Bitterer Beigeschmack

Hefteditorial iz3w 351 (Nov./Dez. 2015)

Sorgen, Sorgen, Sorgen. In diesen Tagen machen sich so viele Menschen Sorgen. Wie beispielsweise Winfried Ex aus dem beschaulichen Kurort Badenweiler. Er schreibt in einem Leserbrief an die Badische Zeitung: »So genannte Wirtschaftsflüchtlinge haben keinen Platz hier, rauben den wirklich Bedürftigen den Raum und sollten unverzüglich ‚rückgeführt’ werden. Die uns Regierenden haben geschworen, ‚Schaden vom deutschen Volk abzuwenden’. Die derzeitig geübte Lock-/Willkommenskultur bewirkt genau das Gegenteil.«

Wir kennen Herrn Ex nicht. Gut möglich, dass er ein unsympathischer Fiesling ist, dem wir aus dem Weg gingen, wenn wir ihn träfen. Ebenso gut möglich ist, dass er ein freundlicher Mensch mit guten Manieren und liebenswerten Eigenschaften ist. Einer, wie wir ihn alle im Verwandten- und Bekanntenkreis haben. Ein Mensch, den wir persönlich schätzen, weshalb wir uns auf engagierte Diskussionen mit ihm über Äußerungen wie die obige einlassen. Auch und gerade dann, wenn uns seine Wortwahl irritiert. Wir mögen ihn zu sehr, um seine Ansichten unwidersprochen hinzunehmen oder ihn als Nazi zu beschimpfen.

Wir halten also mit Argumenten gegen Herrn Ex: »Es stimmt nicht, dass Flüchtlinge Schaden anrichten. Sie sichern unsere Rente in Zeiten, in denen die deutsche Bevölkerung schrumpft.« Wir verweisen auf eine Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, laut der die 6,6 Millionen Menschen ohne deutschen Pass den hiesigen Sozialkassen im Jahr 2012 einen Überschuss von 22 Milliarden Euro beschert haben. Wir ergänzen, dass laut Studie jeder ausländische Mensch pro Jahr durchschnittlich 3.300 Euro mehr Steuern und Sozialabgaben zahlt, als er oder sie an staatlichen Leistungen erhält, und dass das Plus pro Kopf in den letzten zehn Jahren um mehr als die Hälfte gestiegen ist.

Wenn Herr Ex weiter zweifelt, holen wir aus. Wir bemühen Herbert Brücker, einen Professor für Volkswirtschaftslehre, der die Exes der Republik in einem Interview regelrecht beschwört: »Jetzt in Bildung und Ausbildung der Flüchtlinge zu investieren, ist sehr gut angelegtes Geld. Wir wissen aus früheren Migrationsbewegungen, dass das einer Volkswirtschaft hohe Renditen bringt. Jeden Euro, den wir dafür ausgeben, werden wir mit Zins und Zinseszins in den Sozialkassen zurückbekommen. Am Anfang kostet das wie jede Investition Geld, aber später zahlen die Menschen Steuern und Abgaben, und sie brauchen gleichzeitig keine oder wenige Sozialleistungen.«

Falls Herr Ex in unserem Streitgespräch hartnäckig bleibt, bemühen wir Gewährsleute, die bei Konservativen hohes Ansehen genießen. Etwa den Generalsekretär des Deutschen Bauernverbandes, Bernhard Krüsken, der die deutsche Scholle künftig gerne von Nichtdeutschen beackern lassen will: »Die Beschäftigung von Flüchtlingen in der Landwirtschaft ist absolut sinnvoll. Wenn wir mehr Möglichkeit hätten, werden wir das auch begrüßen.«

Und einem weiteren Argument kann sich Herr Ex doch nicht verschließen, vor allem, wenn es von einem Wirtschaftsmann wie Christoph Minhoff vom Spitzenverband der deutschen Lebensmittelwirtschaft vorgebracht wird: »Wenn mehr Menschen in Deutschland leben, gibt es auch mehr Kunden und damit mehr Umsatz für die Lebensmittelbranche.« Wir bemühen die taz, die Leuten wie Herrn Ex ebenfalls wuchtige Argumente entgegenschleudern will, und die deshalb Minhoff mit einer Modellrechnung assistiert: 1,36 Milliarden Euro Umsatzplus gäbe es durch die 800.000 Geflüchteten bei Lebensmitteln, selbst wenn nur der Mindestsatz von 144,66 Euro nach Hartz IV zugrunde gelegt sei!

Selbst wenn Herr Ex nun doch beeindruckt ist und wir das Rededuell gewinnen – wir fühlen uns hinterher gar nicht gut. Wir wissen, welch bitteren Beigeschmack es hat, den ökonomischen Nutzen von Geflüchteten zu bemühen, um Rassismus zu begegnen. Wider besseren Wissens hintertreiben wir die Universalität der Menschenrechte. Wir ärgern uns, zu wenig über Fluchtursachen und die Schuld Europas an der Misere gesprochen zu haben. Wir gingen davon aus, dass Herr Ex nur mit wirtschaftlichen Argumenten zu beeindrucken ist, und erlegten uns diskursive Selbstbeschränkung auf. So gesehen hat eigentlich Herr Ex gewonnen.

Wir fassen daher einen guten Vorsatz: Gerade in Zeiten, in denen das »Sommermärchen« zum »Winteralptraum« für Geflüchtete zu werden droht (so konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza), biedern wir uns bei Herrn Ex nicht mehr an. Gerade wenn wir ihn eigentlich mögen, sagen wir ihm, dass er wie ein Rassist spricht und wir ihm die Freundschaft aufkündigen, wenn das so bleibt. Wir lassen uns von Leuten wie ihm nicht mehr dazu zwingen, dem Wort »schädlich« das Wort »nützlich« entgegen zu halten. Das sind wir uns, aber mehr noch den Geflüchteten und ihrer Würde schuldig, findet

die redaktion

P.S.: Im nächsten Heft bringen wir abweichend von der bisherigen Planung einen Themenschwerpunkt zu Refugees (siehe Vorschau auf Seite 50). Herr Ex wird darin keine Rolle spielen, die Vorstellungen von Geflüchteten umso mehr.