Teil des Problems

Warum Linkspopulismus nicht Teil der Lösung sein kann

In Forum Wissenschaft 1/2017 widmeten wir uns ausführlich der Debatte um "Populismus". Dabei wurden auch Thesen vorgestellt, die sich für einen Populismus von links stark machten. Carsten von Wissel kritisiert diese Haltung und erläutert, warum weniger Verständnis für Populismus für die Demokratie gut wäre.

Nicht nur in der deutschen Politikwissenschaft gibt es derzeit eine Auseinandersetzung über die Frage, was von Populismus zu halten ist. Ein Debattenstrang, der in der Tradition eines liberalen Politik- und Demokratieverständnisses steht, sieht Populismus kritisch, er sieht im Populismus eine Bedrohung für die Demokratie.1 Ein zweiter radikaldemokratisch, postliberalistisch argumentierender Debattenstrang sieht im Populismus hingegen eine Bereicherung der Demokratie, weil Populismus im politischen Prozess marginalisierte Stimmen (wieder) hereinhole und auf (echte) Probleme der Gesellschaft und des politischen Systems verweise, er beruft sich auf agonistische Konzeptionen des Politischen.2

Überlagert wird diese Unterschiedlichkeit der Bewertung von einer gegenstandsbezogenen Unklarheit. Populismus ist je nach Perspektive eine (wenn auch schwache) Ideologie3, ein diskursiver Stil4 oder auch eine politische Strategie5, in diesem Fall gilt ein Großteil der Aufmerksamkeit Parteistrukturen und charismatischen Führungsfiguren.6 Außerdem ist Populismus manchmal eine politische Einstellung, dann wenden sich Analysen Fragen zu, "wie populistisch die Deutschen sind", Populismus gibt es dann in einer rechten oder linken Variante und auch als einen Populismus der Mitte. Solch ein Einstellungspopulismus wird empirisch durch das Abfragen von Zustimmungswerten auf Fragen wie "die Bürger sind sich oft einig, aber die Politiker verfolgen ganz andere Ziele" oder "wichtige Fragen sollten nicht in Parlamenten, sondern in Volksabstimmungen entschieden werden" etc. ermittelt.7 In der medialen und politischen Diskussion des Phänomens tauchen mitunter alle, mitunter manche dieser Perspektiven auf. Gerne wird auch Populismus mit zustimmungsheischenden, politisch unappetitlich befundenen oder nur für abwegig gehaltenen Meinungen gleichgesetzt, was zu einer inflationären, ganz oft auch taktisch motivierten Verwendung des Begriffs führt.

Zentraler, zumindest derzeit in der deutschsprachigen Debatte wichtigster, Text der politikwissenschaftlichen Populismuskritik ist Jan-Werner Müllers Ende 2014 erschienener Essay Was ist Populismus?. Dort unternimmt Müller den Versuch, Populismus theoretisch einzukreisen, den Begriff von all den Alltagsschlacken, die ihn belasten, zu bereinigen, die Praxis des Populismus zu beschreiben und zu skizzieren, wie ein demokratischer Umgang mit Populismus aussehen könnte. Müller kommt zu dem Ergebnis, dass in Populismus letztendlich ein demokratiegefährdendes, ja -inkompatibles politisches Phänomen zu sehen ist, weil Populismus auf einem Alleinvertretungsanspruch aufbaut und im Wesentlichen durch eben diesen ausgemacht wird. Kernsatz des Populismus sei danach in etwa "Nur wir sind das Volk". Will man einen linken Populismus befördern, muss es gelingen, diese These anzugreifen und ihre Geltung zu hinterfragen. Vor diesem Hintergrund frage ich in diesem Beitrag auch danach, ob dieses Vorhaben gelingt.

Moralischer  Antipopulismus?

Die Kritik antipopulistischer Positionen setzt bei dem Vorwurf an, Antipopulismus moralisiere seinen Gegenstand.8 Dem Populismus, zunächst einmal ganz überwiegend dem Rechtspopulismus, werde nicht inhaltlich, sondern ausschließlich mit moralischen Vorhaltungen begegnet, dabei reagiere Populismus doch auf Problemkonstellationen, die real seien. In etwa so lässt sich der zentrale Punkt, den die Speerspitze der deutschsprachigen politikwissenschaftlichen Antipopulismuskritik Dirk Jörke (zumeist zusammen mit Veith Selk) gegen den vielbeachteten Gegenstandszugang Jan-Werner Müllers und erst recht aller Anderen vorbringt, zusammenfassen. Jörke und Selk berufen sich dabei (zunächst ohne in ihrem Hauptaufsatz zum Thema Jan-Werner Müller überhaupt prominent zu nennen) auf Chantal Mouffe9 und dann ihre Argumente abstützend auf Niklas Luhmann, Christopher Lasch (einen amerikanischen Zeithistoriker) sowie Richard Rorty.10 Mit Mouffe sagen sie, Populismus sei die Antwort auf eine, besser die postdemokratische Konstellation. Postdemokratisierung gerät ihnen dabei zu einer politischen Praxis, Postdemokratie zu einer Zustandsbeschreibung dessen, was politisch der Fall ist. In dieser Postdemokratie sei die öffentliche Willensbildung auf die Mitte konzentriert, ein Kampf um Ordnungsprinzipien fehle, stattdessen obwalteten multiple Alternativlosigkeiten. Alle strebten zur Mitte, die Parteien verlören ihre Kanten. Aber jetzt (mit einem populistischen Moment?) breche dieser Konsens auf, weil es soziökonomische Krisenkonstellationen gebe, und diese würden bei den Menschen Entfremdungsgefühle auslösen, was wiederum zu einem Auseinanderdriften von (politischen) Eliten und normalen Menschen führe. Populismus gebe den vor diesem Hintergrund entstehenden Entfremdungsgefühlen eine politische Stimme. Moralisierung schließlich sei an eben dieser Stelle verfehlt, denn sie verhindere, dass man sich mit den Ursachen der Entfremdungsgefühle beschäftige und stattdessen diejenigen, die sie verträten, ausgrenze. Die Etablierten würden mithin die Zweiteilung, die Gut-und-Böse-Einteilung, die vom Populismus ausgehe, widerspiegeln und ihrerseits die Entfremdung Fühlenden abqualifizieren und damit (und hier kommt jetzt Luhmann ins Spiel) hinter die Errungenschaft moderner Demokratie zurückfallen. Moderne Demokratie, sagen Jörke und Selk mit Luhmann, basiere schließlich darauf, dass man politische Gegnerschaft nicht moralisiere und überkommene Freund-Feind-Logiken überwinde.11

Als dritten Autor nach Mouffe und Luhmann führen Jörke und Selk den US-amerikanischen Zeithistoriker Christopher Lasch an. Lasch hatte Mitte der 1990er Jahre gefragt, warum rechter Populismus in den vergangenen Jahrzehnten so viel Anklang bekommen hatte. Er stellte diese Frage vor dem Hintergrund eines US-amerikanischen Populismusdiskurses, der einen anderen, offeneren (freundlicheren) Populismusbegriff mitführt, der anders als hierzulande impliziert, stärker auf elitenferne Stimmen zu hören. Es sei z.B. bei weißen Arbeitern die alltägliche Abwertung der eigenen Werte, Lebensstile und Arbeitsweisen, die sie bei den Angehörigen postmaterieller Milieus wahrzunehmen meinen, die dazu führe, dass diese rechtspopulistisch würden. Ergänzend dazu wollen Jörke und Selk mit Rorty erklären, wie die akademische Linke sich verändert habe, die soziale Frage immer mehr zugunsten von Identitäts- und Minderheitenpolitiken vernachlässige. Diese kulturalistische Wende der Linken lasse ein politisches Vakuum entstehen, das sich Rechtspopulisten zunutze machen könnten.

Im Fazit wollen Jörke und Selk die Fäden noch einmal zusammenzuziehen: Mit Luhmanns "neokonservativer Moralkritik" und Mouffes "amoralischem Antagonismus" lasse sich die Fragwürdigkeit der Moralisierung als Mittel politischer Auseinandersetzung erkennen, auch wenn Luhmann den genuin politischen Charakter der Moderne "verkenne" und seine Systemtheorie Entdifferenzierungsprozesse, die eine Folge von Souveränitätseffekten der Finanzmärkte seien, vertusche. Zudem vernachlässige Luhmann den Unterschied von Moralisierung des Politischen und moralisch begründeter Kritik, die in einer Demokratie nicht nur legitim, sondern unvermeidbar sei.12 Und auch dem Mouffeschen Antagonismus vermögen Jörke und Selk nicht wirklich etwas abzugewinnen: Mouffe liefere zumindest keine Anhaltspunkte dafür, wie es besser gehen könne, sagen Jörke und Selk, weil sie "zwischen einer Angleichung an die liberale Demokratietheorie und leerem Formalismus schwanke"13. Ihr eigenes Rezept im Umgang mit Populismus läuft darauf hinaus, dem Populismus mit einem Mindestmaß an Freiheit und insbesondere Gleichheit beizukommen, dann stelle sich auch so etwas wie politische Moralität ein.14

Im z.T. auf dem eben diskutierten Leviathan-Artikel basierenden wesentlich kürzeren Forum-Wissenschaft-Artikel gehen Jörke und Selk direkter auf Jan-Werner Müller ein.15 Sehr viel deutlicher auch als im Leviathan-Artikel heben sie dort den populistischen Moment hervor. Während dieser im Leviathan-Text noch eher unbestimmt blieb, wohlmöglich jahrzehntelang währte und unklar bleibt, welche Entwicklung denn nun genau ursächlich für populistische Phänomene sein soll, ist nun der populistische Moment da, durch die Spaltung in Modernisierungsgewinner und Modernisierungsverlierer. Die fortschreitende Modernisierung und Individualisierung der Gesellschaft sei ursächlich dafür, wissen Jörke und Selk nun. Dennoch gelingt es auch hier Jörke und Selk nicht, den Moment einzufangen, ist er doch in Prozesse eingelassen, die schon seit gut dreißig Jahren ablaufen; was hier Moment, was Tendenz ist, wird nicht recht deutlich. Offen bleibt auch, ob der populistische Moment nun ein politisch-historisches Faktum oder ein politikwissenschaftlich-theoretisches Konstrukt sein soll. Mithin steht auf Basis der Argumentation von Jörke und Selk kaum eine Erklärung, warum gerade heute Populismus zu einem Problem gerät, zur Verfügung.

Populismusapologetik

Während Jörke und Selk mit ihrer Argumentationslinie als Antipopulismuskritik beschrieben werden können, muss man dem politischen Prozess nähere Positionen wie die im Forum-Wissenschaft-Heft von Christina Kaindl und Dieter Boris vertretenen als Populismusapologetik bezeichnen.16 Insbesondere Kaindl sieht im Populismus nicht nur eine Warnung in Bezug auf das Vorliegen sozialer Problemlagen, sondern eine politische Gelegenheit. Solchen Positionen geht es in erster Linie darum, Energien, wie sie vermittels des Populismus rechter Politikformulierung zur Verfügung stehen, für linke Politik zu erschließen. Die Wir-Die-Konstellationen sollen einfach auf andere, bessere, ja gute Spaltungslinien bezogen werden, so wie Podemos in Spanien oder die Occupy-Bewegung das gemacht hätten. Dabei sollen die "Erfahrungen der Unteren" - wie Kaindl das nennt - zur Geltung gebracht werden.17 Boris schließlich sieht im politikwissenschaftlichen und auch im medialen Antipopulismus eine Art bürgerlichen Verblendungszusammenhang, der negiere, dass Populismus in seiner lateinamerikanischen Erscheinungsform auch bisher Exkludierten politisches Gehör schenke.18 Beide Texte befassen sich nicht mit dem Alleinvertretungsanspruch populistischer Politiken, die Frage, inwiefern Populismus Bedrohung oder Bereicherung der Demokratie sei, ist aus Sicht beider AutorInnen (Kaindl und Boris) bereits in der Sache entschieden, ohne dass dies demokratietheoretisch begründet wäre.

Mehr Aufschluss zur Klärung der Frage, wie man es denn nun mit den Populismen halten sollte, und ob der Versuch der Aufhebung des antipopulistischen Demokratiegefährdungsvorwurfs gelingt, gibt ein Blick in die direkte Auseinandersetzung mit dem Essay von Jan-Werner Müller im einschlägigen Buchforum des politikwissenschaftlichen Theorieblogs. Kritik an Müller erstreckt sich hier zum einen darauf, dass er Antipluralismus weitestgehend formal definiere und sich vielleicht auch deshalb gar nicht so sehr für populistische Politikinhalte interessiere, die sich durch spezifische Muster der Realitätsverweigerung auszeichnen würden.19

Allerdings ist der Versuch, Populismus über Politikinhalte zu bestimmen, in der Vergangenheit nur zum Teil erfolgreich gewesen, gleichwohl sehe ich an dieser Stelle einen bei Politikinhalten ansetzenden Anknüpfungspunkt; der liegt allerdings nicht bei den Inhalten von Politik, sondern in der Eingrenzung des Alleinvertretungsanspruchs bzw. Antipluralismus. Möglicherweise gibt es insofern eine Blindstelle bei Müller, weil er sich nicht damit beschäftigt, dass jede/r Politikbetreibende den Anspruch erheben muss, Richtiges zu wollen, also einen exklusiven Geltungsanspruch zu vertreten. Wo nun liegt hier die Differenz zwischen populistischer und nichtpopulistischer Politik, mag man fragen, erst recht, wenn man wie Gebhardt im Buchforum noch die Bemerkung nachschiebt, dass ja auch VertreterInnen der Volksparteien immer wieder mit Emotionen spielen und fragwürdige Wir-Die-Konstellationen aufmachen würden.20 Eine Antwort auf diese Frage finde ich bei Müller selbst, nämlich da, wo es darum geht, was PolitikerInnen tun, wenn sie an die Schaltstellen der Macht gelangt sind. Unternehmen sie den Versuch, andere Stimmen, die für Anderes, als sie das tun, eintreten, zum Schweigen zu bringen oder zu delegitimieren, dann hat man es vermutlich mit Populisten zu tun.21

Auch Selke selbst greift im Buchforum in die Debatte ein und attestiert dem liberalen Diskurs und Müller einmal mehr blinde Flecken, eine Vernachlässigung einer gesellschaftstheoretischen Ebene und noch einmal einen gar zunehmenden hilflosen Moralismus.22

Auf die Moralisierungskritik geht Müller insofern ein, als er das schon andernorts von Jörke bemühte (bei ihm gegen Luhmann gerichtete) Argument, es gebe einen Unterschied zwischen ausschließlichem Moralisieren und einer zum Funktionieren der Demokratie notwendigen moralischen Basis gegen Jörke kehrt (s. Fußnote 12). Wenn Akteure, denen an der Demokratie nichts liege, auf dem politischen Feld aufträten, dann müsste man das, was sie tun und vorhaben, als das bezeichnen können, was es ist: Eine Gefahr für die Demokratie. Diese Unterscheidung zu treffen und danach zu handeln, bedeute schließlich nicht, in alte überkommene (Schmittsche?) Freund-Feind-Logiken zurückzufallen und die Menschen, die so etwas vertreten, auszugrenzen; es werde lediglich gesagt, dass ihre Positionen nicht zum demokratischen Diskurs gehören würden. Dies ist nach meiner Auffassung eine nachvollziehbare Position.

Unter Berufung auf den in Mexico City lehrenden Politikwissenschaftler Benjamin Arditi vergleicht er auf anschauliche Art Populisten mit eine Dinner Party crashenden Betrunkenen: Vieles, was sie sagen, sei anstößig, manches stimme auch, nur hätte es bislang keiner der anwesende Gäste gesagt. Aus solch diskursiven Spannbreiten resultiert auch das Schillern und Changieren des Populismus, je nach sozialem Ort, Thema und Politikfeld. Von einem Linkspopulismus, der für sich beansprucht, ernst genommen zu werden, wünscht er sich, dass erklärt werde, um welche Form des Populus es denn gehen solle, wer dazugehöre und wer nicht. Ginge es aber nur darum, den Arbeitern zu erklären, dass nicht Ausländer, sondern die klassischen neoliberalen Ausbeuter ihre Feinde sind, solle man das doch sagen.23

Antipluralismus als Kern

Nach wie vor als klarstes Erkennungsmerkmal erscheint mir der von Müller benannte Antipluralismus, der anders als Jacob und Gebhard meinen, nicht notwendigerweise politisch inhaltlich abgestützt werden muss. Mit anderen Worten, Antipluralismus formal über seine Antipluralität als antidemokratisch zu bewerten reicht vollkommen aus und ist völlig unabhängig von Politikinhalten, politischen Projekten oder einem wie auch immer fehlgeleiteten Realitätsbezug von Politik möglich. Der Antipluralismus bleibt damit aber auch das Kriterium, das es als nicht wünschbar erscheinen lässt, dass Populisten Mehrheiten gewinnen. Die Vorschläge, liberale Politikkonzeptionen hinter sich zu lassen, können sachlich und mit Blick auf die Folgen, die das haben könnte, nicht überzeugen; in einem illiberalen Staat leben zu wollen, scheint mir keine nachvollziehbare politische Vorstellung zu sein. Ebensowenig vermögen die Argumente, die Linke habe sich kulturalistisch fehlentwickelt und insofern eine Allianz mit dem Neoliberalismus hervorgebracht, zu überzeugen. Bei diesem Argument muss es schon stark wundern, warum ausgerechnet Antidiskriminierung in den Mittelpunkt einer linken Kritik gestellt werden soll.24 Die Vorstellung einer antidiskriminierungskritischen Linken, die Vorstellung sozialer Gerechtigkeit mit Ablehnung individueller Persönlichkeitsentfaltung kombiniert, scheint mir gleichermaßen absurd.

Jörkes und Selks Kritik der Moralisierung hebt sich - wie ich finde - zunächst einmal selbst auf, weil, wie die beiden Autoren selbst gesagt haben, ein moralischer Bezugspunkt von Politik nicht so einfach verzichtbar ist, andernfalls würde ihnen genau der gleiche Fehler unterlaufen, den sie weiter oben Luhmann attestiert haben. Die, wie Jörke und Selk meinen, "berechtigten Anliegen" des Populismus fallen damit in sich zusammen, wenn sie auf der Suche nach einem Heilmittel nach Lösungen streben, die auf Ausgrenzung hinauslaufen. Völlig unerheblich ist dabei, ob sie auf Aspekte zurückgehen, die mit einem theoretischen Zugriff wie Postdemokratie erklärt werden können oder nicht, schließlich ist Postdemokratie anders als Jörke, Selk und nennenswerte andere TeilnehmerInnen einer linken Debatte glauben, nicht mehr und nicht weniger als eine politikwissenschaftliche Theorie, deren empirische Evidenz man mit gutem Recht auf eine ganz praktische Art bezweifeln kann.25

Zu all dem kommt hinzu, dass es bis heute keinem der AntipopulismuskritikerInnen gelungen ist, den populistischen Moment so zu fassen, dass er zu mehr als einer unkonkreten Tendenz gerät, in der es irgendwie darum geht, dass Errungenschaften eines sozialpolitisch gezähmteren Nachkriegskapitalismus in den westlichen Gesellschaften unter die Räder gekommen sind. Das alles ist zu wenig, um eine Aufhebung eines liberalen Politik- und Staatsverständnisses zielführend erscheinen zu lassen.

Anmerkungen

1) Vgl. Jan-Werner Müller 2014: Was ist Populismus; Berlin; Karin Priester 2012: "Wesensmerkmale des Populismus", in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2/2012.

2) Vgl. Chantal Mouffe 2005: "The ›end of politics‹ and the challenge of right-wing populism", in: Francisco Panizza (Hg.): Populism and the mirror of democracy, London, New York; Chantal Mouffe 2014: Agonistik. Die Welt politisch denken, Frankfurt a. M.;  Dirk Jörke / Veith Selk 2015: "Der hilflose Antipopulismus", in: Leviathan 43/4: 484-500; Dirk Jörke / Veith Selk 2017: "Populismus verstehen", in: Forum Wissenschaft 01/2017: 4-7; Christina Kaindl 2017: "In der Mitte des Handgemenges. Warum die Linke Kämpfe auch führen muss", in: Forum Wissenschaft 01/2017: 8-11; Dieter Boris 2017: "Aspekte von ›Linkspopulismus‹", in: Forum Wissenschaft 1/2017: 12-16.

3) Vgl. Cas Mudde 2004: "›The Populist Zeitgeist‹",in: Government and Opposition, 39/4: 542-563.

4) Vgl. Michael Kazin 1995: The Populist Persuasion: An American History, Ithaca: Cornell University Press; Ernesto Laclau 2005: On Populist Reason, London; Francisco Panizza 2005: Populism and the Mirror of Democracy, London.

5) Vgl. Kenneth M. Roberts 2006: "Populism, Political Conflict and Grass Roots Organization in Latin America", in: Comparative Politics, Vol. 38/2: 127-148; Kurt Wayland 2001: "Claryfying a contested concept: Populism in the Study of Latin American Politics", in: Comparative Politics, Vol. 34/1: 1-22; Robert S. Jansen 2011: "Populist mobilization: A theoretical approach to populism", in: Sociological Theory 29/3: 75-96.

6) Ein komprimierter Überblick über die bis hier genannten drei Analysezugänge Ideologie, diskursiver Stil und politische Strategie steht in einem Arbeitspapier von Noam Gidrom / Bart Bonikowski 2013: Varieties of Populism: Literature Review and Research Agenda, Harvard University Weatherland Center For International Affairs, Working Paper No. 13-0004, Boston: Harvard University.

7) Robert Vehrkamp / Christopher Wratil 2017: Die Stunde der Populisten? Populistische Einstellungen bei Wählern und Nichtwählern vor der Bundestagswahl 2017, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung: 15.

8) Vgl. Dirk Jörke & Veit Selk 2015; 2017(siehe Fn. 2).

9) Vgl. Chantal Mouffe 2005 (siehe Fn. 2).

10) Vgl. Niklas Luhmann 1986: "Die Zukunft der Demokratie", in Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Band 4; Opladen: 131-138; Christopher Lasch 1995: The revolt of the elites and the betrayal of democracy. New York u.a.; Richard Rorty 1999: Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus; Frankfurt a. M.

11) Dirk Jörke & Veit Selk 2015 (siehe Fn. 2): 491.

12) Ebd: 495. Kurioserweise rufen Jörke und Selk hier einen Aspekt auf, der das Zentrum dessen berührt, was die Kritik seiner Antipopulismuskritik ausmacht. Dazu kommt weiter unten mehr.

13) Ebd.

14) Ebd.

15) Dirk Jörke & Veit Selk 2017 (siehe Fn. 2): 4.

16) Vgl. Christina Kaindl 2017; Dieter Boris 2017 (siehe Fn. 2).

17) Christina Kaindl 2017 (siehe Fn. 2): 11.

18) Dieter Boris 2017 (siehe Fn. 2): 16.

19) Daniel Jacob 2016: Wie populistische Opposition den demokratischen Pluralismus gefährdet; Buchforum zu Jan-Werner Müllers "Was ist Populismus?"; Theorieblog: Buchforum Jan-Werner Müller; url: https://www.theorieblog.de/index.php/2016/05/buchforum-jan-werner-mueller-wie-populistische-opposition-den-demokratischen-pluralismus-gefaehrdet/: 4; Zugriff am 26.06.2017.

20) Richard Gebhardt 2016: "…but I know it when I see it!" Ein Kommentar zu Jan-Werner Müller "Was ist Populismus"; Theorieblog: Buchforum Jan-Werner Müller; url: https://www.theorieblog.de/in-dex.php/2016/06/mueller-buchforum-2-but-i-know-it-when-i-see-it/: 2; Zugriff am 22.07.2017.

21) Diese Definition schließt Orbans Fidesz und die polnische PIS ein. Möglicherweise wären auch Praxen wie Gerrymandering und die Voter-Supression, derer sich republikanische Bundesstaatsregierungen in den USA bedienen, um potentiell demokratische Wählerinnen um die Wirksamkeit ihrer Stimmabgabe oder gar die Stimmabgabe selbst zu bringen, als Hinweis für eine populistische Gesinnung zu betrachten. Bei regierenden Populisten käme es demnach auf die Institutionalisierung von Antipluralismus an.

22) Vgl. Dirk Jörke 2016: Moralismus ist zu wenig. Eine Entgegnung auf "Was ist Populismus?" von Jan-Werner Müller; Theorieblog Buchforum Jan Werner Müller; url: https://www.theorieblog.de/index.php/2016/06/moralismus-ist-zu-wenig-eine-entgegnung-auf-was-ist-populismus-von-jan-werner-mueller/; Zugriff am 26.06. 2017.

23) Vgl. Jan-Werner Müller 2016: Und was ist nun Populismus? Die Replik von Jan-Werner-Müller; Theorieblog: Buchforum Jan-Werner Müller; url: https://www.theorieblog.de/index.php/2016/06/und-was-ist-nun-populismus …; Zugriff am 26.06.2017.

24) Vgl. Micha Brumlik 2017: "Eine Kritik der Selbstkritik"; in: Böll Thema, 2/2017: 34-35.

25) Vgl. Jan-Philipp Albrecht 2017: "Die Demokratie im Handgemenge", in: FAZ vom 05.07.2017, S.12; url: http://www.faz.net /aktuell/feuilleton/debatten/jan-philipp-albrecht-ueber-demokratie-in-der-eu-15080046.html, Zugriff am 03.08.2016.

Carsten v. Wissel (Dr. phil.) ist Politikwissenschaftler und Soziologe, er lebt in Berlin und Bremen. Er publiziert an der Schnittstelle von Politikwissenschaft und Science Studies. Der Text ist die stark überarbeitete Fassung eines im Juni dieses Jahres in seinem Blog sciencepolicyaffairs.de erschienen Beitrages.