Deutsche Tornados über Nahost

Man muss kein Pazifist sein,
um diesen Militäreinsatz nicht für richtig zu halten.
Chistiane Hoffmann,
Der Spiegel

Bomben werden den IS stärken.
Sarah Wagenknecht

70 Prozent der Bundestagsabgeordneten haben am 4. Dezember für eine militärische Beteiligung der Bundeswehr an der US-geführten Anti-IS-Koalition in Syrien und Irak gestimmt – mit einer Fregatte, sechs Tornado-Aufklärungsmaschinen, einem Luftbetankungs-Airbus und bis zu 1.200 Soldaten. Das wird der umfangreichste derzeitige Auslandseinsatz der Bundeswehr werden.
Das Mandat war im Eilverfahren, binnen einer Woche, durchs Parlament gepeitscht worden.
Bereits das erste Jahr dieses Einsatzes wird mit Zusatzkosten von 134 Millionen Euro veranschlagt.
Direkte Eingriffe in das Kriegsgeschehen, so betonen manche Befürworter und Kommentare, sind im Mandat nicht vorgesehen. Doch wer sich davon beruhigen lässt, verschließt die Augen vor der Realität. Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, meint jedenfalls: „Beim Mandat […] muss aber klar sein, dass es um einen Kampfeinsatz geht, der […] umfassenden Waffeneinsatz erfordern kann. Denn wenn zum Beispiel ein Aufklärungsflugzeug abgeschossen werden sollte, muss die Bundeswehr den Piloten auch mit Waffengewalt dort herausholen können.“ In solchem Falle nicht verzugslos zu handeln, könnte potenziellen Gefangenen ein Schicksal bescheren wie dem jordanischen Kampfpiloten Moaz al-Kasasbeh, der dem IS in die Hände fiel, in einem Käfig zur Schau gestellt und bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. Das muss die Bundesregierung wohl ähnlich sehen, denn in ihrem Mandatsantrag hat sie vorsichtshalber formuliert: „Die eingesetzten Kräfte haben zur Durchsetzung ihrer Aufträge das Recht zur Anwendung militärischer Gewalt.“
Was mag die klügeren unter den Volksvertretern der Abstimmungsmehrheit zu ihrem Votum bewegt haben?
Eine parlamentarische Evaluation früherer Kriegseinsätze der Bundeswehr, die die Sinnhaftigkeit militärischer Lösungsversuche bei Konflikten in anderen Ländern belegte oder auch nur nahelegte, kann es nicht gewesen sein. Denn solche Evaluationen gab es bisher nicht. Und fänden sie statt, wäre der angesprochene Sinnhaftigkeitsnachweis schwerlich zu erwarten. (Interessante Nebenfrage: Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994, das den Parlamentsvorbehalt für den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland bekräftigte oder – nach anderer Lesart – überhaupt erst konstatierte, haben wechselnde Bundestagsmehrheiten jeden militärischen Missionsantrag der Regierung abgenickt. Derzeit laufen, den syrischen inbegriffen, 19 derartige Einsätze. Parallel. Warum aber haben die Parlamentarier noch keinen einzigen Auslandseinsatz daraufhin untersucht, inwieweit die erklärten Zielstellungen erreicht wurden und was daraus für künftige Einsätze zu schlussfolgern wäre?)
Von einer hieb- und stichfesten völkerrechtlichen Basis für den jetzigen Einsatz konnten dessen parlamentarische Befürworter auch nicht ausgehen. Ein UN-Mandat für die militärische Bekämpfung des IS besteht nicht. Die Bundesregierung hat in ihrem Antrag an das Parlament zwar einiges zusammengerührt – vom Selbstverteidigungsrecht Iraks gemäß Artikel 51 der UN-Charta, das unterstützt werden solle, über unser eigenes Selbstverteidigungsrecht gemäß desselben Artikels (die Anschläge von Paris waren Anschläge auf Frankreich, vulgo auf die EU, vulgo auf Deutschland) bis zur Anrufung der Beistandsklausel des EU-Vertrages (Artikel 47, Absatz 7) durch Frankreich. Aber Juristen wissen, dass solche rechtlichen Potpourris meist nur kaschieren sollen, dass kein einziges der Argumente für sich genommen wirklich trägt. Doch – mit den Worten eines von der FAZ zitierten hohen Beamten: „Das wird hingebogen.“
Für manchen Abgeordneten hätte am 4. Dezember jedoch womöglich allein schon eine stringente zielführende Strategie zur Niederwerfung und Beseitigung des IS Grund sein können, dem Bundeswehreinsatz zuzustimmen. Doch leider – eine solche Strategie gibt es nicht. Karl-Theodor zu Guttemberg, der seine Eignung zum verantwortlichen politischem Amt zwar verspielt, dem aber niemand die Fähigkeit zu eigenständigem Denken absprechen sollte, fragte daher im Hinblick auf die Bundeswehrmission in Syrien und Irak: „[…] zu – was eigentlich? Terrorbekämpfung? Beilegung des Bürgerkrieges? Neuordnung im Nahen und Mittleren Osten? Ein Unterbinden der Flüchtlingsströme?“
Keine Strategie – nirgends. Auch auf US-Seite nicht. „Alles wirkt kopflos“, titelte die Frankfurter Rundschau.
Was bleibt sonst an denkbaren Gründen für eine Zustimmung zur neuen Auslandsmission?
Ein Mangel an Luftangriffskapazitäten bei der Bekämpfung des IS, einschließlich der notwenigen Zielaufklärung, jedenfalls nicht, denn bereits ohne deutsche Tornados sind über Syrien und Irak Luftstreitkräfte der USA, Russlands, Frankreichs, Großbritanniens, Kanadas, der Türkei sowie Jordaniens im Einsatz, die als Allianz über alle erforderlichen Mittel verfügen.
Eine Erhöhung der Chancen auf Zerschlagung des IS durch zusätzliche deutsche Kampfflugzeuge kommt als Zustimmungsmotiv ebenfalls nicht infrage, sind sich westliche Experten und politische Entscheidungsträger doch mehrheitlich darin einig, dass dem IS mit Luftangriffen allein nicht beizukommen sein wird. Bereits ein Blick auf die „jahrelangen Bombardements des IS […], ohne dass erkennbare Erfolge sichtbar werden“, so Horst Teltschik, unter anderem Ischingers Vorgänger bei der Münchner Sicherheitskonferenz, ernüchtert.
Das ist im Übrigen auch der Grund dafür, dass der Einsatz von Bodentruppen, den die USA, Frankreich und die Bundesregierung derzeit ablehnen, trotzdem in politischen und militärischen Kreisen sowie in den Medien diskutiert wird: „Im Augenblick müssen wir darauf setzen, dass die Strategie des Westens aufgeht“, sagt Ex-Bundeswehrgeneralinspekteur Harald Kujat. „Sollte das nicht erfolgreich sein, steht der Westen vor der Frage, ob er selbst Bodentruppen einsetzen will. […] Wir würden dann 50.000 bis 60.000 Soldaten unter der Führung der USA oder der Nato in das Land schicken müssen.“
Bleibt zu hoffen, dass es dazu nicht auch noch kommt, denn aus den Jahrzehnten seit Ende des Zweiten Weltkrieges ist kein größeres Beispiel belegt, dass reguläre Streitkräfte eine Guerillabewegung besiegt hätten. Mehr noch: „Haben nicht“, so fragt ein nachdenklicher Leitartikel im Handelsblatt, „die Militäroperationen in Afghanistan und Irak mit dem Ziel des ‚Regime Change‘ den IS erst zu dem gemacht, was er heute ist?“
Wer dies verneint, auf dessen überzeugende Beweisführung darf man gespannt sein.
Dennoch: „Paris ändert alles“, mag mancher Abgeordnete gelesen, geglaubt und deswegen am 4. Dezember zugestimmt haben. Das wäre allerdings der Selbstausschluss aus der Phalanx der klügeren Befürworter. Denn dass man Terror nicht besiegen kann, indem man es mit dessen Mitteln versucht – wieso sollte Paris diese Grunderkenntnis auf den Kopf stellen? Und noch vor wenigen Wochen hatte Frank-Walter Steinmeier das einseitig militärische Vorgehen Frankreichs kritisiert, und seinerseits wie aus dem Kanzleramt hieß es mantraartig, für Syrien gebe es keine militärische Lösung. Auch das soll Paris geändert haben? Allenfalls für intellektuell und strategisch Unterbelichtete, die sich archaischen Rachegelüsten hingeben und damit auf die Ebene derer stellen, die sie zu bekämpfen trachten.
Fassen wir zusammen: Die Bundestagsentscheidung vom 4. Dezember hat gute Aussichten, ihren historischen Platz in der bereits übervollen Rubrik „Gut gedacht und gut gemacht fallen (nicht nur) in der Politik häufig auseinander“ zu finden, und zwar noch bevor die Mission die Chance hat zu scheitern. Denn es hat gute Gründe dagegen gegeben, also für eine andere Entscheidung des Bundestags.

P.S.: Die deutschen Tornados sollen primär Ziele aufklären, die Bomben sollen weiterhin andere werfen. Ob die IS-Führung so subtiler Unterscheidung zwischen passiven und aktiven Feinden zugeneigt sein wird, bleibt – bestenfalls – eine offene Frage.
Ob nicht mit direkter deutscher militärischer Beteiligung gegen den IS die Gefahr von Anschlägen hierzulande steige, wollte das Handelsblatt von zu Guttemberg wissen: „Mit großer Wahrscheinlichkeit, da die Doktrin der Vergeltung an Unschuldigen zur makabren Logik der Dschihadisten zählt.“ Wie Paris und der Anschlag auf den russischen Airbus über Sinai gezeigt haben, hätte er ergänzen können.
Und wie wir im Falle des Falles Merkel, der CDU-CSU, Steinmeier und einer Mehrheit der SPD-Bundestagsfraktion mit zu verdanken hätten.