Geiselnahme und andere Geschäfte

Hefteditorial iz3w 363 (Nov./Dez. 2017)

250 Tage sitzt der Journalist Deniz Yücel nun im türkischen Gefängnis Silivri ein, ohne dass Anklage gegen ihn erhoben wäre. Er wird unter Isolationsbedingungen festgehalten, die als »weiße Folter« bezeichnet werden. Seine Inhaftierung durch das Erdogan-Regime als »Geiselnahme« zu bezeichnen, ist keine polemische Überspitzung, sondern die präzise Bezeichnung für das, was in der Türkei hundertfach vor sich geht. Ende August verabschiedete Präsident Erdogan ein Notstandsdekret, mit dem er einen Gefangenenaustausch mit anderen Staaten anordnen kann. Denn er möchte nicht nur aller (vermeintlichen) Gülen-AnhängerInnen in der Disapora habhaft werden, sondern aller, die je ein kritisches Wort über ihn und die Zustände in der Türkei gesagt haben.

Opfer dieser systematischen Geiselnahmepolitik ist nicht allein Yücel. Auch hunderte andere JournalistInnen, MenschenrechtlerInnen und SympathisantInnen der kurdischen Sache werden für Erdogans Selbstherrlichkeit missbraucht.

Gegen eine solche, jeglichem internationalen Recht widersprechende Politik der Geiselnahme gibt es nur eine angemessene Reaktion: Die klare Botschaft, dass man sich nicht erpressen lässt, und massiver Widerstand auf allen Ebenen. Doch davon sind sowohl die deutsche als auch die europäische Politik weit entfernt. Sie lässt Erdogan gewähren. Bis dato ist nichts erfolgt, was als Sanktion oder harte politische Maßnahme gewertet werden könnte. Es bleibt bei warmen Worten für Yücel, Tolu, Steudtner und andere Geiseln.

Für diese Zurückhaltung gibt es Gründe: Zum einen ist da der EU-Türkei-Flüchtlingsdeal. Mit ihm hat sich die europäische Politik nicht nur von Erdogan abhängig gemacht, sondern sie knickt auch ein vor den RassistInnen, die an die Regierungen drängen oder dort schon sind. Zum anderen ist die Türkei ein wichtiger Wirtschaftpartner europäischer Länder. Import, Export und Investitionen sind von der verheerenden politischen Situation unbeeindruckt. Die Geschäfte boomen und man will sie sich nicht verderben lassen. Investierten europäische Unternehmen im ersten Halbjahr 2016 noch 1,69 Milliarden US-Dollar in der Türkei, so waren es 2017 im gleichen Zeitraum 2,71 Milliarden.

Auch deutsche Konzerne weigern sich, nur den geringsten Druck gegenüber der Türkei aufzubauen. Jüngstes Beispiel: Die 30 DAX-Konzerne, von denen die meisten in der Türkei aktiv sind, wurden im September gebeten, sich an einer Anzeigenkampagne in türkischen Medien zu beteiligen. In ihr sollten »freiheitliche Werte« wie Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit als Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg angemahnt werden. Doch selbst diese zurückhaltenden Worte fanden keine Mehrheit bei den Konzernen. Die Aktion musste kleinlaut abgeblasen werden. Bemerkenswertes Detail: Die Kampagne wurde nicht von einer Menschenrechtsorganisation angestrengt, die von Konzernen ohnehin nur belächelt wird, sondern von ihresgleichen: Vom Springer-Medienkonzern (bei dem Yücel als Korrespondent der WELT angestellt ist).

Nicht einmal ein vorläufiger Stopp von Waffenexporten in die Türkei wird von der deutschen Politik gewollt: »Wir haben ein Interesse an leistungsfähigen türkischen Streitkräften«, sagt CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt dazu. Die Solidarität innerhalb der NATO gebiete es, »Wünsche der Türkei nach Rüstungslieferungen grundsätzlich wohlwollend zu prüfen«. Zwischen Januar und August wurden laut Bundesregierung Rüstungsexporte in Höhe von 25 Millionen Euro genehmigt. Im Frühjahr wurden Pläne der Rüstungsschmiede Rheinmetall bekannt, an der Errichtung einer Panzerfabrik in der Türkei mitzuwirken. Nach kritischen Medienberichten dementierte der Konzern jede Beteiligung, doch das Recherchekollektiv Correctiv konnte nachweisen, dass dies nicht der Wahrheit entspricht. Von der Bundesregierung war dazu kein Kommentar zu hören. Zu den führenden Lobbyisten von Rheinmetall zählen übrigens Ex-Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) und Ex-Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU).

In anderen europäischen Ländern sieht es nicht besser aus. Spanien vollstreckte sogar das auf hanebüchenen Vorwürfen beruhende Gesuch des türkischen Staates, den Schriftsteller Dogan Akhanlı zu verhaften. Von Seiten der EU sind ebenfalls keine ernsthaften Anstrengungen erkennbar, auf die Türkei Druck auszuüben. Zwar wird über die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei diskutiert. Aber abgesehen davon, dass die dafür erforderliche Mehrheit nicht zustande kommen würde und abgesehen davon, dass ein EU-Beitritt von der demokratischen Opposition in der Türkei als Hoffnungsschimmer gesehen wird, wäre ein offizieller Verhandlungsabbruch eine stumpfe Waffe. Denn die Verhandlungen liegen ohnehin auf Eis und gerade das Erdogan-Regime zeigt sich wenig interessiert, sie wieder aufzunehmen. Das aus Bayern und Österreich ertönende Getöse gegen den EU-Beitritt ist nichts als heiße Luft.

Für die Politik gilt: An ihren Taten sollt ihr sie messen, nicht an ihren Worten. Somit bleibt nur der Schluss: Die Bundesregierung kollaboriert mit einem Despoten, lässt sich von ihm erpressen und macht sich so mitschuldig, wenn tausende Inhaftierte in türkischen Knästen vor die Hunde gehen. Es sieht nicht so aus, als habe die Bundestagswahl daran etwas verändert. Was bleibt, ist anhaltender zivilgesellschaftlicher Druck. Zur Teilnahme an Aktionen für die Freilassung der Inhaftierten ermuntert daher

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