Der dritte Anlauf

Populismus und blinde Vergesellschaftung

in (29.03.2017)

Ja, irgendwann melden sich die Benachteiligten. Und es ist nicht so, wie die Linke sich das vorgestellt hat, dass dieses Erwachen zum Fortschritt führt. Es genügt vielen, nur dagegen zu sein. (Petros Markaris)

Offen ist die westliche Parteiendemokratie in vielerlei Hinsicht. Ob es sich um Fragen der Sexualmoral oder der sexuellen Orientierung handelt, um das Rauchverbot in Gaststätten, um militärische Einsätze in anderen Ländern, die Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen, den Mindestlohn oder die Managergehälter: Immer wieder gab es und gibt es Grund zum Streit und zu kontroversen Debatten. Und immer wieder hat die Bevölkerung Gelegenheit, ihre Ansichten öffentlich kundzutun und sich zwischen den verschiedenen von den Parteien vorgeschlagenen Optionen zu entscheiden.
So offen, dass sie auch ihre rechtliche Grundstruktur zur Disposition stellen würde, ist die westliche Demokratie allerdings nicht. Diese an der Figur des freien Individuums ausgerichtete Grundstruktur ist gleichsam das Korsett, das diese Gesellschaft bei aller Vielfalt der Meinungen zusammenhält und das ihre staatliche Einheit ausmacht. Es ist der zur Verfassung geronnene „Volkswille“, der dem real existierenden Volk keineswegs zur Verfügung steht, er kann nicht je nach Situation oder Augenblicksmeinung beliebig abgeändert werden. In diesem Korsett befindet sich das Wählervolk immer schon vorher, bevor es anfängt, sich zu ereifern und zu streiten. Es ist der stillschweigend vorausgesetzte Grundkonsens der demokratischen Gesellschaft, der es ihr ermöglicht, über alle Unterschiede und Interessengegensätze hinweg friedlich zu funktionieren. Dieser Grundkonsens steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen sich die Streitkultur und die viel gepriesene Meinungsvielfalt zu halten haben, er markiert die Grenze, jenseits welcher die Demokratie „wehrhaft“ zu werden verspricht.
Und genau hier liegt das Problem, das die Freunde der Demokratie mit dem sogenannten Rechtspopulismus haben. Es liegt nicht so sehr in den konkreten Forderungen, die sich im Programm dieser oder jener Partei niedergeschlagen haben, als vielmehr in dem Stimmungsumschwung, der sich mit dieser politischen Bewegung bemerkbar macht. Er reicht offensichtlich tiefer als das, was wir in den letzten Jahrzehnten zu sehen gewöhnt waren, und er hat durchaus nennenswerte Teile der Bevölkerung erfasst. Der bodenlose Hass auf das „System“, der den Repräsentanten der herrschenden Ordnung vielfach entgegenschlägt, lässt den besorgten Demokraten ahnen, dass es mit der „Wehrhaftigkeit“ auch einmal ein Ende haben könnte. Denn dazu braucht es eine genügend große Anzahl von Menschen, die diesem Hass auch stimmungsmäßig gewachsen sind. Und weil es unter Demokraten ohnehin nicht üblich ist, die „westlichen Werte“ näher in Augenschein zu nehmen und etwa auf ihre ökonomische Funktion hin zu befragen, ist es vor allem die Stimmung, auf die sich die Aufmerksamkeit der politischen Klasse richtet.
Die Politiker, die den „westlichen Werten“ verpflichtet sind, müssen, so heißt es, das verloren gegangene Vertrauen der Wähler zurückgewinnen und ihre Stimmung positiv beeinflussen. Der Politiker sollte sein Ohr bei den Menschen haben, auf Augenhöhe mit ihnen sprechen, ihnen das Gefühl geben, dass ihre Besorgnisse ernst genommen werden, ihnen gewisse von den Notwendigkeiten des ökonomischen Systems diktierte Entscheidungen erklären, an ihre Einsicht appellieren und sie wohin auch immer „mitnehmen“. Ergänzt werden diese bis zum Überdruss wiederholten Floskeln durch gewisse verfahrenstechnische Überlegungen. Vielleicht könnte das eine oder andere Element der direkten Demokratie, häufiger durchgeführte Volksabstimmungen etwa, dazu beitragen, die „Wutbürger“ zu besänftigen. Auch hierbei geht es um Gefühle. Die Menschen sollen das Gefühl haben, dass es, dem Augenschein zum Trotz, sehr wohl auf ihre Ansichten ankommt, dass sie Verantwortung tragen und überhaupt ein unverzichtbarer Bestandteil des Systems seien.

Abstraktionen kann man nicht lieben
Mit dem Gerede über Vertrauen und Gefühl räumen die Fürsprecher der „westlichen Werte“ stillschweigend ein, dass diese, abstrakt für sich betrachtet, offensichtlich nicht das Zeug haben, die Menschen an sich zu binden. Es muss mit moralischen Weichzeichnern à la Mitmenschlichkeit, Toleranz und Weltoffenheit Stimmung für sie gemacht werden. Und dieses Stimmung erzeugende Gerede, das nicht minder populistisch ist als das der Stimmungserzeuger von der Gegenseite, ist hervorragend dafür geeignet, eben diese Tatsache, dass es sich hier um Abstraktionen handelt, zu verschleiern. Die eigentlich naheliegende Frage, wie es zur moralisch-rechtlichen Wirksamkeit dieser Abstraktionen hat kommen können, ob es überhaupt an ihnen selbst liegt, dass sie im Verlaufe der Neuzeit wirksam und zur Grundlage des modernen Staates geworden sind, oder nicht vielmehr an der gesellschaftlichen Entwicklung als ganzer, an den Lebens- und Produktionsverhältnissen, denen sie zuzurechnen sind, rückt auf diese Weise in weite Ferne.
Rousseau, der mit seiner Lehre von der Volkssouveränität als einer der Stammväter der modernen Demokratie gelten kann, war da schon von anderem theoretischen Kaliber. Er war sich darüber im Klaren, dass das „Volk“, soweit es mit dem Staat identifiziert wird, nur eine Abstraktion sein kann. Als Staat bilden die Einwohner des Landes eine Einheit, als Privatpersonen, die vielfältig voneinander unterschiedene und sogar gegensätzliche Interessen verfolgen, dagegen nicht. Im „Gesellschaftsvertrag“ (contrat social) von 1762, dem grundlegenden Werk, in dem er seine staatstheoretische Konzeption entwickelt, unterscheidet er daher wohlweislich den alle Staatsbürger umfassenden „Allgemeinwillen“ (volonté générale) von den im Alltag auftretenden Willensmeinungen, dem „Willen von jedermann“ (volonté de tous), den die Bürger je nach Situation und Privatinteresse äußern. Die volonté générale kann sich nur mit den allgemeinen Angelegenheiten befassen und nur in der Form allgemeiner Gesetze ausdrücken, die volonté de tous ist die Sache momentaner Stimmungen und Interessenlagen.
Auf welcher Abstraktionsebene die volonté générale zu verorten ist, zeigt etwa die folgende Passage aus dem Gesellschaftsvertrag, bei der es um die Frage der Regierungsform geht. Woher, so fragt Jean-Jacques Rousseau, „besäßen hundert, die sich einen Herren wünschen, das Recht, für zehn, die sich keinen wünschen, mitzustimmen“ (Der Gesellschaftsvertrag, Frankfurt/M. 1978, Buch I, Kap. 5, S. 48)? Und die Antwort liegt eben in dem aus dem ursprünglichen Vertrag (pacte fondamental, der die Gesellschaft als solche allererst konstituiert) hervorgegangenen Allgemeinwillen, der als das logische Apriori aller staatlichen Einrichtungen schon zuvor tätig gewesen sein und (in der Verfassung) auch das Verhältnis von empirischer Mehrheit und Minderheit gesetzlich geregelt haben muss. Der Allgemeinwille kann also, weil er das Wesen des Staates ausmacht, durch nichts und niemanden vertreten werden, auch nicht durch die momentane Mehrheit der Bürger. Sobald nämlich die Mehrheit sich jedes Recht herausnimmt, auch dasjenige, die Minderheit für ihre von der Mehrheit abweichende Ansicht zu bestrafen, sie mit Gewalt zum Schweigen zu bringen, ist der Allgemeinwille, das heißt aber: die staatliche Einheit, gestorben. Als aktuelles Beispiel für einen solchen Tod kann die Türkei dienen, die sich unter dem Volksführer Erdoğan offensichtlich auf dem Weg in die faschistische Diktatur bzw. den Bürgerkrieg befindet. Rousseau spricht in einem solchen Falle von der „Unterjochung einer Menge“, die mit „dem Regieren einer Gesellschaft“ nichts zu tun habe (ebd.).
Wenn Rousseau also Staat und Volk in eins setzt, dann liegt die Pointe dieser theoretischen Konzeption nicht darin, dass „das ganze Volk (...) gleicher Meinung sein muss“ ‒ ein Unsinn, der seinerzeit von Joseph A. Schumpeter (Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1947), Tübingen und Basel 1980, S. 397) und vielen seiner Nachbeter verbreitet worden ist ‒, sondern darin, dass der rein auf das Gesetz (den „Allgemeinwillen“) gegründete Staat allen Bürgern den gleichen Status der freien, über einen eigenen Willen verfügenden Rechtsperson sichert. Wobei dieses Sichern gerade auch im wechselseitigen Verkehr zwischen den rechtlich voneinander unabhängigen Staatsbürgern erforderlich ist: „In der gemeinsamen Freiheit hat keiner das Recht, zu tun, was die Freiheit eines anderen ihm verbietet, und die wahre Freiheit ist niemals selbstzerstörerisch“ (Rousseau, Brief Nr. 8 der „Briefe vom Berge“, zit. nach Ernst Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte ‒ Texte und Studien zur politischen Theorie des 14.‒18. Jahrhunderts, Bd. II, hg. von Clausdieter Schott, Freiburg/München 1972, S. 209). Kurz gesagt, bei der Kategorie des „Willens“, in dem die Regierenden und die Regierten übereinstimmen, handelt es sich um die für alle Staatsbürger gleiche gesellschaftliche Form ‒ eben um jene Subjektform, die zur Grundausstattung einer Gesellschaft gehört, die man sich aus lauter Verträge schließenden Individuen zusammengesetzt denkt. Die Kategorie des Allgemeinwillens setzt logisch solche Individuen voraus, und sie hat, in die gesellschaftliche Praxis umgesetzt, die Tendenz, solche Individuen zu erzeugen.
Es versteht sich, dass dieser Wille, in dem sich die vertragschließenden Individuen wechselseitig als voneinander freie Rechtspersonen anerkennen, auf einer anderen Abstraktionsebene angesiedelt ist als jenes konkrete Wollen, das die Menschen auf die vielfältig voneinander unterschiedenen Dinge der empirischen Welt zu richten pflegen. Kant, der Rousseaus Ansatz gewissermaßen zu Ende gedacht hat, spricht daher im Falle des empirischen Wollens, um die hier ausschlaggebende Motivebene als solche zu kennzeichnen, von „Gefühl, Antrieb und Neigung“. Genau so ein konkretes Etwas, auf das „Gefühl, Antrieb und Neigung“ zu richten wären, kann aber die gesellschaftliche Form, die für alle gleich ist, nicht sein.
Der gesetzliche Zustand, für den sich die Staatstheoretiker des 18. Jahrhunderts einsetzten, zielt auf die Verbreitung eines Standpunktes, der unabhängig von der Vielfalt der empirischen Interessen und Bedürfnisse gelten soll, der also vor und jenseits aller Empirie angesiedelt ist; für die real existierenden Menschen geht es aber immer um konkrete Anliegen, die ihnen von der Jeweiligkeit ihrer Situation und ihrer Bedürfnisse diktiert werden. Die gesellschaftliche Form, in der sie sich dabei befinden oder nicht befinden, steht für sie überhaupt nicht zur Debatte. Im Gegenteil. Der Standpunkt des freien Willens, soweit er nicht nur mir vorbehalten ist, sondern per Gesetz auch allen meinen Mitbürgern garantiert wird, kann von dem privaten Egoisten, der ich bin, durchaus auch als eine lästige Einschränkung empfunden werden: „denn seiner Natur nach strebt der Wille des einzelnen nach Vorrechten, der Allgemeinwille dagegen nach Gleichheit“ (Buch II, Kap. 1, S. 58), heißt es bei Rousseau. Um ein sicherer Rückhalt für den gesetzlichen Zustand sein zu können, müssten „die Menschen (des 18. Jahrhunderts, P. K.) schon vor dem Bestehen der Gesetze das (sein), was sie erst durch diese werden sollen“ (Rousseau nach Reibstein, S. 74). Und Kant, der die Kategorie der Allgemeinheit endgültig von allen aus der Erfahrungswelt genommenen Vorstellungen „reinigt“, um sie „rein“ als eine „Idee der Vernunft“ zu etablieren, bringt das theoretische Dilemma vollends auf den Punkt. Die Vernunft-Idee der „Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt“ ist zwar dazu imstande, in „vernunftbegabten Wesen“ moralische Gefühle, insbesondere das der Pflicht hervorzurufen (Kategorischer Imperativ), es gibt aber kein stofflich-konkretes Bedürfnis oder Interesse, das sich in den Dienst dieser „Idee“ stellen ließe: „wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend (...)“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Werkausgabe, Bd. VII, Frankfurt/M. 1991, S. 99).

Blind in den Kapitalismus
Es ist vielleicht das höchste Lob, das man den theoretischen Protagonisten der modernen Gesellschaft aussprechen kann, dass sie sich über die Reichweite der Kategorien, mit denen sie den freien Bürger und seinen Staat konstruierten, Rechenschaft abzulegen versuchten. Mit seiner Aussage über die „reine Vernunft“ deutet Kant selbst auf die Grenze hin, die dem bürgerlichen Denken, das ständig mit solchen verselbständigten Abstraktionen wie dem „freien Willen“ umgeht, gesetzt ist. Es kann sich, wenn überhaupt mit Bewusstsein, dann nur glaubend und bekennend, aber nicht begreifend zu ihnen verhalten. Kant hat damit die weitere theoretische Entwicklung angestoßen, die bei Marx dann bekanntlich zur Frage nach der gesellschaftlichen Praxis, zur Frage nach den Produktions- und Lebensverhältnissen geführt hat, auf deren Boden die angeblich rein „aus sich heraus“ wirkenden Ideen der bürgerlichen Gesellschaft gewachsen sind. Freiheit und Gleichheit, so Marx, sind Momente, die logisch zur Lebenspraxis von Menschen gehören, die ‒ auf einem fortgeschrittenen Niveau der Arbeitsteilung ‒ die Produkte ihrer Arbeit regelmäßig gegeneinander austauschen. Die sachlichen Bestandteile der Operation, die Produkte, geraten dadurch in die Warenform, die Austauschenden selbst werden füreinander zu Privateigentümern dieser Waren. Im Tauschakt erkennen sie sich wechselseitig als frei und unabhängig voneinander an und sie respektieren den Willen des jeweiligen Kontrahenten, mit dem er über seine Ware verfügt: so entsteht die juristische Form des Privateigentümers, der im Hinblick auf den Warentausch mit allen anderen Privateigentümern gleichgestellt ist. „Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit“ (Grundrisse, MEW 42, S. 170).
Und weil die Entwicklung des Kapitalismus mit der Lohnarbeit auch die Warenproduktion verallgemeinerte, entstand jene „Marktgesellschaft“, deren Selbstverständnis gänzlich von den der Warenzirkulation entsprungenen Kategorien bestimmt wird. Die „westliche Demokratie“, die in den am weitesten entwickelten Ländern des Kapitalismus entstanden ist, erlaubt es den Einwohnern nicht nur, als Privateigentümer ihrer Arbeitskraft selbstverantwortlich am Marktgeschehen teilzunehmen, sie hat sie auch zu vollgültigen Staatsbürgern mit allen dazugehörenden Rechten gemacht. Mit anderen Worten, die Abstraktion der „Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt“ hat sich in diesen Ländern auch auf der Seite des „Volkes“ niedergelassen, das ihr am Anfang unseres Zeitalters, als die gesetzgebende Gewalt noch eine „Obrigkeit“ war, lediglich auf äußerliche Weise unterworfen war. Indem sie allesamt zu Ware-Geld-Individuen wurden, lernten die Insassen der modernen Demokratie, den Standpunkt der Abstraktion auch in ihrer eigenen Lebenspraxis zu erklimmen. Die unmittelbaren Bedürfnisse des Lebens traten in den Hintergrund, das Geld und das Arbeiten für Geld, egal für welchen Zweck, schoben sich nach vorne. Sie erhielten das Aussehen einer objektiven Notwendigkeit, die zum Leben genauso natürlich gehört wie die Luft, die es zum Atmen braucht. Die „Herrschenden in Staat und Gesellschaft“ wurden ersetzt durch jenes von Kant postulierte Vernunft-Ich, das sich im Namen dessen, was allgemein (und damit „objektiv“) gilt, selbst zu disziplinieren versteht.
Wie man sieht, lässt sich diese Entwicklung problemlos mit den von Marx bereitgestellten Kategorien verstehen und darstellen, auch wenn Marx selbst, der 1883 gestorben ist, nicht im Traum daran dachte, dass sich die Volksmassen und insbesondere die Industriearbeiterschaft so weitgehend würden domestizieren und in die Rechtsstruktur eines die gesamte Gesellschaft umfassenden Kapitalismus einbauen lassen. Jedenfalls ist die Rolle, die das „Volk“ in dieser ganzen hinter uns liegenden Epoche gespielt hat, vom Marx’schen Standpunkt aus leicht zu bestimmen. Solange die von Kant hinterlassene Problemstellung historisch gültig oder wirksam ist, kann diese Rolle nur eine passive oder leidende sein ‒ allem äußeren Aktionismus zum Trotz. Hegel beantwortete die Frage nach dem Subjekt der abstrakten Vergesellschaftung bekanntlich damit, dass er diesen Prozess unter dem Namen „Weltgeist“ zu seinem eigenen Subjekt ernannte. Der „Weltgeist“ bedient sich listigerweise der jeweils aktuellen und zeitgebundenen Interessen der Menschen, um in der Geschichte „sich selbst zu vollbringen“ und jene objektivierende Wirkung, jenen „objektiven Geist“ zu entfalten, der inzwischen unsere moderne und allzu „kühle Gesellschaft“ hervorgebracht hat, in der es den Verlierern in der kapitalistischen Konkurrenz so schwerfällt, jemanden zu finden, der ihr Missgeschick persönlich zu verantworten hätte. Auch Marx, der die bürgerlichen Prinzipien als eine Sache der gesellschaftlichen Praxis ansieht, als das Resultat regelmäßig wiederkehrender Verhaltensweisen, die der bürgerliche Mensch von klein auf einzuüben genötigt ist, folgt in gewisser Weise diesem Gedanken: Der Standpunkt des abstrakten Warenbesitzer-Ichs kann sich nur hinterrücks und im Verlaufe von Jahrhunderten der Vergesellschaftung des menschlichen Bewusstseins bemächtigen. Anders als Hegel sucht er aber nicht nach einem „höheren Sinn“ in der Geschichte, weshalb er sich damit begnügt, vom Prozess der „blinden“ oder „naturwüchsigen“ Vergesellschaftung zu sprechen. Jener theoretischen Naivität, die einer von Abstraktionen ‒ sei es Gott, sei es die Nation, sei es die Zukunft der Menschheit ‒ inspirierten Bewegung wortwörtlich glaubt, was sie von sich selbst sagt und denkt, erteilt er aber ebenso eine Absage wie Hegel.

Vom Volk zum Populismus
Einen nützlichen Hinweis, wie die Rolle des „Volkes“ im gesamten Verlauf der kapitalistischen Vergesellschaftung einzuschätzen ist, kann man vielleicht in der folgenden Bemerkung von Marx über die Französische Revolution sehen. Die „Schreckensherrschaft“, so Marx, diente dazu, „durch ihre gewaltigen Hammerschläge die feudalen Ruinen wie vom französischen Boden wegzuzaubern. Die ängstlich-rücksichtsvolle Bourgeoisie wäre in Dezennien nicht mit dieser Arbeit fertig geworden. Die blutige Aktion des Volkes bereitete ihr also nur die Wege“ (MEW 4, S. 339). Was immer die Leute auf die Straße und zur „blutigen Aktion“ getrieben hat: der gestiegene Brotpreis, die Arroganz des Adels, die Artikel des L’Ami du Peuple, Gerüchte über Verschwörungen, die Hoffnung auf Erlösung von allen Übeln, Wichtigtuerei, reichlicher Alkoholkonsum ‒ dass sie einer neuen, eben der bürgerlichen Ausbeuterordnung den Weg bereiteten, war ihnen sicher nicht bewusst. Der Zusammenhang, in dem die Ereignisse jeweils stehen, existiert für die unmittelbar Beteiligten, die ihn gleichsam herstellen, nicht. Sie „dienen“ ihm, aber dieser Dienst ist nicht das Motiv ihres Handelns.
Marx’ nüchterne Einschätzung des „Volkes“ ließe sich übrigens noch durch den Hinweis ergänzen, dass das Wegzaubern der „feudalen Ruinen“ auch eine mentale Seite hatte. Auch von der vormodernen Passivität und Schicksalsergebenheit zeigte sich, dass sie zu Ruinen geworden waren. Ein neuer, aktiver Menschentyp betrat die Bühne, der den Glauben an die Subjektform des freien Willens darin bezeugte, dass er sein „Recht“ in die eigene Hand nahm und den aristokratischen „Nichtstuern“ in direkter Aktion den Garaus machte. Dass im Eifer des Gefechts auch Bicêtre dran glauben musste, ein Heim für Alte und geistig Behinderte, dem auch eine Art Strafanstalt für vagabundierende Kinder sowie ein Arbeitshaus für alleinstehende Frauen angeschlossen waren, gehört zu jenen „bedauerlichen Kollateralschäden“ der kapitalistischen Aufstiegsgeschichte, über deren nicht eben seltenes Vorkommen unsere demokratischen Gutmenschen auch heute noch ihre Krokodilstränen zu vergießen pflegen.
Einmal in Bewegung geraten, ließ sich das Volk auch bereitwillig zu den Waffen rufen ‒ im Namen des Volkes, versteht sich. Die Disziplinierung der Massen durch die militärische Organisation, die Ausrüstung mit Uniformen und Kriegsgerät ‒ alles dies waren Leistungen des Populismus, die der kapitalistischen Massenproduktion den Weg bereiteten. Und der Krieg selbst, der die „aristokratische Zersplitterung“ der politischen Landkarte beseitigte, schuf mit der größeren Einheit des Nationalstaats auch den Markt, in den hinein die industrielle Massenproduktion sich entwickeln konnte. „Die Zollgrenzen zwischen den Provinzen, die Stadtzölle an den Stadttoren, die zahllosen Brückengelder, die Fährgelder ‒ alle diese Grenzen des ancien régime waren mit einem Schlag verschwunden“ (Jules Michelet, Geschichte der Französischen Revolution (1847‒1853), Frankfurt 1988, Bd. III, S. 135).
Dieses Wort von Jules Michelet, gemünzt auf die Jahre 1789 ff., passt mit seiner Logik selbstverständlich auch auf den dreißigjährigen Krieg des 20. Jahrhunderts (1914‒1945), in dessen Gefolge die nationalen Grenzen fielen ‒ oder doch, soweit sie dem Austausch von Waren und Menschen hinderlich waren, erheblich an Bedeutung verloren. In einem zweiten Anlauf, so könnte man sagen, etwa hundert Jahre nach den napoleonischen Kriegen, entfaltete der Populismus noch einmal den Charme von ehedem, aber staatlich besser organisiert und auf verbesserter technischer Grundlage, so dass die Opferzahlen größer waren und die Zerstörungen umfangreicher. Ein weiteres großes Plus für den Kapitalismus: denn der erforderliche Wiederaufbau verlieh seiner unsinnigen Logik, die die Produktion von allen materiellen Bedürfnissen abkoppelt und zum Selbstzweck erhebt, ein vorübergehend überzeugendes Aussehen. Den Menschen, die sich über einen Fernsehapparat, ein Auto oder ein 18-teiliges Teeservice (noch) freuen konnten, fiel es leicht, sich in der „westlichen Konsumgesellschaft“ einzurichten. Diese war so etwas wie die „Propaganda der Tat“, neben welcher der Populismus alten Stils, der in den „Volks-Demokratien“ Osteuropas noch für eine Weile gepflegt wurde, nur blass aussehen konnte, um schließlich, 1989, ganz seinen Geist aufzugeben.
Kurz gesagt, die Mobilisierung der Massen wirkte sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein durchaus günstig für den Kapitalismus aus. Über weite Strecken waren die Massen, die sich nach anfänglichem Sträuben mit der Lohnarbeit abgefunden hatten, geradezu innige Verbündete des Kapitals. Zumal die sozialistische Arbeiterbewegung sich um seine Modernisierung verdient machte. Indem sie gegen die „Bourgeoisie“ als bevorrechtete Gesellschaftsklasse kämpfte und den Rechtsstaat insbesondere um die soziale Dimension erweiterte, half sie mit, den Kapitalismus zu entpersonalisieren und in jenes Staat und Gesellschaft gleichermaßen umfassende System zu überführen, das sich bis in unsere Gegenwart hinein als quasi unhinterfragbare Objektivität präsentiert. Der Konsumismus, aber auch der vom „Zeitalter der Massen“ übrig gebliebene Leichengeruch hatten die politischen Leidenschaften zur Ruhe gebettet. Ein erfolgreich funktionierender Kapitalismus, der die Grausamkeiten, die er kostet, in die Peripherie des Systems verlegt hat: Voilà, das Geheimnis des sozialen Friedens unter dem Regime der „westlichen Werte“ ist gelüftet!
Das rohe, demokratisch gleichsam noch unbehauene Volk, das am Anfang unserer Epoche von den zuvor noch nie gehörten Parolen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ entflammt worden war und seinen Führern blind vertraut hatte, wurde im Laufe dieser Entwicklung gewissermaßen aufgezehrt bzw. demobilisiert. Es wurde zur rechtlich durchorganisierten Staatsbürger-Gesellschaft, in der es keinen Konflikt mehr zu geben schien, der nicht durch Verhandlungen zum Ausgleich zu bringen, kein Problem, das nicht in einem rechtlich geordneten Verfahren zu lösen wäre. Selbst noch die Empörung und der Protest wurden zu „berechtigten Anliegen“, die man problemlos von „ordentlichen Gerichten“ genehmigt bekommt: „Auch die Versammlungsfreiheit gehört zu den heiligen Werten unserer säkularen Demokratie. Solange es gewaltfrei und unvermummt geschieht, dürfen alle demonstrieren, für oder gegen was sie wollen“ (Norbert Frei, Süddeutsche Zeitung vom 4.2.2017).
Was von der einstigen Gefühlswelt noch übrig geblieben war, wurde herabgestimmt zur Stammtisch-Maulerei, und es blieb ihm die Spielwiese der Wahlen zu den demokratischen Körperschaften, die großen Sportveranstaltungen mit Wettbüro und Autogrammstunde der Champions immer ähnlicher wurden. Vor diesem Hintergrund des demokratischen Normalbetriebs, wie er Jahrzehnte lang funktioniert hatte, war die Nachricht, dass ein Teil der Bevölkerung in den vorhandenen Strukturen nicht mehr aufgeht, dass er sich nicht nur außen fühlt, sondern es auch tatsächlich ist, und dass er allen Ernstes das Mittun im demokratischen Pluralismus eingestellt hat, nicht eben willkommen ‒ und die Freunde des demokratischen Kapitalismus schalteten auf Abwehr.
Alles, was in der Gesellschaft des totalen Marktes passiert, wird ja von irgendjemandem, der sich einen Vorteil davon verspricht, gemacht oder inszeniert, und so waren auch hier die „interessierten Kreise“ schnell gefunden. Die Tatsache, dass sich einige Ideologen der neuen Unzufriedenheit annahmen und sich mit der aus vergangenen Zeiten stammenden Rede vom „betrogenen“ und „belogenen Volk“ zu ihrem Sprachrohr machten, war ein willkommener Anlass, die Sache selbst auf das ideologische Gleis zu schieben. Denn das „Volk“ ‒ siehe Rousseau ‒ kann ja nur als Abstraktion die Grundlage des Rechtsstaates abgeben, die Verfassung verwendet dieses Wort ausschließlich in der Bedeutung der Kant’schen „Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt“. Politiker, die von dieser Linie abweichen, die das Wort „Volk“ also empirisch deuten und auf die Situation real existierender Menschen beziehen, machen sich darum verdächtig. Was früher einmal ganz unbefangen „Volk“ genannt wurde: die am Staat nicht beteiligten Unterschichten, von den Franzosen classes populaires genannt, wird vor dem Hintergrund der totalen Verstaatsbürgerlichung der Menschen zur verfassungsfeindlichen Ideologie. Und die rechtlich denkenden Demokraten ergreift die Furcht vor der Rückkehr jener noch unvollkommen entwickelten Zustände der abstrakten Vergesellschaftung, in denen charismatische Politiker, an die Gefühle der Volksmassen appellierend, ihre Macht direkt auf die Bewegung eben dieser Massen stützten.

Der dritte Anlauf
Natürlich haben diejenigen Recht, die darauf hinweisen, dass die direkt auf die Aktion der Massen sich stützende Politik sehr oft das Aussehen einer Katastrophe hatte. Und zwar waren es immer die Massen selbst, die für ihren Einsatz am meisten zu büßen hatten und am meisten von Not, Tod und Elend betroffen waren. Solange die gesellschaftliche Entwicklung im Rahmen der bürgerlichen Prinzipien verblieb, solange es also darum ging, abstrakte Prinzipien zu „verwirklichen“, konnte es gar nicht anders sein. „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören.“ Dieser Satz von Hegel, gemünzt auf das schon erwähnte „Schreckensjahr“ der Französischen Revolution, bewahrheitete sich seither immer wieder. Die Ware-Geld-Beziehungen, die die bürgerlichen Prinzipien so plausibel machen, verdichteten sich, die abstrakte Vergesellschaftung kam voran, aber was die unmittelbar Beteiligten im Sinne gehabt hatten, war natürlich, siehe oben, etwas Konkretes, es war das eigene tägliche Leben. Die neuen Ideen und Parolen, die ausgehend von den Theoretikern und intellektuellen Meinungsführern (den Clercs, wie Julien Benda sie genannt hat) den Weg ins Volk fanden, erweckten bei ihren Adressaten jedes Mal die Hoffnung, dass sich mit ihrer „Verwirklichung“ das Leben ganz unmittelbar, hier und heute, jedenfalls in kürzester Frist verbessern werde.
Dementsprechend ließ die Enttäuschung, die auf die Euphorie der „großen Tage“ folgte, niemals lange auf sich warten. 1789 sah den Sturm auf die Bastille, 1792 den Sturz der Monarchie ‒ und 1794 (im Thermidor) war das Volk zu müde, um sich zur Verteidigung Robespierres noch aufraffen zu können. Die Selbstmordwelle, die zwischen 1795 und 1801 ihre Leichen in die Seine spülte, betraf vor allem die „einfachen Leute“. Für die „Tagelöhner, Fuhrleute, Kaminkehrer, Wasserträger, Garköche, Laufburschen und Dienstmädchen“ habe die Revolution „schon wenige Jahre danach so gut wie nicht stattgefunden“ gehabt, schreibt Richard Cobb (Tod in Paris. Die Leichen der Seine 1795‒1801; hier zitiert nach der Süddeutschen vom 12. Juli 2011). Von der schönen Erzählung, die die Philosophen und Intellektuellen für sie bereithielten: über den Fortschritt, über die Zukunft, über die historische Perspektive, haben diese Leute, oft noch Analphabeten, leider nichts mehr mitbekommen. Nicht anders war es in Russland: 1917/1918 Euphorie im Namen von Frieden, Brot und Land, 1921 dagegen, nach drei Jahren Bürgerkrieg und dem Kronstädter Aufstand, war das Land, wie Trotzki es bei seiner Reise zurück nach Petersburg empfand, gelähmt und depressiv und wie von einem Leichentuch überzogen. Ähnliches ließe sich von der „braunen Revolution“ in Deutschland sagen, die von ihrem Höhepunkt an gerechnet, den Olympischen Spielen 1936, neun Jahre brauchte, um im Katzenjammer zu enden.
Der Populismus, mit dem wir es heute zu tun haben, scheint mir dagegen, was die vorherrschende Stimmungslage betrifft, mit dem Katzenjammer gleich zu beginnen. Von Begeisterung für eine Idee oder für ein neu ins Auge gefasstes Ziel ist weit und breit nichts zu spüren, von einem Aufbruch zu neuen Ufern kann keine Rede sein. Energien von der Art, wie sie dem Nationalsozialismus aus der Jugend- und Wandervogelbewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts zugewachsen sind, sucht man vergeblich. Die Bewegung findet in einer alt gewordenen Gesellschaft statt, und auch der darin vorherrschende Phänotypus macht einen eher ältlichen Eindruck. Er mault und nörgelt und ist ein ‒ vorwiegend männlicher ‒ Miesepeter. Er ist eine Art Kontrastprogramm zu jener Hochglanzwelt der Werbebranche, in der die Worte Freiheit und Zukunft: abgestandene Phrasen aus dem Arsenal des bürgerlichen Fortschrittsglaubens, so etwas wie eine letzte Zuflucht gefunden haben. Statt jener gläubigen Hingabe, die Jules Michelet als charakteristisch für die aus der Revolution hervorgegangene Volksarmee bezeichnet: „Das war keine Armee, das war ganz eigentlich das Volk, das war Frankreich, das sich jung und kindlich auf dem Schlachtfeld einfand, in der Verwirrung der ersten Kriegsbegeisterung“, so der Autor über die Schlacht bei Jemappes im November 1792 (Michelet, a.a.O., S. 185), stehen das Misstrauen und der Unglaube an vorderster Front.
Nicht einmal der Nationalismus wird mit voller Überzeugung praktiziert. Das Fremde soll nicht unterworfen, kolonisiert oder ausgebeutet werden, es soll „draußen“ bleiben. Es ist kein Sendungsbewusstsein verbunden mit diesem Nationalismus; er ist, wie Jürgen Osterhammel schreibt, „kein Ausdruck neoimperialer Expansionsträume, sondern im Gegenteil ein postimperialer Abwehrnationalismus“ (Süddeutsche vom 8.12.2016). Der „Rassismus“, der sich darin äußert, hat keinerlei Appetit auf militärische Abenteuer, er verschmäht es, über andere Länder herzufallen, fragt sogar in diesem Sinne nach den Ursachen für die Flüchtlingskatastrophe und positioniert sich gegen die Interessen des „militärisch-industriellen Komplexes“ speziell der USA, der ‒ angeblich ‒ zielstrebig auf die gegenwärtige Weltlage hingearbeitet habe. Die allgegenwärtige Subjektform des freien Willens verlangt eben nach so einem identifizierbaren Jemand, der das, was dem „Volk“ zum Nachteil gereicht, jeweils „gewollt“ hat und der deshalb an den moralischen Pranger gestellt und bekämpft werden muss.
Sicher, das ist die gleiche Denkweise, die seinerzeit Tod und Verderben über die europäischen Juden gebracht hat und die auch überall sonst in der Welt ihre Sündenböcke zu finden weiß. Das ist aber keine Entschuldigung für die unter Demokraten verbreitete Denkfaulheit, die mit ihrem immer gleichen „Wehret den Anfängen“, die kapitalistische Krise, auf welche die Menschen reagieren, aus der Schusslinie bringt. Die heutige Krise, bislang noch in Schach gehalten durch die wundersame Geldvermehrung im Bankensystem, ist von anderer Beschaffenheit als diejenige, die (in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) den Übergang von der liberalen (oder „bourgeoisen“) zur massendemokratischen Etappe der kapitalistischen Vergesellschaftung markiert hat. Sie findet ‒ Stichwort: Globaliserung ‒ auf einem weitaus höheren Niveau der Vergesellschaftung statt, und sie hat viel höher entwickelte Produktivkräfte (und also auch Destruktivkräfte) zu ihrer Voraussetzung.
In seiner Aufstiegsphase konnte das politisch-ökonomische System, das dabei war zu entstehen, die von unten kommenden Energien noch absorbieren, immer mehr Menschen wurden kapitalistisch verwertbar. Der Massenarbeiter war auf dem seinerzeitigen Niveau der Produktivkraftentwicklung eine unentbehrliche Zutat der Produktion, ebenso wie es Massenheere waren, die seit Napoleons Zeiten die Kriege entschieden. Und das Bewusstsein, das die Massen von ihrer Wichtigkeit hatten, führte sie und ihre politischen Führer eben zu jener Forderung nach dem gleichen (Staatsbürger-)Recht, in dem sich der Standpunkt des Ware-Geld-Individuums geltend macht. Der „Aufstand der Massen“, der die Massendemokratie herbeiführte, hatte gleichsam die „ökonomische Vernunft“ des expandierenden Kapitalismus zu seiner Grundlage.
Diese ihre eigentliche Substanz ist der Demokratie inzwischen abhandengekommen. Die High-tech-Produktion unserer Tage hat sich vom Menschen als unmittelbarer Produktivkraft weitgehend verabschiedet, und die Dienstleistungsbranche, die uns mit Dönerbuden und Nagelstudios überschwemmt hat und mit einem Millionenheer von erschöpften Pädagogen und Pflegekräften, die „Sicherheitskräfte“ nicht zu vergessen, sah nur für einen historischen Augenblick so aus, als könne sie dieses Erlöschen der kapitalistischen Realakkumulation kompensieren. Der gute Wille, sich unter die kapitalistischen Effizienkriterien zu beugen, nützt den Menschen nichts. Immer mehr scheiden vorzeitig aus dem Erwerbsleben aus oder gelangen gar nicht erst hinein. Das System kann sie nicht brauchen, im Sinne des Systems haben sie keinen Wert. Die demokratische Religion der „Menschenwürde“ blamiert sich darin, dass ihr harter Kern, die Ware Arbeitskraft, weltweit zum Ladenhüter geworden ist, mit dem sich kein Blumentopf, geschweige ein würdevolles Leben gewinnen lässt.
Es ist also kein Wunder, dass sich immer mehr Menschen, und nicht nur die in den Zentren des globalen Westens lebenden, belogen und betrogen fühlen. Eine groß angelegte Absetzbewegung hat begonnen, die von den eingefahrenen Deutungsmustern des demokratischen Kapitalismus: der globale Westen ist gut, der freie Markt sichert „unseren Wohlstand“, nichts mehr wissen will. Da ich nicht sehe, wie diese Bewegung in einem noch höher entwickelten Stadium der abstrakten Vergesellschaftung münden und sich darin beruhigen sollte, neige ich dazu, diesem neuerlichen Anlauf zu einer massenhaften Systemkritik, dem „dritten“, wenn ich richtig zähle, auch eine historisch neue Qualität zuzusprechen. Das Bewusstsein, dass die bürgerlichen Ideale immer noch mehr zu „verwirklichen“ seien, ist auf dem Rückzug. Immer noch mehr Individualisierung und Vereinzelung der Menschen, immer noch mehr Ökonomisierung aller Lebensbereiche, immer noch mehr Gewinnwachstum bei den ca. 300 Weltkonzernen, die „unsere Wirtschaft“ ausmachen: Wer glaubt noch daran, dass sich die Krise auf diese Weise bewältigen lässt? Ungeachtet der veralteten Terminologie, in der sich die Menschen heute noch verständigen, wird diesem „dritten Anlauf“ nichts anderes übrig bleiben, als konkret und also sehend zu werden. Die Menschen werden sich von den abstrakten Vorgaben des Kapitalismus, Ware und Wert, lösen müssen. Sie werden es lernen müssen, ihre Lebensbedürfnisse direkt als solche geltend zu machen, ohne die kapitalistischen Verwertungszyklen, die unser Tun nur dann gutheißen, wenn es gewinnbringend ist, vorher um Erlaubnis zu fragen. Die Generallinie heißt nicht mehr hinein, sondern heraus aus der Abstraktion.
Und das heißt natürlich auch: Heraus aus dem freien und gleichen Warenbesitzer-Ich, das, weil es eine Abstraktion ist, weder frieren noch hungern noch das Leben genießen kann. Was von den „westlichen Werten“ dann noch übrig bleibt an zivilisatorischer Errungenschaft, sollte nicht mehr den Charakter eines einengenden Korsetts besitzen, das man auf dem Schlachtfeld der täglichen Konkurrenz wie einen Panzer zu tragen hat.