Moralisches Unternehmertum’ und islamische Finanznetze, in: Inamo Nr. 61 (Frühjahr 2010), S. 23–26, hier S. 23.

18 Ould Bah: a. a. O. S. 24.

20_ El Gawhary, Karim: Politische Einflussnahme der Golfstaaten in Ägypten: Griff zum Scheckbuch, http://de.qantara.de/wcsite.php?wc_c=21311&wc_id=23913 [14-09-13].

21_ Lt. New York Times vom 9. Oktober 2013 umfasste dies die vereinbarte Lieferung von Apache-Hubschraubern, Ersatzteilen für M1-A1-Panzer und F-16-Kampfflugzeuge sowie eine Budgethilfe im Umfang von 260 Mio. $. http://www.nytimes.com/2013/10/10/world/middleeast/obama-military-aid-to-egypt.html?hp&pagewanted=all [13.10.13].

23_ Eine der ersten Entscheidungen der von en-Nahda geführten tunesischen Regierung war der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Syrien. Ebenso war Tunis gemeinsam mit der Türkei treibende Kraft bei der Gründung des Syrischen Nationalrats SNC.

24_ Cakir, Murat: Neo-osmanische Träume. Über das Werden einer Regionalmacht, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2011.

25_ Ruf, Werner: Revolution und Konterrevolution in Nahost: Vom arabischen Frühling zum islamistischen Winter? In: Edlinger, Fritz/Kraitt, Tyma (Hrsg.): Syrien. Hintergründe, Analysen, Berichte, Wien 2013, S. 157–174.

27 http://www.cfr.org/syria/al-qaedas-specter-syria/p28782 [10-08-12]. Vgl. “Die Welt” 13. Aug. 2012.

30_ Todenhöfer: a. a. O., S. 170–173.

33_ So der o. a. Bericht von DEBKA-Files, einer dem israelischen Geheimdienst nahe stehenden Seite.

34_ Ebenda.

36 Belkaid, Akram: Washington débordé parl’affrontement entre Riyad et Teheran. In: Le Mode Diplomatique, Mai 2015 (frz. Ausgabe), S. 4 – 5.

37_ FAZ, 12. Mai 2015, S. 5.