Machtkampf, Lügen und Antisemitismusvorwürfe in der britischen Labour-Partei

in (09.01.2018)

Die gegenwärtige Führung der Labour-Partei, die Corbyn-Revolution, ist in meinem Leben die bedeutendste Herausforderung der hergebrachten politischen Ordnung Großbritanniens. Die politisch-konservative Rechte sowohl inner- wie außerhalb von Labour wurde von den Ergebnissen der jüngsten Parlamentswahl überrascht. Gegen alle Erwartungen, voreingenommene Medien und die wiederholte Infragestellung der Parteiführung scheint die Opposition gegen Corbyn weitgehend verschwunden.

Während offener Widerspruch gegen Corbyn durch den Wahlerfolg momentan also verstummt ist, wäre es allerdings naiv und ein politischer Fehler anzunehmen, dass der Kampf gegen die britische Rechte gewonnen ist und insbesondere die Anschuldigungen des Antisemitismus, mit denen man Corbyn und seine Unterstützer zu beschmutzen versuchte, sich erledigt hätten.

Wenige Tage nach der Wahl griff die Rechte einschließlich einer gewissen Zahl von glühenden Israel-Unterstützern innerhalb der Parlamentsfraktion von Labour die Antisemitismus-Vorwürfe gegen die Partei wieder auf; gegen diejenige politische Partei also, die die antirassistische Gesetzgebung im Vereinigten Königreich vorangetrieben hat und historisch immer die politische Heimat von Minderheiten war.

Machen wir uns hinsichtlich der Wirkmächtigkeit der antisemitischen Hexenjagd nichts vor. Antisemitismus-Vorwürfe wurden stets erhoben, um nicht nur Corbyn, sondern eine ganze Bewegung einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen, unter Druck zu setzen und zu verleumden. Etliche Mitglieder wurden ausgeschlossen. Viele trauen sich nicht mehr, irgendetwas zu thematisieren, was mit Israel zu tun hat.

Natürlich sind die Labour-Partei und die Arbeiterbewegung nicht immun gegen den Rassismus, der Großbritannien und andere europäische Gesellschaften durchzieht. Den Fokus allerdings auf Labour, seinen Vorsitzenden und dessen Anhänger zu richten, als wären sie ganz besonders anfällig für Rassismus und speziell für Antisemitismus, ist übergriffig und folgt einer politischen, nicht an Gleichbehandlung orientierten Agenda.

Der Versuch, Corbyn und seine Anhänger zu diffamieren, begann von dem Moment an, als Corbyn Kandidat für den Parteivorsitz wurde. Labour war immer die erste Partei, die die Interessen von Minderheiten verteidigt und befördert hat. Und als führende Partei der Linken steht Labour seit Langem im Brennpunkt von Angriffen überwältigend voreingenommener Medien. Aber das, was wir mit ansehen mussten, als Corbyn Kandidat für den Parteivorsitz wurde, war präzedenzlos. Zeitungen, die kurz zuvor üble – ich würde sagen, glatt antisemitische – Artikel über Ed Miliband, einen Juden und ehemaligen Vorsitzenden der Labour-Partei, veröffentlicht hatten, verwandelten sich plötzlich in Vorkämpfer gegen den Antisemitismus, indem sie Corbyn und seine Anhänger als Terroristen und Judenhasser beschimpften.

Die Medien schlachteten jede Story aus, indem sie Archivmaterial ausgruben, jede Äußerung verdrehten, ungeniert falsch zitierten, um Corbyn als Antisemiten oder zumindest als nachsichtig gegenüber Antisemitismus zu charakterisieren. Und das vielleicht Erschreckendste war, dass der rechte Flügel von Corbyns eigener Partei tat, was er konnte, um sich mit diesen Angriffen gemeinzumachen. Diese konzertierte Kampagne instrumentalisierte nicht nur den Antisemitismus, sondern versuchte, die Labour-Partei zu schwächen, indem zeitweilig die gesamte Arbeiterbewegung, propalästinensische und Friedensgruppen, Einzelpersonen, deren Familien und Freunde attackiert wurden.

Ein persönlicher Kontext

Ich bin eine schwarze, antirassistische Aktivistin jüdischer Herkunft. Mein Partner ist Jude, und ich bin Mitglied mehrerer radikaler jüdischer Organisationen. Das hat mich nicht davor bewahrt, dass meine Parteimitgliedschaft zweimal in einem Jahr wegen Antisemitismus suspendiert wurde. Meine Geschichte steht beispielhaft für die Art und Weise, wie mit Antisemitismus-Vorwürfen umgegangen wird.

Mein ganzes Leben lang war ich politisch engagiert; angeregt durch meine eigene, sehr persönliche Reise von der Migrantin zur Lehrerin, Lektorin, Autorin und politischer Aktivistin.

Als junge Frau arbeitete ich in der Anti-Apartheid-Bewegung, um das System in Südafrika zu bekämpfen. Es war also eine logische Entwicklung hin zur Unterstützerin palästinensischer Rechte, zur Kritikerin der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern und zur Unterstützerin der Bewegung für einen Boykott israelischer Produkte, BDS (Boycott, Divestment, and Sanctions), eine gewaltfreie, von Palästinensern geführte Bewegung. Ich wurde auch Mitglied der „Palestine Solidarity Campaign“ [Palästinensische Solidaritätskampagne], von „Jews for Justice for Palestinians“ [Juden für Gerechtigkeit für Palästinenser] sowie von „Free Speech on Israel“ [Meinungsfreiheit in Bezug auf Israel], einer vorwiegend jüdischen Gruppe.

Im Jahr 2015 wurde ich stellvertretende Vorsitzende von „Momentum“, der Gruppe, die Jeremy Corbyn [den späteren Labour-Vorsitzenden, d. Red.] zur Macht verhelfen wollte. In dem Moment wurde ich, ohne es zu ahnen, zur Zielscheibe.

Im Februar 2016 begann eine Gruppe namens „Israel Advocacy Movement“ (etwa: Bewegung zur Unterstützung Israels) mit Sitz in den USA und Großbritannien, in meinem privaten Facebook-Account „herumzufischen“. Als Teil ihrer „Verteidigung“ Israels (ich bin mir nicht im Klaren darüber, wann ich zur Bedrohung Israels wurde, aber ich vermute, es war zu der Zeit, als Corbyn Parteivorsitzender wurde) benutzten sie die so gewonnenen und aus dem Zusammenhang gerissenen Informationen, um – so glaube ich – der Parteiführung über mich zu „berichten“.

Gleichzeitig und bevor ich von der Labour-Partei informiert worden war, berichtete der „Jewish Chronicle“ in einem Artikel, der wohl Datenschutzgesetze brach, dass meine Mitgliedschaft suspendiert wurde, weil ich eine Antisemitin sei. 1

Ich war schockiert. Es wurde gegen mich ermittelt. Meine Facebook-Einträge, meine öffentlichen Äußerungen wurden detailliert untersucht. Ich nahm an einer Anhörung teil, aber die Schiedsstelle der Partei fand nichts, was anstößig gewesen wäre.

Urteile dieser Art scheinen manch einem gleichgültig zu sein. Die Belästigung meiner Person ging jedenfalls weiter. Der rechte Flügel von Labour, der Jewish Chronicle, der Jewish Board of Deputies [AdÜ: zentraler Delegiertenausschuss jüdischer Organisationen] waren aufgebracht wegen des Urteils. Die Mainstream-Medien stimmten ein. Niemand aber führte ein Interview mit mir oder bat um eine Stellungnahme, während noch einmal verleumderische Berichte über mich in nationalen wie internationalen Medien erschienen.

Personen und Gruppen, die mich reden hören wollten, wurden die E-Mail- und Facebook-Accounts gehackt. Gruppen mussten die Kommentarfunktion ihrer Facebook-Accounts sperren wegen des Niveaus der rassistischen Ausfälle gegen mich. Personen wurden diffamiert, weil sie sich mit mir fotografieren ließen und es wagten, mich zu unterstützen.

Die Beschimpfungen, die ich erfuhr, waren heftig. Veranstaltungsorte, an denen ich reden sollte, wurden unter Druck gesetzt. Man bedeutete ihnen, dass es zu Gewalt kommen würde, falls die Veranstaltung stattfinden sollte. Natürlich hat dies Auswirkungen auf die Redefreiheit, die politische Freiheit und auf den Kampf für die palästinensische Sache; aber was für mich genauso wichtig ist, das ist der Schaden, den – so glaube ich – die falschen Rassismus-Anschuldigungen dem Kampf gegen den Rassismus zugefügt haben.

Nun gibt es natürlich Antisemitismus in der Labour-Partei. Aber die Intensität, mit der da berichtet wird, steht meiner Ansicht nach in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Geschehnissen.

Während oberflächlich Übereinstimmung darüber herrscht, dass es in Bezug auf Rassismus keinerlei Hierarchie gibt, scheint es sehr wohl eine gut kontrollierte Hierarchie hinsichtlich der Art von Rassismus zu geben, um die die britischen Medien und das britische Establishment so besorgt sind. Und es ist gewiss kein Rassist, wer sich die Hände schmutzig macht im Kampf für die Unterdrückten.

Es wird jetzt geltend gemacht, auch von einigen auf Seiten der Linken, dass wir den Begriff „Zionismus“ nicht mehr verwenden sollten. Ich stimme zu, dass Zionismus nicht missbraucht werden, als Tarnung dienen sollte, um Juden anzugreifen. Zionismus ist jedoch ein wichtiges Wort, Bestandteil des politischen Wörterbuchs und unabdingbar, um das Konzept eines jüdischen Staates zu hinterfragen.

Und ich beharre darauf, dass Opposition gegen einen jüdischen Staat eine legitime, respektable politische Position ist und bleibt, zu der viele, darunter zahlreiche Juden, seit Jahrzehnten stehen.

Der Chakrabarti-Report

Als Reaktion auf die Antisemitismus-Vorwürfe, gab die Labour-Partei eine Untersuchung des Antisemitismus und anderer Formen des Rassismus in Auftrag - den Chakrabarti-Report 2016. 2

Shami Chakrabarti [AdÜ: Kanzlerin der Universität von Essex] gibt etliche Anekdoten und verletzte Gefühle in Bezug auf Antisemitismus wieder, aber wenn sie ihre Kommentare zu Mitgliedern schwarzafrikanischer oder anderer ethnischer Herkunft [BAME: Black and Minority Ethnic] beginnt, dann weiß sie dies zu untermauern. 2010 wählten im Verhältnis zu Weißen mehr als doppelt so viele der Schwarzen und anderer Minderheiten die Labour-Partei. Shami Chakrabarti beschreibt nicht nur eine abweisende Umwelt für Minderheiten, sondern verweist auf Daten, die einen Mangel an Repräsentation auf allen Ebenen belegen, einschließlich des Parlaments, aber – noch wichtiger – auch in den administrativen Strukturen der Partei. Chakrabarti hebt dann als besonders besorgniserregend das Fehlen von schwarzen Mitgliedern im NEC (National Executive Committee), dem Parteipräsidium von Labour, hervor.

Sie räumt ein, dass es eine Frage der Macht bzw. ihres Mangels ist, die Vertreter von Minderheiten ausschließt und diskriminiert, so wie natürlich allgemein in der Gesellschaft. Schwarze fühlen sich nicht nur missachtet, sie sind entschieden unterrepräsentiert. Was für eine Ironie, dass es ausgerechnet die Stimmen von Einwanderern waren, insbesondere jener afrikanischer Herkunft, die von Anfang an bei der Veröffentlichung der Untersuchung und der Berichterstattung über sie an den Rand gedrängt wurden.

Angesichts der Bedingungen, auf die sich Chakrabarti für ihre Untersuchung einließ – Bedingungen, die ich abgelehnt habe –, ist schwer zu erkennen, wie „andere” Minderheiten durch diesen Report hätten angemessen berücksichtigt werden können. Wenn Antisemitismus von „anderen Formen des Rassismus” unterschieden wird, ist es dann überraschend, dass es dem Chakrabarti-Report nicht gelang, eine bedeutende Akzeptanz unter Minderheitengruppen zu erfahren? Oder dass Schwarze bei der Vorstellung des Reports allein durch ihre Abwesenheit auffielen?

Ironischerweise unterstrich die Rezeption der Untersuchung durch die Medien und Labour, sowie darüber hinaus, schlicht die Machtlosigkeit der Minderheitengruppen und bestätigte insofern die Aussonderung, die zu überwinden der Bericht ja versucht. Die Mainstream-Medien fokussierten auf den Antisemitismus, und die Berichterstattung über den Report war generell oberflächlich, ungenau, unzulänglich informiert und mit einer Absicht vorgenommen: die Labour-Partei und ihre gegenwärtige Führung anzugreifen und zu schwächen.

Chakrabartis durchgängig überzeugend ausgeführte Kontextualisierung der Rassenbeziehungen in der Labour-Partei und ihre gut durchdachten und vernünftigen Empfehlungen wurden umgehend und effektiv beiseitegeschoben. Als Mark Wadsworth, ein schwarzes Parteimitglied (jetzt gleichfalls suspendiert) die Abwesenheit von People of Colour bei der Vorstellung des Reports beanstandete und ein Mitglied des Parlaments anging, stand wieder einmal der Antisemitismus-Vorwurf im Vordergrund, und Wadsworth wurde wegen seines Verhaltens ausgeschlossen. 3 Antisemitismus-Vorwürfe wurden selbst gegen die Verfasserin des Reports, Shami Chakrabarti, erhoben, wodurch die entscheidenden Ergebnisse der Untersuchung hinsichtlich der Minderheiten weiter unterminiert wurden.

Die Medien waren wie immer an der Wahrheit nicht interessiert – sie wollten eine Story. In Bezug auf die Antisemitismus-Frage scheint ein investigativer Journalismus so gut wie verschwunden, ausgewogene Berichterstattung hat sich in den Mainstream-Medien verflüchtigt. Ich bin nicht überzeugt davon, dass Antisemitismus gegenüber anderen Formen des Rassismus eine Sonderrolle einnimmt – alle haben ihre eigenen Geschichten und Funktionen, alle erheben sie den Anspruch auf ihre Einzigartigkeit.

Ausschluss aus der Labour-Partei

Im September 2016 wurde meine Mitgliedschaft in der Partei ein zweites Mal suspendiert. Es war in erster Linie das heimliche Filmen eines „privaten“ Seminars, das jüngst benutzt wurde, um mich als politische Aktivistin zu vernichten.

Die Jewish Labour Movement (JLM), eine prozionistische Gruppe, die aus historischen Gründen 4 Labour angegliedert ist, organisierte ein Trainingsseminar auf dem Parteitag. Ich nahm teil als Mitglied einer Gruppe von Free Speech on Israel [etwa: Redefreiheit in Bezug auf Israel].

Viele Teilnehmer stellten Fragen, einige waren erheblich herausfordernder als meine: Ich äußerte den Gedanken, dass es großartig wäre, wenn am Holocaust-Gedenktag aller Völkermorde gedacht würde, und stellte die Darstellung der Sicherheitsmaßnahmen in jüdischen Schulen durch den Trainer in Frage. Ich wollte darauf hinaus, dass er nicht in der Lage war, irgendwelche Daten vorzuweisen, die die Zunahme von Angriffen auf jüdische Einrichtungen belegen würden. Allerdings filmte jemand, der ein Parteimitglied sein muss, in diesem geschlossenen Training heimlich die Sitzung, bearbeitete den Film sorgfältig und gab ihn an die Medien weiter. Die Labour-Partei hat bisher nicht das mindeste Interesse daran gezeigt, die Identität der Person aufzudecken, die unter offensichtlichem Bruch von Datenschutzgesetzen und entgegen den üblichen Gepflogenheiten bei Seminartagungen Filmaufnahmen machte. Es lässt sich auch argumentieren, dass es diese Person war, die die Partei in Verruf brachte, ohne dass jene, die für die Verwaltung und die disziplinären Verfahren zuständig sind, auch nur das geringste Interesse daran an den Tag legten. Man könnte fragen, warum? Die Antwort liegt bei jenen, die die Parteimaschine kontrollieren.

Seit Corbyn die Leitung der Partei übernahm, gibt es einen Machtkampf (zumeist) niedriger Intensität. Corbyn mag die Führung gewonnen haben, aber er kontrolliert nicht die PLP (Parliamentary Labour Party), die Parlamentsfraktion. Genauso wenig kontrolliert er die Parteistrukturen. In den letzten achtzehn Monaten hat das Kontrollgremium [Compliance Unit], das zu Zeiten von New Labour (der an Blair orientierten Rechten der Partei) eingerichtet worden war, Tausende Mitglieder (der Linken) suspendiert, etwa wegen des Gebrauchs von Ausdrücken wie „Verräter“ in Facebook-Einträgen oder aus sonstigen, meiner Meinung nach unerheblichen Gründen. Es sind dieses Kontrollgremium sowie der von der Rechten dominierte NEC (National Executive of the Labour Party), der Geschäftsführende Vorstand der Partei, die viele maßgebliche Entscheidungen treffen.

Mein Fall wird nun so wie der des ehemaligen Bürgermeisters von London, Ken Livingstone, vor dem höchsten Disziplinarausschuss der Partei, dem NCC, zu Gehör gebracht werden. Meine Aussichten auf eine faire Anhörung? Im besten Fall gering. Meine Reaktion? Ich fahre fort zu schreiben und zu reden. Ich führe „Die Lynchung“ auf, ein Einpersonenstück, das thematisiert, was mir geschehen ist. Ich werde nicht schweigen.

Jackie Walker ist eine englische Schriftstellerin, Lehrerin, Beraterin und Lektorin. Ihr ganzes Leben lang war sie eine Aktivistin mit einem besonderen Interesse an antirassistischer Arbeit in mehrheitlich weißen Gemeinden. Aus dem Englischen von Jürgen Jung.

 

1 https://www.middleeastmonitor.com/20150605-israels-new-war-against-bds/ und: https://www.middleeastmonitor.com/20140322-israeli-ministers-discuss-using-lawyers-and-mossad-to-fight-bds/ [8.11.2017].

2 http://www.39essex.com/content/wp-content/uploads/2016/06/Chakrabarti-Inquiry-Report-30June16.pdf.

3 http://freespeechonisrael.org.uk/marc-wadsworth/

4 http://freespeechonisrael.org.uk/who-are-jewish-labour-movement/