Wahlen in der Islamischen Republik Iran

Regimegefährdendes Vehikel oder stabilisierendes Ventil?

in (20.04.2016)

Am 26.02.2016 waren die IranerInnen aufgerufen, Ihre Stimme abzugeben, um ein neues Parlament und den sogenannten Expertenrat zu besetzen. Die moderate(re) Liste "Omid" ("Hoffnung") konnte zwar die Dominanz der Hardliner im Parlament brechen, aber durch die Vorselektion des Wächterrats war eine absolute Mehrheit von vornherein ausgeschlossen, ebenso wie die progressiveren Stimmen des Reformlagers. Bei der Wahl des Expertenrats kam es in Anbetracht der noch undemokratischeren Natur dieses Vorgangs zur größeren Überraschung: Die prominenten Demagogen Mohammad Yazdi und Mohammad Taghi Mesbah-Yazdi haben es nicht in das Gremium geschafft.

Der vorliegende Text wurde vor diesen Wahlen geschrieben und untersucht die Umstände, unter denen die Präsidentschaft Mohammad Khatamis möglich wurde – und die reformistische Agenda unmöglich blieb. Auch wenn sich die fraktionelle Landschaft seitdem verändert hat, gibt diese Analyse weiterhin Aufschluss, um das politische Zusammen- bzw. Gegenspiel im heutigen Iran zu durchschauen.

 

Anmerkung: Im April kommt es zu einer weiteren Stichwahl des Parlaments, bei der die letzten 56 Plätze bestimmt werden. Unabhängig davon ist aber die Aussage richtig, dass diese keine absolute Mehrheit der "richtigen Reformer" schaffen kann. Hätte ich noch mehr Platz zur Verfügung gehabt, wäre ich noch darauf eingegangen, dass auch sehr konservative Politiker für "Omid" angetreten und die Fraktionen noch schwieriger abzugrenzen sind (darauf wird aber im Text selbst eingegangen). 

 

Am 11. Februar 2015 feierte das iranische Regime sein 36-jähriges Bestehen. Hundertausende versammelten sich in allen Städten des Irans, viele um den Reden der Machthabenden beizuwohnen. Große Überraschungen sind in den Ansprachen selten. Über alle politischen Lager hinweg wird an die Aufopferungen und Errungenschaften der Revolution erinnert und die nationale Einheit beschworen. Für die Sicherheitskräfte sind solche Menschenmengen kaum zu kontrollieren, und schon ein paar mehrdeutige Slogans wie der revolutionäre Schlachtruf „Marg bar Diktator” können ungeahnte Dynamiken entfalten – doch es blieb scheinbar ruhig. Die internationale Berichterstattung musste sich mit den Bildern eindrucksvoller und einträchtiger Aufmärsche begnügen, in denen stattdessen den Vereinigten Staaten und dem „zionistischen Regime” der Marg, also der Tod, gewünscht wurde. Obwohl es weder an Ursachen noch Anlässen für Protest mangelt, findet sich kein Bericht über einen Zusammenstoß oder irgendein Ereignis an diesem Tage, das die zur Schau gestellte nationale Eintracht getrübt hätte.

 

Noch fünf Jahre zuvor machten sich aber auch oppositionelle und regimefeindliche Kräfte solche Ansammlungen zu Nutzen (Weaver 2010). Während der Feierlichkeiten des 31. Jahrestages kam es zu Gegendemonstrationen und zahlreichen Zusammenstößen, bei denen der Oppositionsführer Mehdi Karroubi tätlich angegriffen wurde. Eine der Ursachen waren die umstrittenen Umstände, unter denen sich Mahmoud Ahmadinejad seiner beiden Konkurrenten Karroubi und Mir Hossein Moussavi in den Präsidentschaftswahlen 2009 entledigte. Der Wahlbetrug löste unmittelbar die größten Proteste aus, die der Iran seit der Revolution erlebt hat. Auch noch zwei Jahre später blieb die Situation angespannt. Wenige Tage nach den Feierlichkeiten zum 32. Jahrestag der Islamischen Republik rief Moussavi zur Solidarität mit dem ägyptischen Volk auf. Der sogenannte Revolutionsführer Ali Khamenei sah sich nun doch veranlasst, die entfesselten Politiker in die Schranken zu weisen. Karroubi und Moussavi wurden mitsamt ihren Ehefrauen, Fatemeh Karroubi bzw. Zahra Rahnavard, unter Hausarrest gestellt. Bis heute fristen die vier ein völlig isoliertes Dasein.

 

Wie konnte sich die Lage im Iran bis zum heutigen Tage also derart beruhigen, während andere Regime in der Region im Bürgerkriegschaos versunken sind? Ein Grund dafür könnte die Rede von Hassan Rohani, der von einer der Tribünen sprach, gewesen sein. Rohani ist ein sogenannter Moderater, der zwei Jahre zuvor die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte und damit Ahmadinejad beerbte. Inhaltlich knüpfte Rohani dabei an die Wahlkampfthemen Mohammad Khatamis an, des ersten reformorientierten Präsidenten, und forderte neben einer außenpolitischen Öffnung auch mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit innerhalb des Irans.

Die zentralen Fragen, denen dieser Text nun nachgeht, sind folgende: In welchem Zusammenhang stehen die Wahlen von reformorientierten Politikern zur Stabilität des Regimes? Können von den Wahlen überhaupt tiefgreifende Veränderungen ausgehen? Oder stabilisieren sie das Regime vor allem durch ihre pseudodemokratische Legitimation?

Eine Annäherung an diese Fragen kann nur unter Berücksichtigung der eigenwilligen und höchst widersprüchlichen Architektur des politischen Systems der Islamischen Republik geschehen. Stellen wir das Arrangement der Institutionen in den Vordergrund (und weniger die Ideologie), handelt es sich bei der Islamischen Republik zweifelsfrei um ein tutelary regime, einem Subtyp der hybriden und autoritären Systeme (Akkoyunlu 2014). Charakteristisch für ein solches System ist das Abhalten von Wahlen, jedoch unter der „schützenden“ Herrschaft nicht gewählter Institutionen. Diese ungewählte Elite selektiert im Vorhinein KandidatInnen aus und greift auch später maßgeblich in den politischen Prozess ein. Im Iran sind es der Revolutionsführer und der Wächterrat, die das politische System dominieren und in ihrer Gesamtheit die Velayat-e Faghih ( Wächterschaft der Rechtsgelehrten) ausmachen.

Wie aber verteidigt die klerikale Velayat-e Faghih ihre Stellung gegenüber den demokratisch gewählten Institutionen? Welche Möglichkeiten haben diese wiederum, das System im Gesamten zu reformieren? Zur Klärung dieser Fragen wurden die Wahlen und Wahlperioden Khatamis und die Erstwahl Ahmadinejads genauer untersucht.

 

Khatamis 1. Amtsperiode (1997-2001)

 

Der 23. Mai 1997, also jener Tag, an dem Khatami die Präsidentschaftswahlen gewann, stellt im Iran ein historisches Datum und zugleich eine bedeutende politische Zäsur dar: nämlich die erste Präsidentschaft eines sogenannten Reformers, mit der eine gewisse Öffnung des politischen Systems einherging. Khatami folgte Akbar Hashemi Rafsanjani ins Amt, der sich zuvor bereits einmal erfolgreich seiner Wiederwahl stellte und somit verfassungsrechtlich kein weiteres Mal antreten durfte. Aus diesem Grund einigten sich der „Power Broker“ Rafsanjani und Vertreter der sogenannten islamischen Linken auf einen gemeinsamen Kandidaten: Mohammad Khatami (Dabashi 2000, 479).

Auf der anderen Seite stand der wichtigste Gegenkandidat längst fest: Ali Akbar Nategh-Nouri, vormals Innenminister unter Khamenei und amtierender Parlamentssprecher. Er war der Kandidat, den die Mehrzahl der Konservativen unterstützte. Zwar sieht zunächst vieles nach einer ausgemachten Sache aus - Nategh-Nouri konnte sich auf den expliziten Rückhalt des konservativen Establishments, allen voran des Revolutionsführers, verlassen – doch trotzdem werden die Iraner Zeugen des ersten offenen Wahlkampfes in der Geschichte der Islamischen Republik. Während Nategh-Nouri die Velayat-e Faghih absolut unterstützt, spricht Khatami von „islamischer Demokratie”, von Rechtsstaatlichkeit und einer pluralistischen Zivilgesellschaft, der mehr Freiheit zuzutrauen ist, als ihr das Regime bisher zugestand. Es sind dementsprechend vor allem die jungen und gebildeten Iraner und Iranerinnen, die sich zunehmend für Khatamis Kampagne begeistern.

Am Wahltag gaben 80% der Wahlberechtigten laut staatlichen Quellen ihre Stimme ab (Iran Data Portal 2015). Tatsächlich wünschte sich das Regime eine hohe Wahlbeteiligung, weshalb sich sowohl Revolutionsführer Khamenei als auch der noch amtierende Präsident Rafsanjani veranlasst sahen, eine Garantie für die saubere Durchführung der Wahlen auszusprechen. Dies mag ein Faktor gewesen sein, weshalb tatsächlich 29 Millionen Iranerinnen und Iraner wählen gingen. Insgesamt etwa 13 Millionen mehr als bei den Wahlen vier Jahre zuvor. Davon entfielen um die 22 Millionen auf Khatami, was knapp 70% der Stimmen entsprach. Relativ zügig erkennt auch die Regimeführung das Ergebnis an - Khamenei erklärt am 23. Mai 1997 Khatami zum fünften Präsidenten der Islamischen Republik (Tazmini 2009, 54f.).

Die Euphorie ist noch nicht verflogen, als Khatami bereits die Verschränkungen des politischen Systems - von Autoren häufig als Gridlock bezeichnet - kennenlernt (Jahanbegloo 2003). Gerade unter den Studenten wächst schnell die Enttäuschung über die reformistische Regierung beziehungsweise die Wut auf das persistente Regime. Die Schwäche der Regierung gegenüber den konservativ dominierten Institutionen wird allzu deutlich, als es zu den bis dahin größten Protesten seit der sogenannten Islamischen Revolution kam. Der Auslöser war die gewaltsame Schließung der Zeitung Salam, des wichtigsten Organs der reformorientierten Bewegung. Nur einen Tag später brachen Unruhen aus, die vor allem von der Studentenschaft aus den Universitäten auf die Straßen Teherans getragen wurden. Die Regierung konnte dem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte wenig entgegensetzen. Khatami gerät selbst unter Druck, wird in einem offenen Brief von hochrangigen Militärs indirekt vor einem Putsch gewarnt - und gibt nach. In Konsequenz treten zwei Minister zurück, unter ihnen Mostafa Moin. Auch die Justiz wird aktiv und verfolgt nicht nur die studentischen Dissidenten, sondern macht auch vor der politischen Klasse nicht Halt. Die prominentesten Opfer waren der Teheraner Bürgermeister Gholam Hossein Karbashi und Khatamis Innenminister Abdollah Nouri. Nouri wurde nicht nur seines Amtes enthoben, sondern auch vor Gericht gebracht. Trotz oder gerade wegen seiner entschlossenen Verteidigung gegen den Vorwurf, die Velayat-e Faghih „verraten” zu haben, wurde er 1999 zu fünf Jahren Haft im berüchtigten Evin-Gefängnis verurteilt (von denen er drei absitzen musste). Karbashi wurde wegen Korruptionsvorwürfen ebenfalls für fünf Jahre inhaftiert.

Dabei hätte die Periode um die westliche Jahrtausendwende ein Wendepunkt für die reformistische Bewegung sein sollen. Zunächst schafft es Khatami 1999, die ersten Kommunalwahlen seit der Revolution abzuhalten. Diese wurden genauso wie die Parlamentswahlen ein Jahr darauf von reformorientierten Kandidaten gewonnen, die sich im letzteren Falle in einer breiten Koalition organisierte, der Jebhe-ye 2. Khordad (einer „Front”, benannt nach dem Datum, an dem Khatami die Präsidentschaft gewann). Die Hoffnung, dass Khatami nun freie(re) Bahn haben würde, um der Erfüllung seiner Wahlversprechen etwas näher zu kommen, erfüllte sich nicht. Auch mit dem nun freundlich gesinnten Parlament konnten keine progressiven Gesetze beschlossen werden, denn nun war es der Wächterrat, der mit seinem Veto eine reformistische Legislatur verhinderte.

 

Die 2. Amtsperiode (2001-2005)

 

Obwohl Khatami am Ende seiner 1. Wahlperiode wenig Erfolge vorweisen konnte, setzte er sich auch bei seiner Wiederwahl mit überwältigender Mehrheit durch. Er konnte seinen Stimmenanteil sogar ausbauen und sicherte sich um die 80% der Stimmen. Die Enttäuschung machte sich dennoch durch das Fernbleiben vieler Wählerinnen und Wähler bemerkbar: Nur noch 67% der Wahlberechtigten hatten ihre Stimme abgegeben.

Die Umstände dieser Wahl waren eingeschränkter als jene vier Jahre zuvor. Die Zensuroffensive wurde fortgesetzt, Zeitungen geschlossen und kritische Mandatare wie Fatameh Haghighatjoo vor Gericht gestellt. Hinzu kam die „normale” Einschränkung durch den Wächterrat. Von 814 Kandidaten wurden zehn zugelassen.

Obwohl die Regierung ohnehin praktisch handlungsunfähig blieb, schränkte der Wächterrat auch die Parlamentswahlen 2004 drastisch ein: 44% der Bewerberinnen und Bewerber wurden von vornherein von ihrer Kandidatur ausgeschlossen, also viermal so viele wie vier Jahre zuvor. Durch den Protest einiger reformistischer Parlamentsabgeordneter konnten zumindest um die 200 Kandidaten nachträglich zugelassen werden. Trotzdem blieb die Einflussnahme wahlentscheidend: Die Konservativen konnten sich durchsetzen. Die politische Konstellation, die sich daraus ergab, fasst Ghoncheh Tazmini (2009, 117) wie folgt zusammen: „Remarkably, Khatami was now both the president of the country and the leader of the opposition.

Khatamis Machtbasis war also denkbar schlecht. Politisch setzte ihm dabei auch noch die Zuspitzung der geopolitischen Lage zu. Khatami hatte die Attacken des 11. Septembers verurteilt, und viel tatkräftiger: Seine Regierung hatte George W. Bushs Pläne zumindest bis zum Sturz der Taliban aktiv unterstützt. Umso unvorbereiteter muss die Regierung von George W. Bushs „Rede zur Lage der Nation” getroffen worden sein, in der dieser den Iran neben dem Irak, Syrien und Nordkorea in die „Achse des Bösen” einreihte (Filkins 2013).

Khatamis Ruf nach einem „Dialog der Zivilisationen” traf bei Bush auf taube Ohren, der die These Huntingtons vom „Kampf der Kulturen“ verinnerlicht hatte. Im Zuge des „Kriegs gegen den Terror” ließ Bush nun den nächsten Nachbarstaat, den Irak, angreifen. Die Befürchtung, dass der Iran das nächste Ziel sein könnte, war zu diesem Zeitpunkt nicht abwegig und bestimmte das politische Handeln. Khatamis Streben nach einer diplomatischen Öffnung war offensichtlich gescheitert, und Khamenei, dem ohnehin das letzte Wort in außenpolitischen Fragen obliegt, ließ sich von den Revolutionsgarden von einer konfrontativeren Politik überzeugen. Zu jener Zeit kehrten sich auch die Vorzeichen in den Verhandlungen mit der Europäischen Union über ein umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen um. Es bahnten sich umfassende Wirtschaftssanktionen an - ein böses Omen im Angesicht der ohnehin grassierenden Hyperinflation.

Und auch innenpolitisch lief es nicht gut. Im Gegenteil: Es zeichnete sich ein direkter Bruch zwischen Khatami und seinen Anhängern ab. Am 6. Dezember 2004, dem „Tag der Studenten”, besuchte der Präsident die Teheraner Universität. Da Khatami verfassungsrechtlich nicht ein weiteres Mal bei den kommenden Wahlen im Mai kandidieren durfte, war es sein letzter Besuch als Präsident. Der Auftritt entwickelte sich zum Eklat. Ohne die große Unterstützung der Studentenschaft wäre Khatami wohl nicht iranischer Präsident geworden, doch die Hilf- und Tatenlosigkeit der Regierung hatte die Euphorie in Resignation und Wut verwandelt. Diese äußert sich unter anderem in polemischen Rufen, in denen die Studentinnen und Studenten ihre Wählerstimmen wieder zurückfordern.

Dies waren nun die Umstände, unter denen die 7. (reguläre) Präsidentschaftswahl der Islamischen Republik stattfinden und das politische Gegenstück zu Khatami - Ahmadinejad - ins Amt heben sollte.

 

Ahmadinejads Erstwahl 2005

 

In Bahman Nirumands „Iran Report“ geht selbiger im Vorfeld der Wahlen davon aus, dass Rafsanjani „höchstwahrscheinlich” der nächste Präsident werden wird, obwohl er der „verhassteste Mann im Land” wäre und obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch keine Kandidatur angemeldet hatte. Auch im reformistischen Lager stand zu diesem Zeitpunkt noch nicht fest, wer antreten würde. Als erster Bewerber verkündete schließlich Mostafa Moin, ehemals Wissenschaftsminister unter Khatami, seine Kandidatur. Dies hielt jedoch Karroubi nicht ab, ebenfalls seine Kandidatur anzumelden.

Interessanterweise versuchen nun auch einige konservative Kandidaten die Popularität der Reformprogrammatik für sich zu nutzen. Mohammad Bagher Ghalibaff, der damalige Polizeichef in Teheran ging sogar so weit, Rat beim Wahlkampfmanager von Tony Blair zu suchen. Mit dem reformistischen Anstrich hoffte er mehr Stimmen bei der umkämpften Mittelschicht zu holen (Ghamari-Tazmini 2005). Dagegen erlaubte Moins politische Biografie eher ein Zeugnis der Glaubwürdigkeit. Die Hilflosigkeit seiner eigenen Regierung während der Studentenproteste veranlasste ihn dazu, sein Amt als Wirtschaftsminister niederzulegen. Moin blieb nicht nur abstrakt, wenn er von politischen Freiheiten, Menschenrechten und einer freien Zivilgesellschaft redete, sondern forderte konkret die bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen (Ghamari-Tabrizi 2005). Was sich jedoch schon vorher abgezeichnet hatte, trifft nun ein. Moin wird vom Wächterrat gemeinsam mit mehr als tausend anderen Kandidaten abgelehnt. Auch keine der knapp hundert Frauen, die sich um eine Kandidatur bemüht hatten, wurde zugelassen. Es ist jedoch die Ablehnung Moins, die die größte Kontroverse auslöst. Ein prominentes Mitglied der reformistischen Partizipationsfront nennt das Vorgehen des Wächterrats einen „Staatsstreich, der nicht ohne Folgen bleiben wird”. Tatsächlich schaltet sich nun Khamenei unmittelbar ein und fordert den Wächterrat zu einer Revision auf, nämlich im Falle Moins und des kaum bekannten Mehr-Alizadeh. Der Wächterrat pariert und lässt beide Kandidaten nachträglich zu. Trotzdem vermehren sich die expliziten und impliziten Forderungen nach einem Wahlboykott - einem Straftatbestand in der Islamischen Republik. Schon vor dem Eingriff des Wächterrats hatten „565 Intellektuelle“ einen offenen Brief verfasst, in dem zu radikaleren Reformen aufgerufen wurde, die nicht über eine systemkonforme Agenda hergestellt werden könnten:

 

Die Erfahrung der letzten acht Jahre hat gezeigt, dass die vom Volk erwünschten Reformen auf diesem Weg nicht durchgesetzt werden können. Selbst wenn das Volk die Möglichkeit hätte, frei zu wählen, und mit Millionen Stimmen einen Staatspräsident wählen würde, ja sogar dazu noch ein Parlament wählen könnte, das den Präsidenten unterstützen würde, selbst dann könnte der Staatspräsident keine andere Funktion ausüben als die Rolle eines ‚Dienstleistenden’ für die Machtzentren und die von ihnen ernannten Institutionen.” („Die Erklärung der 565” zitiert nach Nirumand 2005, 3ff.)

 

Am 17. Juni 2005 geben laut staatlichen Angaben nur um die 62% der Wahlberechtigen ihre Stimme ab. Davon sind es gerade einmal knapp 14%, die Moin ihre Stimme anvertrauen. Damit liegt er an vierter Stelle hinter Karroubi (17%), Ahmadinejad (20%) und Rafsanjani (21%). Ca. 4% Wählerinnen und Wähler, also weit mehr als eine Million Menschen, hatten zwar ein Wahllokal besucht, aber wohl überwiegend aus Protest einen ungültigen Wahlzettel eingeworfen.

Noch dazu: Das Wahlergebnis, das in dieser Form einen zweiten Wahlgang nötig macht, wird umgehend angefochten. Besonders Karroubi spricht von Beweisen, die einen Wahlbetrug zu Gunsten Ahmadinejad belegen sollen. Über eine Million Stimmen sollen erst kurz vor Stimmschluss für Ahmadinejad eingegangen sein. Vieles spricht für eine Involvierung der Revolutionsgarden. Der Wächterrat sieht sich gezwungen, Stellung zu beziehen, und fordert eine Überprüfung an. Doch obwohl die Gerüchte durch Quellen aus dem Innenministerium bestärkt werden, bläst der Wächterrat die Überprüfung nun doch wieder ab.

Nur eine Woche später wird der zweite Wahlgang abgehalten. Es ist das erste Mal, dass der Sieger des ersten Wahlgangs nicht direkt mit einer absoluten Mehrheit ins Amt gewählt wurde. Im Vorfeld gehen die meisten Beobachter nun von einem klaren Sieg Rafsanjanis aus. Doch es kommt anders. Ahmadinejads zur Schau getragene Bescheidenheit und sein Populismus kommen gegen Rafsanjani, einen der reichsten Staatsmänner des Irans, besonders zur Geltung. Interessanterweise war Ahmadinejad der einzige Kandidat, der keine konkreten Reformen versprach, sondern eine „neue Revolution”, nach der die Ärmsten des Landes für ihre Opfer endlich belohnt werden würden. Diese unter Khatami vernachlässigte Wählergruppe schenkte diesen Worten Glauben. Bei einer vergleichbaren Wahlbeteiligung wie beim ersten Wahlgang waren es nun um die 61% der Wähler, die für Ahmadinejad stimmten. Aus Sicht der ungewählten Regimeelite war die Gefahr einer schleichenden Demokratisierung endgültig abgewendet, als Ahmadinejad auf diese Weise Präsident wurde.

 

Die Instrumente der Velayat-e Faghih und ihre Grenzen

 

Die drei dargestellten Wahlen lassen das volle Repertoire des Revolutionsführers erahnen, mit dem er bislang das Primat seines eigenen Amtes über die demokratischen Institutionen aufrechterhalten konnte. Die Mittel lassen sich grob in drei Typen einteilen: in verfassungskonforme, verfassungswidrige und hegemoniale Instrumente.

Zu den verfassungskonformen gehört zunächst das Screening. Hier hat der Wächterrat, der bisher stets als verlängerter Arm des Revolutionsführers fungiert hat, das formale Recht, die Kandidaten nach bestimmten, aber teilweise unbestimmt formulierten Kriterien vorzuselektieren. Diese Kriterien sind im Artikel 28 der Bestimmungen zu den Parlamentswahlen festgehalten. Zu ihnen gehören unter anderem der „Glauben und die praktische Ausübung des Islams und das heilige System der Islamischen Republik” oder der Besitz „keines schlechten Rufes im Wahlbezirk”. Auch unter dem Vorwand einer mangelnden gesundheitlichen Verfassung wurden schon Kandidaten ausselektiert, etwa wie es Rafsanjani bei den Präsidentschaftswahlen 2013 wiederfuhr. Seit der Regierungszeit Khatamis wurden ungefähr 99% der Anwärter für untauglich befunden. Bei den Parlamentswahlen ist die Auslese weniger streng, dafür aber ebenso willkürlich. Die Rate der nicht zugelassenen Kandidatinnen und Kandidaten schwankte von ca. 41 bis 13%. Hier hat der Wächterrat also die vielleicht wesentlichste Handhabe, unangenehme Personen von vornherein vom Prozess auszuschließen. Dem Regime mangelt es an religiöser Autorität, weshalb gerade die durch die Wahlen induzierte Legitimation von existenzieller Bedeutung ist. Ein rigoroser Ausschluss würde die Velayat-e Faghih also ebenso gefährden wie völlig offene Wahlen. Ein Beispiel, dass die Regimeführung dies auch erkannt hat, ist die Intervention Khameneis zu Gunsten Moins.

Die schwachen Parteienstrukturen stärken den Wächterrat im Prozess der Präsidentschaftswahlkämpfe zusätzlich. Anstatt dass repräsentative Parteien ihre eigenen Kandidatinnen und Kandidaten ins Rennen schicken, schaffen meist eine Vielzahl von Organisationen desselben politischen Spektrums eine Konkurrenzsituation. Es scheint das Mandat des Wächterrats zu sein, hier eine Übersichtlichkeit herzustellen und die Anwärterzahl auf maximal zehn zu reduzieren (die höchste Zahl an Bewerbern bisher). Hier bieten sich mehrere Möglichkeiten, auf subtilere Art und Weise Einfluss auszuüben, etwa durch die Zulassung von mehreren reformorientierten Kandidaten, die sich gegenseitig Stimmen streitig machen - auch dies ist eine Interpretation, die die Wiederzulassung Moins und des ebenfalls reformorientierten Mehr-Alizadeh zulässt. Zudem hatte der Wächterrat bisher stets ein richtiges Händchen bei der Auswahl reformorientierter Kandidaten bewiesen. Sowohl Khatami als auch Rohani haben sich meist beschwichtigend und passiv verhalten oder sogar zum Regime positiv Stellung bezogen, wenn es zu Protesten und Konterrepressionen kam. In beiden Fällen handelt es sich um Kleriker, die schon Jahre zuvor im Staatsapparat aktiv waren und deren Loyalität wohl richtigerweise vorausgesetzt wurde. Die Wahl Khatamis war weniger ein Unfall als ein kalkulierbares Risiko.

Zudem hat die Velayat-e Faghih weitere Möglichkeiten, den Status quo zu konservieren. Auch während der Präsidentschaft kann sie die Regierung und Legislative effektiv blockieren. Der Wächterrat hat die „Verpflichtung”, jedes Gesetz, das als inkompatibel mit der Scharia erachtet wird, zu stoppen. Während Khatamis Regierungszeit wurden dabei insbesondere Reformbeschlüsse, die eine Liberalisierung der Presse zum Ziel hatten, verhindert. Auf der anderen Seite gibt es eine Unzahl an fiskalpolitischen Gesetzen, die definitiv nicht im Einklang mit islamischen Grundsätzen zu bringen sind, aber trotzdem verwirklicht wurden. Hier hat der Wächterrat also ein hohes Maß an Spielraum bei seiner Interpretation. Außerdem ist das Eingreifen des Wächterrats auch erst nötig, wenn das Parlament die Regierungsbeschlüsse mitträgt. Doch die politische Identität von Parlamentsmehrheit und Regierung ist selten gegeben und kann ebenso durch die vorher vorgestellten Instrumente effektiv unterbunden werden, wie es bei den Parlamentswahlen 2004 der Fall war. Ebenso kann die Justiz auch relativ willkürlich unliebsame Medien ausschalten und so den Wahlkampf von reformorientierten Politikern einschränken. In der Realverfassung der Islamischen Republik ist sie keine unabhängige Distanz, sondern ein Machtinstrument der traditionellen Rechten.

Zusätzlich wurden in der Vergangenheit auch Instrumente eingesetzt, die unter keinen Umständen in Einklang mit der Verfassung zu bringen sind. Dazu gehört die direkte Wahlmanipulation, wie wohl 2005 und 2009 geschehen. Eingeschränkt wird ein solches Vorgehen durch die gemeinsame Überwachung von Wächterrat und Innenministerium. Dadurch gelangten etwa 2005 Hinweise auf eine Manipulation nach außen. 2009 machten sich viele Iraner auch auf Grundlage der veröffentlichten Zahlen des Innenministeriums ein entsprechendes Bild. Die offenkundige Manipulation – Ahmadinejad musste noch nicht mal in den zweiten Wahlgang und hatte dabei etwa sogar in Moussavis Heimatregion Ostaserbaidschan deutlich gewonnen - provozierte die größten Proteste seit der Revolution und gefährdete die Stabilität des gesamten Regimes. Auch wenn an dem Wahlergebnis festgehalten wurde, scheint das Jahr 2009 nicht ohne Lehre für die Regimeelite gewesen zu sein, zumindest gab es 2013 keine vergleichbaren Manipulationsvorwürfe.

Die hegemoniale Stellung des Revolutionsführers ermöglicht es ihm, auch den Diskurs während der Wahlkämpfe mitzubestimmen. Dies erfolgt über eine Reihe von staatlichen und konservativen Medien oder den institutionalisierten Freitagsgebeten. Die Erstwahl Khatamis hat aber auch gezeigt, dass eine allzu klare Favorisierung eines Kandidaten genau das Gegenteil erreichen kann. Davon unberührt ist die Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft, die sehr gut organisiert ist und bis tief in die subalternen Gesellschaftsschichten reicht. Die Mobilisierung erfolgt teilweise auch über religiöse Dekrete des Revolutionsführers, in denen er die Stimmabgabe zur schiitischen Pflicht erhebt. Dementsprechend ist eben diese Anhängerschaft überproportional vertreten, wenn die Lethargie und Resignation bei demokratisch orientierten Wählern am höchsten ist und diese keinen Sinn mehr in einer Stimmabgabe sehen.

Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass auch die ungewählte Elite auf die Wahlen angewiesen ist. Sie verleihen dem Regime die nötige Legitimation, die, gemessen an der Wahlbeteiligung, vor der Wahl Khatamis stetig abnahm. Mit der Zulassung Khatamis hat das Regime zwar das unmittelbare Ziel erreicht, die Wahlbeteiligung zu steigern, doch auch einen großen Teil der demokratisch orientierten Bevölkerung aus der politischen Lethargie geholt. Diese dynamische Partizipation macht dem Regime zugleich Angst, weshalb es auch verfassungswidrige Instrumente einsetzte. Doch eben dieser Einsatz untergräbt ebenso die schmale Legitimation der Velayat-e Faghih. Das Bild einer Klaviatur, derer sich der Revolutionsführer bedient, um die verschiedenen politischen Kräfte gegeneinander auszuspielen und gleichzeitig die Bevölkerung machtlos und doch ruhig zu halten, ist verkürzt. Khamenei hat zwar eine hegemoniale Stellung innerhalb des politischen Systems, doch auch er bleibt gefangen, solange es sein bloßes Ziel bleibt, die eigene Macht zu erhalten.

 

Khatamis Errungenschaften und die Grenzen des Reformismus

 

Die Errungenschaften Khatamis sind, gemessen an seinen Wahlversprechen, bescheiden. Während seiner achtjährigen Präsidentschaft konnten auf gesetzlicher Ebene kaum Reformen durchgesetzt werden. Ebenso haben es die „Freunde Khatamis” nicht geschafft, ein dauerhaftes institutionelles Gegengewicht aufzubauen, das sich während der Kommunalwahlen 1999 und den Parlamentswahlen ein Jahr darauf noch angedeutet hatte. Die Etablierung der Kommunalwahlen (die jedoch ohnehin in der Verfassung vorgesehen waren) ist dementsprechend der wohl größte institutionelle Erfolg gewesen - auch wenn die Dominanz in den Kommunalräten nach nur vier Jahren gebrochen werden konnte. Und gerade auf den höheren Ebenen der Macht war das reformistische Lager so schwach, dass schon während Khatamis Präsidentschaft die justizielle Konterrepression anlaufen konnte und auch vor Regierungsmitgliedern keinen Halt machen musste. Insgesamt stellte sich auch keine Verbesserung der Menschenrechtslage ein. Sogar das Gegenteil – die Verschlechterung der Menschenrechtslage während einer reformistischen Regierung – sollte nicht verwundern, da die Justiz nicht von der gewählten Exekutive, sondern von ihren politischen Gegnern kontrolliert wird, die mit diesem Instrument den Druck erhöhen können. Das Scheitern von Khatamis Agenda war aus verfassungsrechtlicher Perspektive also schon vorher abzusehen.

Khatami hat aber auch im Rahmen seiner Möglichkeiten zu viele Anlässe verstreichen lassen, in denen ein entschlossener Widerspruch, wenn nicht ein (angedrohter) Rücktritt notwendig gewesen wäre. Dass Entschlossenheit tatsächlich von Erfolg gekrönt sein kann, bewies die Aufklärung der Mordserie an Regimekritikern, der sogenannten „Chain Murders“. Hier sprach Khatami von „religiösem Faschismus” und setzte eine Kommission auf die Klärung der Mordfälle an. Obwohl sie aus den Reihen des Geheimdienstes kamen, konnten die Mörder identifiziert und verurteilt werden. Zu vielen anderen Anlässen schwieg Khatami aber oder stellte sich sogar auf die Seite des Regimes. Das historisch schwerwiegendste Beispiel ist das eskalative und brutale Vorgehen von Polizei und paramilitärischen Einheiten als Antwort auf die zunächst friedlichen Studentenproteste nach der Schließung der reformistischen Zeitung Salam. Hier ging Khatami so weit, seine Anhängerinnen und Anhänger auf eine Gegendemonstration zu bitten, anstatt sich mit den Demonstranten zu solidarisieren. Es ist also kein Wunder, dass ihm Reza Zamani, der Vertreter des Islamischen Studentenvereins, noch sechs Jahre später Vorwürfe machte:

 

Sie, Herr Präsident [Khatami], haben nicht Wort gehalten. Sie hatten versprochen, Angriffe gegen die Presse nicht zu dulden. Doch Sie haben auf die zahlreichen Zeitungsverbote kaum reagiert. Sie haben die freie Meinungsäußerung zugesichert, aber die Inhaftierung der Journalisten, Politiker, Hochschullehrer, Studenten hingenommen. Wir Studenten haben Sie und Ihre Reformvorhaben tatkräftig unterstützt. Doch als die Studenten angegriffen wurden, als ein Studentenheim überfallen wurde, als der Dekan der technischen Fakultät in Geiselhaft genommen wurde, haben Sie geschwiegen und mit Ihrem Schweigen die Atmosphäre der Angst verstärkt. Sie sagen, Sie müssen Rücksicht nehmen. Gibt es etwas Wichtigeres als das Volk, auf das Sie Rücksicht nehmen müssen? Herr Präsident, Sie konnten doch nach vier Jahren feststellen, dass Sie nichts ausrichten konnten. Warum haben Sie sich für weitere vier Jahren wiederwählen lassen?“ (Zamani zitiert nach Nirumand 2005, 3)

 

Und wenn auch selbstgefällig vorgetragen, ist Khatamis Erwiderung nicht völlig aus der Luft gegriffen:

 

Sie fragen mich, was die Reformpolitik erreicht habe? Das will ich Ihnen sagen. Sie stehen jetzt vor dem Staatspräsidenten und können völlig frei Ihre Parolen rufen. Das haben wir erreicht.“ (Khatami zitiert nach Nirumand 2005, 4)

 

Die vorhergehenden Präsidenten hätten sich wohl nicht mal einer solchen Konfrontation gestellt, und wenn doch, eine solche Kritik als Anlass genommen, den Boten der Nachricht zu verfolgen. Vor allem aber sollten Khatamis Ideen von mehr Demokratie und einer offeneren Gesellschaft seine Amtszeit überdauern. Er konnte zwar kaum zu einer Rechtsstaatlichkeit, auch nicht im Rahmen der bestehenden Verfassung, beitragen, und auch nicht die Institutionen demokratisieren, er hat aber ohne jeden Zweifel die politische Kultur des Iran nachhaltig verändert. Oder wie es Jahanbegloo (2003, 127f.) ausdrückt: „The genie of democratization is out of the bottle.Im Schatten der reformistischen Bewegungen wurden unzählige Medien gegründet und ein wesentlich offenerer (wenn auch nach wie vor kodierter) Diskurs geführt. Das Ende der Präsidentschaft Khatamis und die Unterbindung einer reformistischen Nachfolgeregierung hat auch eine der „Alternativen” zu Tage gebracht: die Monopolisierung der Staatsmacht in den Händen der traditionellen Rechten und der Rechtsradikalen.

Khatami hat, wie es Behrooz Ghamari-Tabrizi (2005) ausdrückt, eine Hegemonie geschaffen. Begünstigt durch die Digitalisierung der sozialen Auseinandersetzungen, trat diese Gegenhegemonie nun deutlich im In- und Ausland zu Tage. Der Ausgang dieser Auseinandersetzung ist bekannt. Er kann dazu dienen, den ewigen Autoritarismus des Regimes zu belegen. Doch aus einer offeneren Perspektive hat die Protestbewegung auch Khamenei klar gemacht, dass seine Macht nicht absolut ist. In den nächsten Wahlen wurde Rohani mit einer fast identischen Kampagne Präsident. Es ist eben gerade die reformistische Politik beziehungsweise ihre scheinbare Möglichkeit, die das System insgesamt stabilisiert. Die schwache Legitimation der Regimeelite erlaubt keine (dauerhaft) kompromisslose Repression.

Die Wahlen im Iran wirken sich also ambivalent auf die Stabilität der Islamischen Republik aus. Im folgenden Ausblick soll aus normativer Perspektive mögliche Zukunftsszenarien und endlich eindeutig zu der Frage des Wahlboykotts Stellung bezogen werden.

 

Rohani: Khatami Reloaded?

 

Die Tatsache, dass Khamenei nun schon in die Jahre gekommen ist und keinen Nachfolger hat – er selbst wurde von Rafsanjani zum Nachfolger Khomeinis gemacht –, zeigt, dass es die Generation der Revolutionäre rund um Khomeini nicht mehr gibt. Diese Generation ist am Aussterben, und angesichts dessen denke ich, dass sich das System der Velayat-e Faghih nach Khameneis Tod auflösen wird!“ (Abdol-Karim Lahidji zitiert nach Asisi & Ghafari 2013)

 

Ramin Jahanbegloo (2003, 131) hatte bereits vor zwölf Jahren drei Zukunftsszenarien vorgestellt, von denen eines bereits temporär eingetreten ist. Heute sind alle drei Szenarien wieder denkbar:

1.) Die Hardliner halten sich mit undemokratischen Mitteln und durch Khameneis Segen an der Macht. Dies ist eine vernünftige Interpretation der temporären Monopolisierung der Staatsgewalt durch Ahmadinejads Wahlsieg und seiner umstrittenen Wiederwahl 2009. Tatsächlich konnte dieser Modus nicht endlos fortgesetzt werden. Sowohl die zunehmenden Spannungen zwischen Bevölkerung und Regime als auch zwischen Präsident und Revolutionsführer verhinderten eine Fortsetzung nach 2013.

2.) Auch das folgende Szenario hat seine Relevanz bereits bewiesen, nämlich die Machtübernahme durch Teile des Sicherheitsapparats, insbesondere der Revolutionsgarden. Bereits 1999 drohten Kommandeure der Revolutionsgarden Khatami mit einem Putsch. Zehn Jahre später waren sie ebenfalls ein zentraler Akteur bei der Niederschlagung des legitimen Aufbegehrens. Die religiöse Autorität Ali Montazeri sah in dieser Entwicklung die „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ beendet und die Machtübernahme der Revolutionsgarden eingeläutet (Schirazi 2010). Jedoch hat sich im weiteren Verlauf eher das Bild ergeben, dass die führenden Generäle nach wie vor auf Khameneis Geheiß handeln, anstatt sich auf eine Allianz mit Ahmadinejads Abadgaran einzulassen (Ahadi 2013).

3.) Das letzte Szenario bezeichnet Jahanbegloo als das optimistischste und zugleich unwahrscheinlichste: die Demokratisierung des Landes. An dieser Einschätzung hat sich aus meiner Sicht bis heute wenig geändert. Während Khatami für seine Passivität in entscheidenden Momenten des zivilen Widerstands kritisiert wird, bewies Rohani in der Vergangenheit sogar wesentlich mehr Konformität und Regimeloyalität. Als Khatami nach 2009 zunehmend zur Zielscheibe der Rechten wurde – es folgten tätliche Angriffe, im Parlament wurde sogar seine Hinrichtung gefordert – wiegelte Rohani anlässlich Moussavis Demonstrationsaufruf auf:

The movement of 25 Bahman [14 February] was against Islam and the Revolution and wanted to overshadow the determined voice of Iran’s nation on 22 Bahman [11 February, anniversary of the Islamic Revolution] and become a tool to divert the public opinion of the region from the real enemies, meaning America and the Zionist regime, as well as their recent defeat. This unwise and seditious action was in the favor of [the] arrogance and anti-revolution.” (Rohani zitiert nach Ditto 2013, 30)

 

Überhaupt lässt sich Rohani keinesfalls einfach als konsequenter Verfechter von Khatamis Positionen darstellen. Seine Argumentation für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist wesentlich nüchterner und stabilitätsbezogener:

 

What is particularly important is the people’s presence in the political arena. Their participation in the political arena will increase our national security. If the bond between the people and the ruling establishment becomes stronger and more extensive…our capability, power, and national security will increase” (Rohani zitiert nach Ditto 2013, 62)

 

Rohani ist auch organisationspolitisch nicht einfach ein Vertreter des reformistischen Lagers, sondern wurde lediglich als Kompromisskandidat unterstützt. Er steht der modernen Rechten um Rafsanjani ebenso nah. Bei den konsequenteren Reformisten wurden daher unlängst Stimmen laut, die die Zusammenarbeit kritisch betrachten (Jafari 2015). Jedenfalls ist auch bei einer Wiederwahl Rohanis und der wohlwollenden Annahme, dass er seine Wahlversprechen vehement verfolgt, von keiner fundamentalen prodemokratischen Machtverschiebung auszugehen.

Trotzdem vertrete ich die Auffassung, dass die Kommunal-, Parlaments-, Präsidenten- und Expertenratswahlen von großer Relevanz sind und eine Stimmabgabe für moderate und liberale Kandidaten sinnvoll bleibt. Wieso? Hier lässt sich nun an die gewagte Prognose von Abdol-Karim Lahidji anknüpfen, die eingangs zitiert wurde. Es gibt nach wie vor keine Nachfolgeregelung für das Amt des Revolutionsführers, obwohl es angesichts von Khameneis Alter und Gesundheitszustand längst dazu hätte kommen müssen. Währenddessen konnte sich ein Diskurs etablieren, in dem es um eine grundsätzliche Änderung der politischen Struktur geht: Statt dass der Revolutionsführer durch einen einzelnen Vertreter beerbt wird, könnte ein Rat ins Leben gerufen werden, der fortan diese Rolle übernimmt. Dies hätte weitreichende Konsequenzen. Selbst wenn dieses Gremium nur durch Kleriker besetzt wird, würden die momentanen Machtverhältnisse eine Einbindung von moderateren Kräften notwendig machen. Damit würden die ideologischen und machtpolitischen Konflikte auch auf oberster Ebene ausgefochten werden, die Revolutionsführung würde nicht mehr mit einer Stimme sprechen, und dies wiederum würde die republikanischen Institutionen stärken. Dieses Szenario ist auch nicht völlig abwegig. Zum einen unterstützt der nach wie vor einflussreiche Rafsanjani diesen Vorschlag (Sadrzadeh 2014). Zum zweiten hat Khamenei selbst immer wieder Pragmatismus bewiesen. Bestimmt er selbst einen Kandidaten, hätte das wohl in jedem Fall kontroverse Auswirkungen. Es scheint momentan niemanden mit dem entsprechenden Charisma zu geben, auf den sich die politischen Lager einigen könnten, ohne eine Stabilitäts- und Legitimationskrise auszulösen. Und zu guter Letzt hat auch die Verfassungsreform von 1989 gezeigt, dass das politische System gerade bei Nachfolgeprozessen angepasst werden kann.

Wie dieser Prozess stattfindet, hängt von der Besetzung des Parlaments und der Regierung ab. Und nicht nur hier werden die Wahlen relevant, auch der Expertenrat wird in diesem Jahr (2016) neu besetzt. In allen Fällen bleibt natürlich abzuwarten, wie der Wächterrat intervenieren wird. Ein kategorischer Wahlboykott wäre in diesem historischen Zeitfenster jedenfalls die falsche Agenda, schon allein um eine erneute rechtsradikale Machtübernahme zu verhindern.

Mit einer solchen Machtübernahme würde auch ein (Bürger-)Krieg wahrscheinlicher werden, betrachtet man die geopolitische Katastrophe im Nahen Osten. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Krieg angesichts der ökonomischen und militärischen Macht „der Wächter der Revolution“ und der Entwicklung im Irak und Syrien der Ausgangspunkt für mehr Freiheit und Demokratie werden könnte. Zu dieser Einsicht scheint auch Akbar Ganji gekommen zu sein, als er Syrien als gefährliche Alternative begreift und sich 2013 eher positiv zu einer möglichen Präsidentschaft (seines politischen Feindes) Rafsanjani äußerte (Karami 2013).

In diesem Sinne fällt mein Schlusswort aus: Es mag paradox klingen, doch so undemokratisch und eingeschränkt die Wahlen im Iran sind, sie haben großen Einfluss auf die zentralste Frage der Politik, nämlich jene über Frieden und Krieg. Ein Krieg würde die letzte Hoffnung auf eine demokratische Transformation im Iran zerstören.

 

 

Quellen

 

Ahadi, Shahram (2013): Interview mit Bahman Nirumand - Irans Pasdaran an den Schalthebeln der Macht, Qantara

https://de.qantara.de/content/interview-mit-bahman-nirumand-irans-pasdaran-den-schalthebeln-der-macht

 

Akkoyunlu, Feyzi Karabekir (2014): The Rise and Fall of the Hybrid Regime: Guardianship and Democracy in Iran and Turkey, Dissertation, London School of Economics and Political Science

 

Asisi, Pierre & Mahsa Ghafari (2013): Menschenrechte und Politik in der Islamischen Republik: „Es gibt viele Nasrin Sotudehs im Iran“, Shabka

http://www.shabka.org/2013/12/06/iran-menschenrechte-und-politik-der-islamischen-republik/

 

Asisi, Pierre (2014): Der Ursprung des Atomprogramms ist politisch - Interview mit Behrooz Bayat, Iran Journal

http://iranjournal.org/politik/der-ursprung-des-atomprogramms-ist-politisch

 

Buchta, Wilfried (2000): Who Rules Iran? The Structure of Power in the Islamic Republic, The Washington Institute for Near East Policy

 

Dabashi, Hamid (2000): The End of Islamic Ideology, Social Research, New York, #67, 475-518

 

Dabashi, Hamid (2007): Iran – A People Interrupted, The New Press, New York

 

Ditto, Stephen (2013): Reading Rouhani - The Promise and Peril of Iran’s New President, Policy Focus #129, The Washington Institute for Near East Policy

 

Filkins, Dexter (2013) The Shadow Commander, The New Yorker

http://www.newyorker.com/magazine/2013/09/30/the-shadow-commander

 

Ghamari-Tabrizi, Behrooz (2005): What’s the matter with Iran? How the reformists lost the presidency, Iranian.com

http://iranian.com/Opinion/2005/June/Ghamari/

 

Iran Data Portal (2015), 1997 President Election, Princeton University

http://www.princeton.edu/irandataportal/elections/pres/1997/

 

Jahanbegloo, Ramin (2003): The Deadlock in Iran: Pressures from Below, Journal of Democracy, #14, 126-131

 

Karami, Arash (2012): Journalist Who Identified Rafsanjani in ‘Chain Murders’ Sees Opportunity in Candidacy, Al Monitor

http://iranpulse.al-monitor.com/index.php/2013/05/2025/journalist-who-identified-rafsanjani-in-chain-murders-sees-opportunity-in-candidacy/

 

 

Nirumand, Bahman (2005): Iran Report 06/2005, Heinrich Böll-Stiftung

https://www.boell.de/sites/default/files/assets/boell.de/images/download_d e/presse/iran-report06_05.pdf

 

 

Sadrzadeh, Ali (2014): Das Rennen ist eröffnet. Debatte über Iran nach Khamenei, Zenith Online

http://www.zenithonline.de/deutsch/politik/a/artikel/das-rennen-ist-eroeffnet-004114/

 

Tazmini, Ghoncheh (2009): Khatami’s Iran - The Islamic Republic and the Turbulent Path to Reform, New York: I.B. Taurus

 

Weaver, Matthew (2010): Iran protests: live blog, The Guardian

http://www.theguardian.com/news/blog/2010/feb/11/iran-protests-22-bahman