„Als die Preußen marschierten vor Prag“ – oder auch nicht

Der diesjährige 21. August ist vorbei, ohne nennenswerte öffentliche Erwähnungen, geschweige denn Betrachtungen zum Jahr 1968. Zwar mögen Kritiker auf das Berliner Bezirksjournal LichtenbergMarzahnPlus verweisen, das am 19. August darüber informierte, dass auf dem Wenzelsplatz zur Erinnerung an das Ende des Prager Frühlings die deutsche Rockband „Speiches Monokel“ mitwirken werde. Und: „Auch Gedenkstättendirektor Hubertus Knabe wird auf der Open-Air-Veranstaltung sprechen.“ Offenbar aber gab es weder von handelnden noch von behandelten Personen große Neigung zu solchem Tun. Was bedeutet wem denn heute die Idee von einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, da die Weichen auf „Nie wieder Sozialismus“ gestellt wurden und der Turbo-Zug dahin ständig Fahrt aufgenommen hat, auch in Tschechien und in der Slowakei, von der Situation im gegenwärtigen Deutschland nicht erst zu reden. „Ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz – das ist der Teufel beim Maskenball“ hatte Otto Graf Lambsdorff, zeitweilig Bundesminister und zwischen 1988 und 1993 Bundesvorsitzender der FDP, befunden. Und so wird verfahren. Basta.
Zum eigentlichen Ereignis gab es dennoch eine – wenn auch nicht ganz originäre – aktuelle Information. Sie betrifft den Bundesnachrichtendienst (BND), insbesondere dessen Rolle bei dem Stück. Im Ergebnis der internen Aufarbeitung der BND-Geschichte nämlich wurde die Legende zerstört, diese Institution habe zur militärischen Intervention der Sowjetunion, Polens, Bulgariens und Ungarns in der Tschechoslowakei alles und noch mehr gewusst, auch von einer Beteiligung der DDR.
Und nicht nur das. Bemerkenswert an den neueren Forschungsergebnissen ist, nach Spiegel Online vom 20. August, dass diese Version durch „dem Hause“ zugetane Journalisten, insbesondere bei Bild, Welt und FAZ, aber auch bei „vielen Regionalblättern“ verbreitet wurde. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Vermutlich fand diese PR-Maßnahme des Dienstes durch die Medien auch Verbreitung in der DDR mit unterschiedlichen, zumeist negativen Folgen bei Funktionsträgern im weitesten Sinne, also auch außerhalb der institutionellen Strukturen, sowie für ebenso ehrenwerte, ideell und moralisch motivierte Protestierer mit Sympathien für den Prager Frühling.
Wie war denn nun der Sachverhalt, wie dessen Perzeption? „Sowjetische Truppen waren seinerzeit in die Tschechoslowakei einmarschiert und hatten die Reformer um den Chef der Kommunistischen Partei, Alexander Dubcek, gestürzt. Der BND verbreitete anschließend, er habe die Ereignisse treffend analysiert, was nicht stimmte“, heißt es bei Spiegel Online. Geheimdienstakten belegten, „dass die größte Militäroperation in Europa nach 1945 den Westen nicht nur völlig unvorbereitet traf: Der BND glaubte 1968 auch, die ostdeutsche Nationale Volksarmee (NVA) habe sich an der brutalen Okkupation beteiligt – dabei hatte Leonid Breschnew dem nach Aufwertung drängenden DDR-Chef Walter Ulbricht den Wunsch nach Beteiligung abgeschlagen. Die vom BND im Raum Budweis angeblich gesichtete 11. motorisierte Schützendivision der NVA hockte die ganze Zeit brav in der DDR.“
Weil wir schon dabei sind: So ganz ohne doppelten Boden verlief die Angelegenheit doch nicht, wie Spiegel Online schon am 20. August 2008 enthüllt hatte. Einige „im Westen“ wussten durchaus etwas aus sicherer Quelle, obwohl man „im Kreml“ keine Spione hatte.
„Aus den Geheimdokumenten ergibt sich, dass die sowjetischen Botschafter in London und Paris die jeweiligen Regierungen in der Nacht der Invasion benachrichtigten. Sowjetbotschafter Anatolij Dobrynin informierte den US-Präsidenten Lyndon B. Johnson sogar persönlich – Breschnew wollte beim Westen den Eindruck vermeiden, der Einmarsch diene der Vorbereitung eines Angriffs auf die NATO.“ Den Deutschen sagten die NATO-Verbündeten nichts davon, vermutlich auch nicht den NATO-Gremien, wozu Deutsche gehörten. Hatten wir dies Muster nicht genau so schon beim Mauerbau?
Die Sachverhalte kennt man aus Forschungen zumindest schon seit 2008, worüber auch der gedruckte Spiegel – in Formulierungen fast identisch mit der aktuellen Information – seinerzeit berichtet hatte. Dennoch hielt sich die dem BND zuträgliche Version allgemein im Bewusstsein, ja sie gewann nach dem Beitritt der ostdeutschen Länder weitere Verbreitung auch durch Übernahme in Biographien.
Nicht identisch ist die verschärfte Formulierung hinsichtlich eines DDR-Wunsches nach aktiver militärischer Beteiligung. Im Spiegel, Ausgabe 27/2008, wird als Quelle dafür Leonid Breschnew gegenüber dem CSSR-Staatspräsidenten Ludvík Svoboda am 23. August 1968 zitiert, dessen Schwiegersohn Milan Klusák in dem Gespräch vorgebracht hatte, in Prag sei man „fest davon überzeugt“, dass „deutsche Soldaten“ einmarschiert seien. Breschnew versicherte, das stimme nicht: „Unter uns gesagt, waren die deutschen Genossen beleidigt, dass wir ihnen nicht vertraut haben.“
Worauf könnte sich der Vertrauensmangel denn beziehen? Ob man daraus die bei Spiegel vermuteten Intentionen Ulbrichts ableiten kann? Nicht alle tatsächlichen oder vermuteten Äußerungen von Staatsmännern in bedrängter Situation bestehen den Wahrheits- und Weisheitstest; von der Wiedergabe in Medien ganz zu schweigen. Hier gilt systemindifferent als Hauptkriterium, was „der Sache“ nützt.
Aber wir haben ja noch das Korrektiv vermittels Wissenschaft. Den neueren Forschungsergebnissen zum vermeintlichen neuerlichen Marsch deutscher Militärs nach Prag steht eine Veröffentlichung des Bundesarchivs zur Seite mit dem schönen Sachtitel: „21. August 1968: Einmarsch – Kein Marsch. Die Beteiligung der Nationalen Volksarmee an der Niederschlagung des Prager Frühling“, unter anderem mit 20 Dokumenten aus dem Verteidigungsrat der DDR und der Armeeführung, die das Gegenteil bestätigen und die BND-Erkenntnisse zusätzlich als unzutreffend qualifizieren.
Einst marschierten „die Preußen“ tatsächlich auf Prag, wo sie, jedenfalls zunächst, am 6. Mai 1757 die „Prager Schlacht“ gegen die Österreicher gewannen. „Als die Preußen marschierten vor Prag, vor Prag, eine wunderschöne Stadt! Sie haben ein Lager geschlagen, mit Pulver und Blei ward’s betragen. Kanonen wurden aufgeführt – Schwerin der hat da kommandiert.“ So die Geschichte im vaterländischen Liedgut. Doch dann kam’s: „Schwerin, der hat uns kommandiert. Er hat die Truppen angeführt. Potz tausend alle Wetter hieben wir nicht drein! Bei Prag aber büßten wir den Feldherrn ein. Trallala …“
Die gern als „rote Preußen“ apostrophierten DDR-Militärs marschierten jedenfalls nicht; weder vor noch nach Prag oder – überhaupt sonst – irgendwo ein; weder als Waffenbrüder noch im „Auslandseinsatz“.