Zurück in die Neunziger?

Eine Momentaufnahme der Stimmung in Argentinien vor der Stichwahl zwischen Mauricio Macri und Daniel Scioli

Am 25. Oktober fanden in Argentinien die Präsidentschaftswahlen statt. Da es keine klaren Mehrheiten gab, stehen nun am 22. November Stichwahlen an, bei denen mit Mauricio Macri und Daniel Scioli Politiker antreten, die rechts von Präsidentin Cristina Kirchner stehen. Angesichts der Auswahl sind die Wahlen für viele nur eine Wahl für das kleinere Übel.

Überraschung auf allen Seiten, Bestürzung, Angst und kollektiver Schockzustand in den progressiven und emanzipatorischen Teilen der Gesellschaft. Aus den Präsidentschaftswahlen am 25. Oktober ging Daniel Scioli, Kandidat für die peronistische Regierungspartei Front für den Sieg (FpV) mit einem unerwartet geringen Vorsprung von nur 2,93 Prozentpunkten vor Mauricio Macri des Oppositionsbündnisses Cambiemos (siehe LN 497) als Sieger hervor. Zum ersten Mal in der argentinischen Geschichte muss eine Stichwahl durchgeführt werden, um den neuen Präsidenten zu bestimmen. Zum ersten Mal existiert die Möglichkeit, dass die – so genannte Neue – Rechte auf demokratischem Weg die Regierung übernimmt. In den verbleibenden Tagen bis zum 22. November werden die beiden politischen Lager um die gut 20 Prozent der Wählerstimmen kämpfen, die der dritte Kandidat, Sergio Massa, im ersten Wahlgang erhalten hatte. Massa war für das Bündnis Vereint für eine neue Alternative (UNA) angetreten.

Die FpV hatte vor allem auf eine starke Fraktion der Campora – der kirchneristischen Jugendorganisation – im Parlament und auf die Unterstützung der Bevölkerung in der Provinz Buenos Aires spekuliert. Beides blieb ihr versagt: Zwar legte die Regierungspartei im Senat zu und kommt zusammen mit Verbündeten fast auf die Zweidrittelmehrheit. Im Parlament profilierte sich jedoch das Oppositionsbündnis Cambiemos – ein Bündnis mehrerer konservativer Parteien, vor allem aus Macris Partei PRO (Republikanischer Vorschlag). Die kirchneristische FpV und ihre Verbündete verloren dagegen ihre seit Jahren etablierte Mehrheit.

In der Provinz Buenos Aires hat ein Rechtsruck bereits stattgefunden: Die Kandidatin Maria Eugenia Vidal des konservativen Cambiemos-Bündnisses wird Gouverneurin der Region, in der gut ein Drittel der wahlberechtigten Bevölkerung lebt. Ein bedeutender Velust für die FpV, da die Provinz seit 28 Jahren Bastion des Peronismus und Herzstück der kirchneristischen Regierungsfähigkeit ist. Gerade dort hatte die FpV mit dem Erhalt des Regierungsanspruchs gerechnet.

Nach ihrem Sieg kündigte die zukünftige Gouverneurin Vidal an, „Zukunft gegen Vergangenheit zu tauschen“. Der Versprecher bringt ihre Politiklinie auf den Punkt: Noch vor Amtsantritt verkündete sie die Beendigung verschiedener öffentlicher Sozialpolitikprogramme, beispielsweise des Programa Envión, das den Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesundheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in prekärer Lebenssituation fördert.

Auch Macri hat in der Vergangenheit schon einen Vorgeschmack auf ein etwaiges Regierungsprogramm des Parteienbündnisses gegeben. Als Bürgermeister von Buenos Aires kürzte der aktuelle Präsidentschaftskandidat seit Dezember 2007 die Gelder für öffentliche Bildung und Kultur, Gesundheit und Wohnraum. Die Menschen in prekären Wohnvierteln warten weiterhin auf Grundversorgung; andere Viertel werden direkt aufgelöst, der Boden verkauft, die Menschen verdrängt. Öffentliche Plätze werden zu Gunsten der „Sicherheit der Bürger*innen“ eingezäunt. Somit verschwinden unter Macri sinnbildlich auch die letzten öffentlichen Räume in der Hauptstadt. Proteste gegen die zunehmende Privatisierung der Grundversorgung und die Verdrängung der Marginalisierten werden mit Repression beantwortet. Die Immobilienspekulation floriert, ebenso wie das Geschäft von privaten Kliniken und Schulen. Das Leben in der Hauptstadt muss mensch sich heutzutage leisten können.

Die Schulden der Stadt Buenos Aires nahmen zwischen 2007 und 2013 um 130 Prozent zu. Unter Macri als Bürgermeister floss viel Geld in Marketing-Kampagnen der Stadtregierung, aber auch in den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur. Der nicht unumstrittene „Metrobus“ beispielsweise, eine Extraspur für Busse entlang einiger der Hauptverkehrsadern, vermochte viele Nutzer*innen trotz der harten Kürzungen im öffentlichen Bereich von einer „erfolgreichen Administration“ der PRO zu überzeugen.

Das Agieren Mauricio Macris als Bürgermeister der Hauptstadt und die Ankündigungen von Details seines Regierungsprogramms weisen somit klar in Richtung Vergangenheit, in Richtung Neoliberalismus der Neunzigerjahre: Mehr Markt, weniger Staat.

Macris grundlegender Rückhalt sind die konservative Mittelschicht zusammen mit Teilen der katholischen Kirche, aber vor allem die wirtschaftliche Elite des Landes und das ausländische Kapital. So bekundeten unter anderem der Argentinische Wirtschaftsverband AEA (Asociación Empresaria Argentina) und die „Geierfonds“ (die von der US-Justiz unterstützten Hedgefonds die sich der Umschuldung verweigern, s. LN 480 und 483/484) ihren Wunsch nach einer Zusammenarbeit mit einem siegreichen Macri. Gerüchten zufolge soll der Kandidat nach der Eröffnung der Wahlergebnisse zuerst mit dem US-amerikanischen Botschafter telefoniert haben.

Dieser Kontakt passt zumindest zu Macris außenpolitischem Programm. So besteht die Absicht, der neoliberal-konservativen Allianz des Pazifiks beizutreten und die progressiveren Institutionen der lateinamerikanischen Integration – MERCOSUR, UNASUR, CELAC – abzuschwächen. Wirtschaftspolitisch steht die Abwertung des Peso auf dem Programm, um die Inflation einzudämmen und attraktivere Bedingungen für ausländische Investitionen zu schaffen. Eine breit angelegte Öffnung der Wirtschaft und Privatisierungen im öffentlichen Sektor sind geplant. Vielen sind diese klassischen neoliberalen Maßnahmen wohlbekannt und ihre schmerzhafte Erfahrung hat sich tief ins Gedächtnis eingebrannt.

Insofern stellt sich die Frage, wie Macri ein so erfolgreiches Ergebnis im ersten Wahlgang erreichen konnte. Die bedingungslose Unterstützung der großen Medien spielte dabei sicher eine grundlegende Rolle. Von Bedeutung waren aber auch seine Bekundungen, die großen sozialen Errungenschaften der letzten Jahre – wie das Kindergeld oder die staatliche Kontrolle über den Erdölkonzern YPF – aufrechterhalten zu wollen. Dass es genau seine Partei PRO war, die im Parlament konsequent gegen diese Errungenschaften gestimmt hatte, scheinen viele dabei zu vergessen oder nicht zu wissen. „Wir haben alle das Recht, den Kandidaten zu glauben oder nicht zu glauben. Aber wir haben nicht das Recht anzunehmen, dass unsere Gesellschaft mit dem Bewusstsein über die Vergangenheit vor Augen wählt“, kommentiert der Anthropologe Alejandro Grimson die Desinformation.

Die Stärke Macris begründet sich aber auch in der Schwäche seines Rivalen Scioli – beziehungsweise des Kirchnerismus, der keinen überzeugenderen Kandidaten aufstellen konnte – und der argentinischen Linken. Ein Teil der Stimmen für das konservative Bündnis Cambiemos kommt vermutlich von Protestwähler*innen, die den Führungsstil der aktuellen Präsidentin Cristina Kirchner als autoritär und konfliktreich wahrnehmen. Obwohl Scioli als moderat gilt und er dem konservativen Peronismus zuzuordnen ist, konnte er diese Proteststimmen nicht für sich gewinnen.

Im Gegensatz zu seinem Kontrahenten setzt Scioli als Kandidat der Regierungspartei außenpolitisch auf die Vertiefung der lateinamerikanischen Integration. Innenpolitisch kommt auch er um wirtschaftspolitische Reformen nicht herum, selbst wenn er dabei den Fokus auf graduelle Veränderungen legt. Im Gegensatz zu Macri wird es für den peronistischen Scioli aber schwieriger, die sozialen Errungenschaften aufzugeben. Denn seine Kandidatur wird von den nationalen Klein- und Familienunternehmern gestützt, sowie vom progressiven Teil der Mittelklasse und von einem breiten und heterogenen Bündnis sozialer Organisationen und Bewegungen. Letztere vertreten zum Teil auch radikalere, linke Positionen. Im Falle eines Sieges von Scioli werden sie womöglich in der Lage sein, soviel Druck aufzubauen, dass die Strukturanpassung eben nicht großteils auf Kosten der abhängig Beschäftigten und der im informellen Sektor Tätigen verläuft.

Klar ist, dass die Übereinstimmung über den durch Druck von der Straße eröffneten Linksruck nach 2001 brüchig geworden ist. Gleichzeitig politisiert sich die gesellschaftliche Debatte zunehmend und der Grad an Mobilisierung ist so hoch wie seit der damaligen Krise nicht mehr. Überall wird diskutiert, am Arbeitsplatz, zu Hause, auf der Straße, mit Freund*innen und Unbekannten, in Bussen, Bahnen und Cafés, Universitäten … In Buenos Aires protestierten am 31. Oktober etwa 7000 Menschen unter der Parole „Amor si, Macri no“ („Ja zur Liebe, Nein zu Macri“). Auch in anderen Städten wie Rosario und La Plata gab es Demonstrationen. Landesweit wurde die Kampagne „Es ist uns nicht egal. Macri – niemals!“ gestartet und linke Gruppen und Bewegungen mobilisieren wieder für die asambleas patrioticas, die basisdemokratischen Nachbarschaftsversammlungen, die im Zuge der Krise 2001 entstanden, um so wieder mehr Beteiligung auf lokaler Ebene zu entfachen – und tatsächlich auch Wahlkampf für Daniel Scioli zu betreiben. Die emanzipatorischen sozialen Bewegungen und Gruppen waren sich vor einigen Wochen noch fast einig darüber, dass die drei möglichen Kandidaten Macri, Scioli und Massa keine substanziellen Unterschiede aufweisen würden – bzw. alle gegen die Interessen der Mittelklasse und der einfachen Bevölkerung seien. Mit Nicolás del Caño für das linke Arbeiter*innenbündnis FIT gab es zumindest einen Präsidentschaftskandidaten der traditionellen Linken – der mit 3,23 Prozent der Stimmen allerdings weit abgeschlagen auf dem vierten Platz landete.

Aktuell spaltet sich die Linke entlang der Frage „Stimme ungültig machen oder Scioli wählen?“ Nachdem eben die wichtigsten Referent*innen des FIT dazu aufgerufen hatten, bei der Stichwahl ungültig zu wählen, positionieren sich eine ganze Reihe linker und sozialer Bewegungen und Gruppen, Intellektueller und Journalist*innen auf Seiten Sciolis und rufen zu einer aktiven Wahlkampf-unterstützung für ihn auf. Dabei geht es weniger darum, die etwa drei Prozent der FIT-Wähler auf Seiten Sciolis zu bringen, sondern vor allem um die gut 20 Prozent der Stimmen, die Sergio Massa auf sich vereinen konnte. So verschiebt sich die Debatte. Es geht nicht so sehr um grundsätzliche Diskussionen über das aktuelle Entwicklungsmodell oder die Veränderung der wirtschaftlichen Machtstrukturen. Sondern darum, dass auch unter einer Präsidentschaft Sciolis für viele Linke die Rolle als kritische, organisierte und kämpferische Opposition von unten vorgezeichnet ist. Dabei besteht aber die Zuversicht, dass die politischen Rahmenbedingungen für die Kämpfe um weitere Errungenschaften auf dem Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit und basisdemokratischer Partizipation ungleich günstiger wären als unter Macri. Scioli ist für viele das kleinere Übel von beiden und deshalb ist es nicht egal, wer gewinnt. Es ist beispielhaft, dass es hier zu einem Antiwahlkampf kommt, anstatt dass Wahlkampagne für einen Kandidaten gemacht wird. Die erfolgversprechendste Strategie sehen die sozialen Bewegungen momentan darin, den Wahlkampfdiskurs Macris zu entlarven, indem sie die Interessen, für die er wirklich steht, konsequent sichtbar machen und seine katastrophalen politischen Entscheidungen aus den vergangenen Jahren auf breiter Front in die Öffentlichkeit bringen.