Die Macht des Todes

Warum die Gewalt in Mexiko endemisch geworden ist

Seit Jahren erregt die grassierende mörderische Gewalt in Mexiko internationales Aufsehen. Morde werden nicht nur demonstrativ an Frauen und Oppositionellen, sondern auch von Kriminellen untereinander begangen. Wie konnte es dazu kommen, dass die Gewalt so eskalierte? Welche Rolle spielt der Staat dabei? Und welcher Widerstand regt sich gegen die Herrschaft dieser Nekropolitik?

Am 26. September 2014 verschwanden in der Stadt Iguala 43 männliche Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa, die zuvor von der Polizei festgenommen worden waren. Im Vorfeld einer Kundgebung hatten Polizisten bereits sechs Studierende derselben Gruppe erschossen. Am Tag danach ging das Foto des leblosen, grausam entstellten Studenten Julio César Mondragón um die Welt. Seine Ermordung ist Zeugnis der spektakularisierten Gewalt, die in den vergangenen Jahren immer mehr zum mexikanischen Alltag wurde. Sie stellt eine fortgeführte mörderische Praxis dar, die bereits seit 1993 systematische Anwendung gegenüber einer ganzen Bevölkerungsgruppe findet: Die Serienmorde an Frauen, die lange Zeit vor allem in der nördlichen Grenzstadt Ciudad Juárez verübt wurden, inzwischen aber häufiger im zentral gelegenen Bundesstaat México geschehen.

Mit der Zahl dieser Feminizide stieg ihre Präsenz in der Öffentlichkeit. Gemeinhin wird die zunehmende Gewalt gegen Frauen auf sich ändernde Geschlechterrollen zurückgeführt: Prekäre Lohnarbeit verhilft jungen Frauen zum ökonomischen Aufstieg. Ihre neue Rolle als Familienernährerin empfinden einige Männer als sozialen Abstieg. Durch Gewalt an Frauen versuchen sie, ihre verloren geglaubte männliche Identität wieder zu erlangen.

Die Interamerikanische Menschenrechtskommission nannte mit Blick auf Ciudad Juárez drei Aspekte, die die Feminizide wesentlich begünstigten: Die im Privaten angewandte Gewalt sei unsichtbar, sie werde nicht öffentlich thematisiert. Hinzu komme die Normalität der Gewaltanwendung in der patriarchalen Kultur. Sie autorisiere Männer, das vermeintliche Fehlverhalten von Frauen gewaltsam zu korrigieren. Die Straffreiheit bilde den dritten Aspekt. Sie resultiere aus besagten Umständen und fördere zugleich weitere Gewalt gegenüber Frauen (siehe iz3w 347).

UN Women kalkuliert die Zahl der Feminizide in Mexiko für den Zeitraum 1985 bis 2010 auf über 36.000. Ein Drittel der Täter entstamme dem nahen persönlichen Umfeld der Frauen, schätzt Amnesty International. Für die Feminizide im öffentlichen Raum sind hingegen zumeist Banden und Kartelle verantwortlich. Lange Arbeitszeiten und -wege exponieren die Frauen zunehmend in einer Umgebung, die stark vom organisierten Verbrechen, Straffreiheit und Machismo geprägt ist.

Die mexikanische queer-feministische Theoretikerin Valencia Triana Sayak verortet die systematische sexualisierte Gewalt in einem Beziehungsgeflecht aus krisengeschüttelter hegemonialer Männlichkeit und den Anforderungen eines neoliberalen Kapitalismus in einem herausgeforderten und angegriffenen Staat. Menschenrechtsgruppen sprechen von einem operativen Netzwerk zwischen Politik und Industrie – dominiert vom organisierten Verbrechen. Körper, Sex und Sexualität seien dabei grundlegende Elemente.

Im Gegensatz zu den Hate Crimes der häuslichen Sphäre verfolgten Täter von Feminiziden eine kommunikative Absicht. Die Zerstörung der Körper selbst sende eine Botschaft und werde zum konsumierbaren Produkt – der Tod sei ein lukratives Geschäft, schreibt Sayak. Massenhafte Entführungen, Menschen- und Organhandel, Zwangsprostitution und Auftragsmorde zielten auf den weiblichen oder nicht-männlichen Körper ab und wirtschafteten mit ihm. Das kommunikative Moment krimineller Gruppen bestehe in der Markierung territorialer Machtansprüche durch die zur Schau gestellten Körper. Sie verbreiteten Angst und bewegten die Menschen dazu, Schutzgelder zu zahlen, private Sicherheitsdienste oder andere präventive Angebote des stark wachsenden Sicherheitssektors zu beanspruchen.

Das Beispiel von Julio César Mondragón zeigt, dass die expressive Dimension der Gewalt bei den Feminiziden nun auch auf männliche Körper übertragen wurde. Auch sie werden stigmatisiert, ähnlich den Opfern der Feminizide, denen in Mexiko oft nachgesagt wird: »Sie alle waren Prostituierte und somit selbst schuld«. Den verschwundenen Studenten werden ihr junges Alter und ihre Klassenzugehörigkeit zur Last gelegt. Damit einher geht eine rassistische Komponente: Arm und dunkelhäutig/ indigen ist ein gängiges Begriffspaar in Mexiko.

Seit den Morden an den entführten Studenten ist mehr als ein Jahr vergangen. Doch ungeachtet fehlender Beweise mutmaßen staatliche Institutionen und Medien über deren Verbindungen zu einer lokalen kriminellen Bande. Die Verstrickungen zwischen GemeindepolitikerInnen, der lokalen Polizei, dem in der Nähe des Geschehens stationierten Militär und der kriminellen Organisation Guerreros Unidos werden hingegen nicht thematisiert.

Die Dominanz der Nekropolitik

Im Herbst 2015 konstatierte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Rada Al Hussein, hinsichtlich der Menschenrechtslage in Mexiko: »Für ein Land, das sich nicht inmitten eines Konflikts befindet, sind die errechneten Zahlen einfach erschlagend.« Von Dezember 2006 bis August 2015 seien mehr als 150.000 Menschen ermordet worden. Die Zahl verschwundener Menschen belaufe sich offiziell auf über 26.000. Hinzu kämen unzählige Vergewaltigungen, sexuelle Übergriffe sowie Feminizide. Angetrieben durch bewaffnete Konflikte zwischen kriminellen Gruppen oder von diesen mit dem Staat, durchbreche die Zahl gewaltsam Vertriebener bald die 300.000er Marke. Al Hussein bezichtigte aber nicht nur die organisierte Kriminalität, die Verbrechen zu begehen. Teile der Armee sowie der Gemeinde-, Länder- und Bundespolizei seien ebenso dafür verantwortlich. Sie handelten aus Eigeninteresse, teils in Zusammenarbeit mit Kriminellen.

In diesem Kontext endemischer Gewalt gelten diejenigen AkteurInnen als souverän, deren Morden frei von strafrechtlichen Konsequenzen bleibt. Es ist ein Kontext, in dem die Menschen über keine Rechte und keinen Schutz verfügen. Der in Südafrika lehrende postkoloniale Theoretiker Achille Mbembe beschreibt solche »zeitgenössischen Formen der Unterwerfung des Lebens unter die Macht des Todes« als Nekropolitik. Deren zentrale Charakteristika seien die nicht mehr als Ausnahme, sondern als Norm verstandene Gewalt sowie souveräne AkteurInnen, die innerhalb eines wachsenden rechtsfreien Raumes agieren. Hinzu komme die Legitimation des Handelns durch den Verweis auf einen Feind, der die eigene Existenz bedrohe (Staat versus organisierte Kriminalität).

Die im Rahmen von Nekropolitik entstehenden rechtsfreien Räume werden in einer Weise kontrolliert, die eine Enteignung von Territorien zugunsten souveräner AkteurInnen ermöglichen. Betroffen sind nicht nur der Grundbesitz von Staat oder von verfeindeten kriminellen Strukturen, sondern ebenso individueller oder kollektiver Besitz. Die Administration dieser Räume durch die souveränen AkteurInnen unterliegt der kapitalistischen Logik der Mehrwerterzeugung. Folglich beutet sie die Bevölkerung, ihre natürlichen Ressourcen und Produktionsmittel aus, die sich auf den kontrollierten Territorien befinden. Erfolgreiches Wirtschaften erfordert demnach Machterhalt und Machterweiterung. Die Herrschaft über die Körper mittels Tod und Gewalt spielen dabei eine entscheidende Rolle. Das Gewaltmonopol liegt nicht länger beim Staat, sondern je nach Raum bei anderen oder einem Mix aus AkteurInnen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen mit ihren verheerenden Auswirkungen ähnelten zunehmend einer »Abrechnung zwischen mächtigen und verletzten Machos, die versuchen, ihre Ehre zu erhalten und ihre Territorien zurückzuerobern«, schreibt Sayak.

Auf regierungskritischen Veranstaltungen in Mexiko-Stadt wird oft die Frage gestellt, wer einen Menschen kennt, der Opfer von Entführung, Mord, Vergewaltigung oder Erpressung wurde. In der Regel gehen zwei Drittel der Hände in die Höhe. Die Gewalt hat die Grenzen interner Konflikte zwischen privaten Banden und derer mit dem Staat längst überschritten. Wenngleich sie nicht überall gleichermaßen präsent ist, betrifft die endemische Gewalt in Mexiko fast jede/n in irgendeiner Form. Sie verschiebt sich zeitlich und räumlich wie ein Netzwerk mit verschiedenen Knotenpunkten. In manchen Regionen kommt sie fast gar nicht vor.

Präsident Felipe Calderón (2006-2012) trug ab Dezember 2006 durch die Militarisierung und die Politik der harten Hand einiges zur endemischen Gewalt bei. Von der strukturellen Gewalt profitieren Netzwerke zwischen PolitikerInnen und Sicherheitsdienstleistern. Der Staat selbst kurbelte die Kriegsmaschinerie kräftig an. So verdreifachte sich der Militärhaushalt zwischen 2007 und 2011 auf 77 Milliarden Pesos (rund 3,8 Mrd. Euro), nachdem Calderón angekündigt hatte, man müsse sich vorbereiten für die kommenden Auseinandersetzungen.

Von Punkten zu Linien zu Netzen

Kriminelle Strukturen und illegaler Drogenanbau reichen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Industrialisierungsprozesse und Landenteignungen im Hochland von Sinaloa trieben Teile der bäuerlichen Bevölkerung zum Opiumanbau. In dieser Region entstanden auch die ersten paramilitärischen Einheiten, die in den 1940er Jahren im Auftrag von Großgrundbesitzenden gegen aufsässige Bäuerinnen und Bauern vorgingen. Korrumpierte staatliche FunktionärInnen sind ebenfalls kein neues Phänomen: Der Gouverneur von Baja California, Colonel Esteban Cantú, paktierte bereits 1916 mit kriminellen Banden. Dennoch nahmen Gewalt und Verbrechen früher nie eine so ausufernde Dimension und Dynamik an wie heute.

Ausschlaggebend war das Jahr 1985: Das Guadalajara-Kartell enttarnte und ermordete mit Enrique »Kiki« Camarena einen Agenten der US-amerikanischen Drogenaufsichtsbehörde DEA. Auf Druck der USA verhafteten die mexikanischen Sicherheitsbehörden nach und nach die Capos großer Drogenkartelle. Zeitgleich duldete die CIA partiell einige Drogenhändler und kooperierte mit ihnen, um geheime Operationen im sandinistischen Nicaragua und gegen mittelamerikanische Guerillagruppen zu finanzieren. Mexikanische Sicherheitskräfte verhafteten 1989 den letzten großen Capo Ángel Félix Gallardo und provozierten damit eine Hydra der Unterwelt. 1975 waren lediglich zwei Drogenkartelle in zehn Bundesstaaten aktiv, vierzig Jahre später gibt es neun größere Kartelle – allesamt Abspaltungen der ersten beiden, präsent in beinahe jedem der 32 Bundesstaaten. Zusätzlich treiben unzählige kleinere bewaffnete Banden und Zellen lokal und regional ihr Unwesen.

Die mexikanischen Kartelle positionierten sich als Hauptproduzenten und Mexiko wurde wichtigste Transitzone für Drogen. Begünstigt wurde dies durch folgende internationale Faktoren: Die Zerschlagung des Medellín- und Calí-Kartells in Kolumbien Anfang der 1990er; das Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) 1994 und damit einhergehend eine große Zahl nicht kontrollierbarer Güter, die die Grenze gen Norden überqueren; ein liberalisiertes internationales Finanzsystem, das Geldtransaktionen erleichtert und Spuren von Geldwäsche schneller verwischen lässt; neue Absatzmärkte in anderen Ländern; die steigende Drogennachfrage in und der einfache Zugang zu Waffen aus den USA.

Organisiertes Verbrechen in Mexiko hat also seine Wurzeln im klassischen Drogenhandel und funktionierte durch das Korrumpieren staatlicher Strukturen. Das zunehmende Aufreiben der Kartelle durch den Staat und der verschärfte Wettbewerb zwischen ihnen förderte exzessive und systematische Gewaltanwendung. Im Zuge dieses Prozesses erweiterten sich die kriminellen Tätigkeitsbereiche: Produktpiraterie, Menschenhandel, Schutzgelder, Entführungen und sogar Bergbau kamen hinzu. Das Geschäft der schmuggelnden Capos verwandelte sich zunehmend in eines von Gewaltexperten. Dabei ist aber wichtig zu betonen, dass spektakularisierte Gewalt ursprünglich kein genuines Charakteristikum des organisierten Verbrechens ist. Denn um illegale Geschäfte erfolgreich betreiben zu können, sind Aufregung und Aufmerksamkeit kontraproduktiv. Die mexikanische Nekropolitik ist somit eher das Ergebnis eines historisch geformten und variablen Kräftemessens zwischen Staat und organisiertem Verbrechen.

Nach jahrzehntelanger rigider zentraler Herrschaft öffnete die neoliberale Regierung das Land ab den 1990er Jahren politisch und ökonomisch. Sie verteilte politische und administrative Kompetenzen auf untere staatliche Ebenen – jedoch ohne die finanziellen Mittel umzuverteilen. Die demokratische Transition des mexikanischen Staates scheiterte. Durch taktische Abkommen, wie die Zuteilung bestimmter Transportrouten, kontrollierte der Staat einst den Drogenhandel bis zu einem gewissen Grad. Dies manifestierte sich aber vornehmlich in alltäglichen Beziehungen auf lokaler Ebene; die Kartelle nutzten finanzielle Nöte von BürgermeisterInnen, Abgeordneten und GouverneurInnen und finanzierten deren Kampagnen. Das Korruptionsnetz, das mitunter wichtigste Instrument zum Schutz illegaler Strukturen, wurde allgegenwärtig.

Die favorisierte Strategie der letzten beiden mexikanischen Regierungen bestand darin, möglichst viele Kartelle zu attackieren und in möglichst vielen Städten und Ortschaften mit Armee und Marine zu intervenieren. Die Regierungen missachteten jedoch, dass sie nicht mehr Herr der korrumpierten administrativen Strukturen vor Ort waren. Zwang allein ist nicht Erfolg versprechend, wenn die Loyalität gegenüber dem eingreifenden Akteur längst abhanden gekommen ist.

Die Gruppen des organisierten Verbrechens und die staatlichen Kräfte ähnelten sich in den letzten Jahren immer mehr in ihrer Vorgehensweise: der tödlichen Konfrontation. Sie entwickelten organische Verbindungen, gegenseitige Abhängigkeiten, personelle Überschneidungen und verfolgten partiell sogar gemeinsame Ziele. Aus dieser Dynamik heraus entstand letztlich jene gewalttätige Formation der Nekropolitik. Es häuften sich extralegale Hinrichtungen sowohl von Kriminellen als auch von Unschuldigen seitens Militär, Marine und Polizei. Bei einer Konfrontation mit dem Kartell Jalisco Neue Generation Ende Mai 2015 in Tanhuato, richtete die Bundespolizei mindestens zwei Drittel der getöteten 42 Mitglieder hin.

Immer öfter geraten ZivilistInnen ins Kreuzfeuer. Es mehren sich die Fälle, in denen soziale AktivistInnen, die sich zwischen Staat und Verbrechen positionieren, unaufgeklärten Gewaltverbrechen zum Opfer fallen. Iguala ist dafür beispielhaft: Im Zuge der Entführung der 43 Studenten – sie hatten vermutlich einen mit Drogen beladenen Reisebus gekapert – starben im Kugelhagel mehrere unbeteiligte Personen. Bereits Ende 2011 erschossen Polizisten zwei Studenten derselben Lehramtsschule während einer Protestaktion. Im Sommer 2014 tötete die Armee in Tlatlaya im Bundesstaat Mexiko 22 Jugendliche. Später wurden Regierungsdokumente veröffentlicht, die es gestatteten, (vermeintliche) Kriminelle zu erschießen.

Zeitgleich helfen korrumpierte staatliche und private Akteure, illegal gewonnene Güter wie Holz, Kupfer und Erdöl in den legalen Wirtschaftskreislauf einzuschleusen. Ein Beispiel unter vielen ist die von einem kanadischen Unternehmen geführte Goldmine San Xavier nahe des Örtchens San Pedro. Trotz fehlender Genehmigungen und des Protests der Bevölkerung betrieb man sie jahrelang weiter. 1998 wurde der Bürgermeister und Minengegner Baltazar Loredo ermordet.

In diesem schwer zu durchdringenden und zu entwirrenden Netz der Gewalt herrscht die Nekropolitik. Tanhuato zeugt von der umkämpften Kontrolle über ein Territorium, Iguala von der Vorherrschaft über illegalen Warenverkehr, Tlatlaya steht für das straffreie Töten und San Pedro für rücksichtslose Ressourcenausbeutung. Gemein haben all diese Fälle die souveräne Gewalt gegen die Menschen und Körper, den Zugriff auf einen bestimmten Raum sowie das Prinzip der Mehrwerterzeugung.

Gegenwehr ist möglich

Je stärker die Konflikte zwischen den Kartellen und mit der Regierung zunehmen und je mehr wirtschaftliche Bereiche als illegale Geldquelle dienen, desto häufiger formiert sich Widerstand. Vor allem in ländlichen Regionen richtet sich dieser gegen das Amalgam aus organisiertem Verbrechen, Staat und kapitalistischem Markt, wie Francisco »Paco« Ortis aus Tepoztlán in einem Gespräch berichtet. Paco ist Mitglied des Congreso Nacional Indígena (CNI), ein Zusammenschluss von 27 indigenen Völkern, Stämmen und Nationen, der 1996 auf Initiative der EZLN gegründet wurde.

Die Gemeinden des CNI entscheiden selbst, wie sie sich zur Wehr setzen. Die Beispiele reichen vom gewaltfreien Widerstand von Xochicuautla bis hin zum Aufstand in der Stadt Cherán im April 2011. Die Gemeinde bewaffnete sich gegen kriminelle Gruppen, die mit lokalen staatlichen Akteuren zusammenarbeiten und die Wälder abholzen. Mit Blick auf die geplanten Infrastruktur-, Tourismus-, und Bergbauprojekte in Territorien indigener Gruppen folgert Paco: »Für uns ist das die kapitalistische Hydra und der gleiche Krieg wie immer gegen die ursprünglichen Völker.«

Die indigenen Gruppen des CNI stehen mit ihrer Gegenwehr nicht alleine. Weitere Beispiele sind die regionale autonome Gemeindepolizei CRAC im Bundesstaat Guerrero, die Selbstverteidigungsgruppen Autodefensas aus Michoacán, die Frauengruppen aus Ciudad Juárez und die Bewegung für den Frieden mit Gerechtigkeit und Würde. Letztere kämpft landesweit für die Aufklärung der Fälle von verschwundenen oder ermordeten Angehörigen.

Lösungsansätze finden sich auch innerhalb des bestehenden rechtlichen Rahmens – abseits der militärischen Option, die Bundes- und Länderregierungen als einzig möglichen Weg betrachten. WissenschaftlerInnen wie Edgardo Buscaglia schlagen institutionelle Lösungswege vor. Weil die Kriminalität staatliche Stellen korrumpiert, setzen an genau diesen Schnittstellen vier Gegenmaßnahmen an: illegale Vermögenswerte beschlagnahmen und illegal-legale Unternehmen demontieren, korrupten PolitikerInnen den Prozess machen, die internationale Zusammenarbeit verstärken und soziale Präventivmaßnahmen verabschieden.

Die Entgrenzung aufheben

Spätestens seit Ende der 1960er Jahre üben mexikanische Regierungen rigoros politische Repression gegen dissidente Gruppen und Einzelpersonen aus. Von der EZLN ausgehend, gründete sich bereits 2007 das Netz gegen die Repression und für die Solidarität. Es ist in mehr als 20 Bundesstaaten und international aktiv und richtet sich sowohl an politische Gefangene als auch generell an Opfer staatlicher Gewalt. Ziel sei es, erklärt Aktivist Luis López, Betroffene »stets nach dem Rhythmus und den Bedürfnissen der angegriffenen Person, Familie oder Gemeinde zu begleiten«. López konstatiert, die endemische Gewalt zerbreche das soziale Gefüge: »Die Gewalt drückt sich nicht ausschließlich auf politischer, sondern auf sozialer Ebene aus: die Nachbarin, die keine Nachbarin mehr ist, sondern eine potentielle Kriminelle. Großes Misstrauen und Angst entstehen um uns herum«. Es vergehe kein Monat, »ohne dass ein Aktivist, sei er Anarchist oder Menschenrechtler, verschwindet oder ermordet wird«.

Die vielen verschiedenen Formen der Gewalt in Mexiko, die Nekropolitik und die politische Repression reißen mehr und mehr das soziale Gefüge auf. Die Konflikte werden weder politisch ausgetragen noch eingehegt, sie sind entgrenzt. Zwischen der Politik des Todes, der um sich greifenden Angst und der allgemeinen Involviertheit in die Gewalt tun sich jedoch Momente der Dissidenz und des Widerstandes auf. Es sind die Ansätze der Zivilgesellschaft und der betroffenen Bevölkerung, die versuchen, die Entgrenzung aufzuheben.

 

Timo Dorsch ist Student der Humangeographie in Frankfurt am Main. Eine längere Fassung dieses Textes mit den hier entfallenen Literaturhinweisen steht auf www.iz3w.org.