Moralin

„Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch.“
(Sophokles, Antigone)

Über das Selbstverständnis der sogenannten „politischen Klasse“ ließe sich eine Menge lernen, dächte man über ihren auffallenden Hang zum Moralisieren nach. Womit begann das eigentlich? Mit dem Rauchverbot für die Kneipen, auf dass alle Welt gesünder werde? – Gefühlt riss die gesamtgesellschaftliche Läuterung danach gar nicht mehr ab. Ethisch wertvoll! Mit dem Ziel, dass die große Gerechtigkeit endlich, endlich allüberall Einzug halte, jetzt, da man nach Jahrtausenden doch noch erkannt hatte, wie ungerecht alles wäre und urplötzlich darin klarsah, wie einfach solch bitterböses Ungemach mit demokratischen und juristischen Mitteln zum endgültig Guten gewendet werden könne. Mag ja sein, dass frühere Jahrhunderte, fürchterliche Unreifephasen der Menschheit, brutal und verbrecherisch waren, leidvoll in epischem Ausmaß; vielleicht mussten sie das gar sein, wenigstens ja aus den Läuterungsgründen der „List der Vernunft“, aber mit dem 21. Jahrhundert würde der Mensch nun in das Äon der Gerechtigkeit eintreten.
Wurde ja Zeit, so lange nach dem Aufbruch vom Primatenhügel in die Welt und Geschichte hinein. Verblüffend, erst so spät darauf zu kommen, dass das Elend und Unmoral, dass Ungerechtigkeit, Diskriminierung und böse Zurücksetzungen doch politisch-juristisch regelbar sind wie eine neue Abwasserverordnung. Man hätte es, scheint’s, schon viel früher viel besser hinbekommen können, wäre man nicht so borniert unterwegs gewesen. Aber besser jetzt als nie. Jedenfalls: Endlich soll fortan jedem schon in der Schule Gerechtigkeit widerfahren, indem er nämlich als früher „Exkludierter“, also ungerecht Ausgeschlossener, nunmehr „inkludiert“, also sicher und erfolgreich hindurchgebildet würde, einerlei, welches Talent er mitbringt, denn jeder würde ab jetzt wertvoll sein und keiner mehr zurückgelassen! Sondern dort abgeholt, wo er steht! Versprochen! Und das an einem Ort, der früher die schlimmsten Traumata auslöste, der Schule, einst ja eine „Anstalt“, heute aber ein Platz reiner Lebensfreude, daher möglichst in Ganztagsvariante anzubieten.
Außerdem gibt es jetzt die längst dringlich überfälligen Gender-Toiletten, damit jeder sein über Jahrhunderte vermisstes Örtchen hat. Endlich verschwinden aus den Bundeswehr-Kasernen die bösen Nazi-Devotionalien, die über Jahrzehnte geradezu die martialische Gründungssymbolik der Truppe dargestellt hatten. Wie gruselig das doch war! Und das Wahlrecht gibt es schon für die sozialkundlich korrekt unterrichteten Sechzehnjährigen, also bald vielleicht für Vierzehnjährige und dann bald für unsere Kleinsten, denen ja die Zukunft gehört. Und da ließe sich, ach, noch eine Menge mehr versprechen. Wie wäre es mit einer Abi-Garantie, zuzüglich des Verbotes, überhaupt an Prüfungen scheitern zu dürfen, so das – Wie diskriminierend doch! – irgendwo noch möglich sein sollte; und neben Sex auf Rezept vielleicht auch Scheck auf Rezept? Jedem seinen Gleichstellungsbeauftragten oder wenigstens unbürokratische Nachteilsausgleiche. Frag nicht mehr, was du für dein Land tun kannst, sondern fordere, dass dein Land endlich etwas für dich tut!
Mit dem allgegenwärtigen Moralisieren und einer jedem Statement unterlegten Tonspur Gerechtigkeitsrhetorik bilden sich eine auffallend veränderte Diktion und ein neuer sprachlicher Stil und Ausdruck heraus. Plötzlich klingt’s überall so leicht und glockenhell, so bis in die Nuancen hinein wohltemperiert durchkomponiert. Selbst der ehrwürdige Deutschlandfunk bietet mittlerweile Moderatorinnen auf, die reden, als hätten sie zuvor ein sehr erfolgreiches Praktikum beim Kinderkanal absolviert. Etwas Infantilismus tut schon gut, nicht nur in einfacher, sondern vor allem in herziger und therapeutisch zuwendungsvoller Sprache. Sogar das Grausame, was in der Welt leider, leider immer noch, aber zum Glück meist anderswo geschieht, all das Böse eben, von dem man hört, wird mit heiterer Note verkündet; und was die Menschenrechte diametral verletzt, weil noch nicht alle Menschen überall gleichermaßen gelernt haben, wie man die Probleme human regelt, das kann man, wenn’s schon noch übel ist, doch wenigstens ein bisschen nett präsentieren. Hier, im Land des Lächelns. Endlich Schluss mit diesem schneidigen Wochenschau-Ton, der die Sender viel zu lange maskulin beherrschte!
Während sich allerdings Volkes Stimme innerhalb sozialer Netzwerken in Hate-Speech Materialschlachten liefert und den jeweils ausgemachten Gegner gar nicht großkalibrig genug abknallen kann, scheint in allen offiziellen Medien politisch grundvereinbart, dass man ohne ein zertifiziert nachzuweisendes Antiaggressionstraining bitte nicht anzutreten habe, zumal die Verletzungsgefahr von Gruppen, Grüppchen und diversen Einzelpersonen ganz außerordentlich gewachsen sei. Bei aller Toleranz! So, wie Studenten längst nicht mehr alle Professoren zugemutet werden dürften, damit sie in bestimmten Vorlesungen zu bestimmten Themen nicht irreversibel traumatisiert oder mindestens schlimm irritiert werden – anthropologisch, historisch, sexuell sowieso.
Wenn die große Freundlichkeit und allumfassende Akzeptanz immer totalitärer herrschen, wenn jedem ganz selbstverständlich ein Anrecht auf alles eingeräumt wird, wo kann bei dieser gesamtgesellschaftlichen Gerechtigkeit und Güte neuster Ordnung noch kompensiert und mal Dampf abgelassen werden, wohin entschwanden Frust, Häme und Hass? Oder überhaupt die Leidenschaften. Die Amplituden bitte ganz flach halten, Schwachstrom statt Starkstrom, Niedrig- statt Hochfrequenz, nur keine schrillen Töne mehr, jetzt, da wir endlich darin geläutert wurden, wie sensibel alle sind.
Sitzen deshalb die Kids der Kuschelpädagogik-Schulen nach dem letzten Klingelzeichen vor ihren Ballerspielen? – Und: Mag das andauernde Moralisieren, vorzugsweise von links und grün, im Sinne eines Aktes freudianischer Verschiebung und Projektion dem Therapeuten gar ein Zeichen für die un- oder halbbewusst verdrängte Unmoral oder gar das historisch Verbrochene sein?
Mag gar sein, der Ausnahmezustand durchbefohlener Menschenfreundlichkeit deutet ganz reziprok etwas Gegenteiliges an. Vor allem, dass genau über das zu reden wäre, was voller Pietät, aber sehr angestrengt vermieden und beschwiegen wird. Dass Klartext angesagt wäre, um aus der Lethargie des liebevollen, diskrimierungsfreien, ultraverständigen Eiapopeia herauszufinden und erlöst wieder in produktive, polemisch geführte Streitgespräche einzutreten, um herauszufinden, was dringlich zu ändern wäre. Um sich hinsichtlich des Menschen und der Tragödie, in der er nun mal von Natur aus und wesenhaft steht, nicht den Blick zu verkleistern. Man revidiere dringlich die gefährliche Illusion, mal wieder einen „neuen Menschen“ erziehen zu können, der ohne Fehl und Tadel wäre. Bislang führten diese Versuche geradezu gesetzmäßig ins Gegenteil, mindestens in die vormundschaftliche Gesellschaft, der unsere Gouvernanten- und Konfliktvermeidungskultur bereits zu gleichen beginnt. Es ist durchaus zu beobachten, wie einerseits allen alles wohlgeraten soll, aber gleichzeitig Feindbilder generiert werden, die jene warnen, die sich der großen Gerechtigkeit gegenüber skeptisch zeigen. Glück für eine definierte Gemeinschaft bedeutete oft das Gegenteil für die Kritiker einer schönen neuen Welt.
Faustregel: Die Rechten wollen den Menschen als die große Gefahr seiner selbst einhegen, die Linken sehen ihn aller Möglichkeiten voll, von vornherein, und setzen auf Entgrenzung. Zur Macht gelangt, rollen beide Extreme Stacheldraht aus; die einen wussten vorher, dass sie ihn brauchen werden, die anderen sind geschockt drüber.
Nein, man sollte besser rechtzeitig auch den Dreck sichtbar werden lassen, aus dem alle gemacht sind. Das hat auch was Sympathisches, wenigstens aber ist’s notwendig. Nur so erkennen wir die Gefahren, die gerade dort lauern mögen, wo allzu viel Etikette vereinbart wurde. Wo die dunkle Seite des Menschlichen, wo das Dionysische geleugnet wird oder ausgetrieben werden soll, wo man nicht sehen will, welch mephistophelische Anteile wir haben, dort stehen wir im falschen Licht da, dort gewinnen gerade diese destruktiven Seiten an Kraft, weil sie unbearbeitet ein abgründiges Eigensein pflegen können. Zumal das Böse eben wirklich nie schläft, sondern sich für seine günstige Stunde rüstet. Und weil das Böse nicht erst seit Nietzsche als schöpferische Kraft gelten darf, die eine Ehrenrettung verdient hat. Luzifer, als der Lichtbringer.
Der Mensch ist nicht nur gut. Und das ist gut so. Menschenkenntnis verlangt Mut statt Wunschdenken.