Rückfälle

Am Ende des britischen Hegemonialzeitalters waren die USA und Deutschland parallel zueinander als herausfordernde Mächte entstanden, die zwangsläufig in Konflikt miteinander geraten mussten. Als Deutschland mit den beiden Weltkriegen versuchte, Europa zu erobern und imperial zu beherrschen – und dabei kein Verbrechen scheute, von der Erfindung des Luftkrieges, des Gaskrieges und des U-Boot-Krieges bis zum Holocaust –, standen die USA folgerichtig in der gegen Deutschland gerichteten Staatenkoalition. Dabei wurden sie zugleich zur neuen hegemonialen Macht; Westdeutschland, das von den USA im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion wieder gefördert wurde, und nach 1990 Gesamtdeutschland wurden Teil des Hegemonialsystems der USA.
Dabei war der Gegensatz zwischen beiden bis zur Niederlage Hitlerdeutschlands 1945 nicht nur machtpolitischer Natur. Es waren zugleich zwei Typen kapitalistischer Expansion. Der westliche der USA beruhte, wie der Politikwissenschaftler Dan Diner schrieb, auf „weltmarktlichem Universalismus“ und „abstrakt-tauschförmiger und informeller Ausdehnung“, während der deutsche ein kontinental bestimmter, gewaltförmiger war. Von der moralischen und historischen Bedeutung her handelte es sich „um einen Unterschied ums Ganze“. Die atlantische Integration der Bundesrepublik Deutschland war demnach nicht nur ein bündnispolitischer Vorgang, sondern eine weltmarktlich flankierte Integration in eine andere politische Kultur.
Als Teil dieses „westlichen“ im Unterschied zu dem früheren, gesonderten kontinental-europäischen kapitalistischen System erscheint mit der Erosion der US-amerikanischen Hegemonie Deutschland innerhalb der „westlichen Welt“ wieder als Antipode zu den USA. Der andere Typ imperialistischer Machtausübung ist verschwunden, der Rückfall in die Konkurrenz wieder da. Der deutsche Leistungsbilanz-Überschuss 2016 betrug 297 Milliarden US-Dollar, China folgte mit 245 Milliarden, während die USA das weltweit größte Defizit in Höhe von 478 Milliarden Dollar hatten. Aus dem Handel mit den USA und Großbritannien resultierten 2015 44 Prozent der deutschen Überschüsse (Ifo-Institut, Ende Januar 2017). So ist es folgerichtig, dass nicht nur China, sondern auch Deutschland in den Fokus der von Donald Trump angezielten Außenpolitik geraten ist.
Der langerwartete Besuch von Kanzlerin Angela Merkel beim neuen Präsidenten der USA hat nun am 17. März stattgefunden. Zeitgleich fand in Baden-Baden ein Treffen der G20-Finanzminister statt. Einen Tag zuvor war Trumps Finanzminister Steve Mnuchin auf Einladung seines deutschen Gegenübers, Wolfgang Schäuble, zu Gesprächen in Berlin. Bei beiden Gelegenheiten wurden die Meinungsverschiedenheiten deutlich sichtbar.
Trump begrüßte die Kanzlerin draußen vor der Tür des Weißen Hauses, gab ihr nach dem Vieraugengespräch im Oval Office für die Fotografen aber nicht die Hand. Manche Kommentatoren witterten einen Fauxpas. Wer Trump länger beobachtet hat, musste jedoch zu dem Eindruck kommen, dass auch dies beabsichtigt war; es waren die Bilder fürs Inland – sollte die USA-Regierung zu gegebener Zeit doch noch einen Handelskrieg mit den deutschen Rekord-Exporteuren anzetteln wollen, hätte ein solches Bild nicht gepasst. Beide Seiten waren sich offenbar nicht besonders herzlich begegnet, doch gab es auch kein Anzeichen offenen Bruchs. Welche Interessen sie verbinden und welche sie trennen, bleibt noch in der Schwebe. Deutliche Meinungsverschiedenheiten diagnostizierte die französische Zeitung Libération am 19. März: „Hat etwa jemand gedacht, US-Präsident Donald Trump und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel würden bei diesem ersten Treffen am Freitag im Weißen Haus Hand in Hand die gleiche Weltsicht darlegen? Daraus wurde natürlich nichts. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen der neuen US-Regierung und der EU im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen scheinen jeden Tag ein Stück deutlicher hervorzutreten.“
Mnuchin sprach nach seinem Gespräch mit Schäuble in Berlin von einem sehr produktiven Treffen mit einem breiten Themenspektrum. Deutschland und die Vereinigten Staaten wollten sich für einen ausgewogeneren Handel zwischen beiden Ländern einsetzen. „Das ist unser Schwerpunkt“, sagte er, „wir wollen keinen Handelskrieg.“ Beim Finanzministertreffen der G20-Staaten verhinderte er jedoch eine gemeinsame Linie in der Handelspolitik. Nach den zweitägigen Verhandlungen in Baden-Baden schrieben die Minister lediglich fest, dass sie den Beitrag des Handels für die Wirtschaft stärken wollten, ein „Bekenntnis“ gegen Protektionismus wurde nicht in die Schlusserklärung aufgenommen. Dieses Glaubenswort tauchte in etlichen Kommentaren der Großmedien tatsächlich wieder auf und bewies erneut: Der Neoliberalismus ist eine Glaubenssache – und Trumps größte Sünde besteht darin, dass er vom wahren Glauben abgefallen scheint. Die italienische La Repubblica bekundete daher ebenfalls am 19. März strikt rechtgläubig: „Es ist klar, was dieses Amerika nicht will und was der harte Kern des Trumpismus und sein nicht verhandelbarer Teil ist: der Wirtschaftsnationalismus. Viele hatten gehofft, dass Mnuchin sich eher als Banker denn als Politiker präsentiert. Doch dem ist nicht so. Seine Treue zum Präsidenten ist unerschütterlich. Die Botschaft, die der Finanzminister nach Deutschland gebracht hat, ist identisch mit dem, was nur wenige Stunden zuvor Trump Merkel wissen ließ: Ihr habt uns hereingelegt, jetzt bestimmen wir die Spielregeln. Wenn America First, der Slogan des Trumpschen Nationalismus, nicht vereinbar ist mit dem multilateralen Ansatz der G20 und Global Governance, dann sollen sich beide eben zum Teufel scheren.“
Den Lesern des Tagesspiegels stellte Christoph von Marschall Mnuchin zu seinem Berlin-Besuch am 16. März so vor: „Er arbeitete bisher an der Wallstreet. […] Mnuchin stammt aus einer jüdischen Familie in New York.“ Was hier scheinbar bieder als Sachaussage daherkommt, ist in der Tat der Rückfall in ein altes ideologisches Klischee. Während sonst der deutsche Anti-Trumpismus mit dem Muster arbeitet, die rechten Populisten um Trump hätten die hehren Werte der offenen Gesellschaft, der globalisierten Freizügigkeit und des Freihandels, kurz „die westlichen Werte“ verraten, und Merkel-Deutschland, aus der Geschichte gelernt habend, hält sie nun tapfer hoch, bekommt das Ganze hier einen historischen Hautgout. Es wird an die Reste der Nazi-Ideologie appelliert, von denen man hofft, sie schlummerten noch in den Tiefenschichten des deutschen Unterbewusstseins: Der amerikanische Geldjude will den ehrlich arbeitenden Deutschen an ihr sauer verdientes Geld. Um nach Inflation und Weltwirtschaftskrise den antikapitalistischen Drang antisemitisch zu wenden, hatten die Nazis die famose Differenz zwischen dem „schaffenden“ (gleich: „arischen“) und dem „raffenden“ (gleich „jüdischen“) Kapital erfunden. Heute verkörpert in den deutschen Exportüberschüssen auf Grund deutschen Fleißes und deutscher Leistungskraft, denen der Trumpismus an den Kragen will.
Ist der deutsche Rückfall in die Hegemonialkonkurrenz an sich schon schlimm genug, dieser ist unentschuldbar. Am Ende führt dies in die Katastrophe. Und die Menschen hierzulande müssen sie ausbaden. Die USA sind auf jeden Fall am Ende groß, kompakt und leistungskräftig genug, um auch diese Auseinandersetzung besser zu bestehen