Die Stunde der Hysteriker

Am 4. März gegen 16:15 Uhr wurden in der idyllischen südenglischen Kleinstadt Salisbury – unweit von Porton Town, wo das klandestine Chemiewaffenzentrum der britischen Regierung ansässig ist – der ehemalige, von den Briten umgedrehte Doppelagent Sergej Skripal (in Russland 2006 rechtskräftig zu 13 Jahren Arbeitslager verurteilt und im Jahre 2010 im Zuge eines vereinbarten Gefangenenaustausches nach Großbritannien gelangt) zusammen mit seiner seit dem 3. März aus Moskau zu Besuch weilenden Tochter Julija in komatösem Zustand aufgefunden. Beide wurden Opfer eines heimtückischen Giftmordversuches, mutmaßlich mit einem letalen chemischen Kampfstoff.
Am 12. März benannte Premierministerin Theresa May vor dem britischen Unterhaus eine Substanz, die zu einer von Russland entwickelten Gruppe von Nervengasen namens Nowitschok gehöre, als eingesetzte Waffe, erklärte Moskau zum „highly likely“ (äußerst wahrscheinlichen – der Begriff wird gern benutzt, wenn justiziable Beweise gerade nicht zur Hand sind) Verantwortlichen, wenn nicht zum Täter, und forderte den Kreml in ultimativer Form auf, binnen 36 Stunden Klarheit zu schaffen, „wie dieses in Russland produzierte Nervengas nach Salisbury gebracht worden sein könnte“.
Moskau wies die Anschuldigung und das Ultimatum umgehend zurück, signalisierte jedoch ausdrücklich seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit bei der Aufklärung gemäß dem in der C-Waffen-Konvention für solche Fälle vorgesehenen Prozedere, worauf nun wieder die britische Seite nicht einging. Dafür legte May am 14. März nach und unterstellte Russland „ein nicht deklariertes Chemiewaffenprogramm unter Verletzung von internationalem Recht“. 23 russische Diplomaten wurden als „Spione“ ausgewiesen und weitere Strafmaßnahmen verhängt oder angekündigt. Unter anderem wird politische Prominenz von der Insel der Fußball-WM in Russland fernbleiben.
Tatsächlich verbietet die 1997 in Kraft getretene C-Waffen-Konvention, der auch Russland angehört, „chemische Waffen zu entwickeln, herzustellen, […] zu erwerben, zu lagern oder zurückzubehalten oder […] weiterzugeben“ ebenso wie „chemische Waffen einzusetzen“. Vorhandene Bestände müssen vernichtet werden. Diesen Prozess hatte Russland am 27. September 2017 offiziell für abgeschlossen erklärt, was von der zuständigen internationalen Behörde, der OPCW, als „Meilenstein“ begrüßt wurde. (Die USA haben das Klassenziel nach wie vor nicht erreicht – wegen angeblich fehlender Haushaltsmittel; bei einem jährlichen Militärbudget von über 600 Milliarden US-Dollar …)
Die genannten Statements von May waren eindeutig Akte von Vorverurteilung, auf Mutmaßungen beruhend und ohne definitive Nachweisführung. Trotzdem entwickelte sich nach dem Vorfall in Salisbury quasi in Windeseile – befeuert durch Politik und Medien – ein Orkan schnappatmender, schriller Hysterie, der seither durch den Westen tobt. Einige Momentaufnahmen:
NATO-Generalsekretär Stoltenberg befindet: „Russland wird immer unberechenbarer und immer aggressiver.“ Und im NATO-Hauptquartier in Brüssel, so berichtete ein Nachrichtenmagazin, „ging […] die Befürchtung um, die Briten könnten den Bündnisfall ausrufen“.
Für Klaus-Dieter Frankenberger, Ressort-Chef Außenpolitik der FAZ, herrscht nun finale Klarheit, dass sich Russland unter Putin „entschieden [hat], den verlorenen Weltmachtstatus durch Imponiergehabe und Aggression wiederzuerlangen“.
Kollege Richard Herzinger, Korrespondent für Politik und Gesellschaft bei der Welt, sekundiert: „Der Giftanschlag […] fügt sich in die Logik des Putin-Regimes, nach der die Fähigkeit zur straflosen Übertretung internationaler Regeln und Normen Ausweis seiner globalen Stärke sei.“ Schlimmstes befürchtet diese Pythia von der Spree daher für die Fußball-WM, denn bekanntlich befahl Putin ja während der Olympischen Winterspiele 2014 „vor der Abschlussfeier in Sotschi die Annexion der Krim“.
Und Roland Nelles, Spiegel-Chefkorrespondent, schrieb denen, die zu langsam im Kopfe sind, um immer auf der Höhe des Mainstreams zu sein, und auch den paar Unverdrossenen im Lande, die immer noch nicht vom Laster eigenen Denkens lassen wollen, ins Stammbuch: „Kaum jemand zweifelt noch daran, dass Putin und seine Spione hinter dem Mordversuch […] stecken.“
Was das weitere Vorgehen gegen Moskau anbetrifft, dürfte eine Headline der taz schwerlich zu toppen sein: „Kalter Krieg reicht nicht“!
Zurückhaltender äußerte sich die Bundeskanzlerin auf ARD: „Wir nehmen die Befunde der britischen Regierung sehr ernst.“ Der Grund für diese interpretationsoffene Aussage liegt möglicherweise darin, dass nach Kenntnisnahme der britischerseits zum Fall bisher vorgelegten Papiere ein ranghoher deutscher Beamter geäußert habe: „Einen endgültigen Beweis dafür, dass der russische Staat hinter dem Anschlag steckt, gibt es nicht.“ Nachzulesen ist das im Spiegel.
So lange dieser Befund Bestand hat, kann man ihn entweder ignorieren und, aus welchen Gründen auch immer, ein ordentliches Tam-Tam lostreten wie Theresa May oder aber zunächst hilfsweise Fragen stellen und anhand möglichst nachprüfbarer Sachverhalte und plausibler Schlussfolgerungen Antworten suchen. Da die erstere Variante bereits vielseitig bedient wird, soll hier der zweiten gefolgt werden.
Ein von der Welt flugs zum „führenden deutschen Experten für Massenvernichtungswaffen“ beförderter Alt-Kader, Hans Rühle (im vergangenen Jahrhundert mal Planungsstabschef im BMVg) etwa weiß apodiktisch: „Der einzige Staat, der Nowitschok hat und auch ein Motiv hätte, Sergej Skripal umzubringen, ist Russland.“
Der einzige Staat, der Nowitschok hat?
1999 haben die USA in Usbekistan die aus Sowjetzeiten stammende Forschungseinrichtung deaktiviert, in dem Nowitschok-Substanzen entwickelt und getestet worden sein sollen. Seitdem dürfte Washington um das Geheimnis des Herstellungsprozesses wissen und, soweit dort welche vorhanden waren, auch über Proben verfügen. Einzelne Substanzen der Gruppe sollen zwar um ein Mehrfaches toxischer als die bisher stärksten Nervengase Sarin und VX sein und zur Kategorie der Binärwaffen zählen. Bei diesen entsteht der tödliche Kampfstoff erst beim Einsatz (etwa nach Abschuss einer Trägergranate) durch Reaktion bis dahin voneinander getrennt gehaltener nicht oder nur wenig toxischer Ausgangsstoffe. Damit entfällt der bei herkömmlichen Kampfgasen sehr hohe Sicherheitsaufwand für den Anwender. In der Vergangenheit sind Binärwaffenentwicklungen außer für die USA und die Sowjetunion auch für Frankreich nachweisbar. Und was die Nowitschok-Gruppe direkt anbetrifft, so darf bei Großbritannien angesichts der Kürze der Zeitspanne, bis May an die Öffentlichkeit ging, ebenfalls mehr als nur Basiswissen vorausgesetzt werden. Insofern ist die Identifizierung der mutmaßlichen Tatwaffe allein kein hinreichendes Indiz, das eine Schuldzuweisung an Moskau rechtfertigte.
Der einzige Staat, der auch ein Motiv hätte? Welches und gar welches rationale das sein sollte, hat Pensionär Rühle leider nicht verraten.
Vielleich war Putin daran interessiert, dem Westen einen Grund zu liefern, die Fußball-WM doch noch zu boykottieren, oder der EU, die ab 2014 bereits verhängten Sanktionen zu verdoppeln? Selbstdenker dürften aber eher der Meinung sein, dass WM und Sanktionen allein Motiv genug wären, den Westen nicht auch noch durch Einsatz eines verbotenen chemischen Massenvernichtungsmittels zu provozieren.
Vielleicht ging es dem Kreml um „Würze für den russischen Wahlkampf“, wie André Ballin für den Standardaus Moskau titelte? Allerdings stand Putins Wiederwahl seit Monaten außer Frage.
Vielleicht stellte Skripal ein Sicherheitsrisiko für Russland dar? Nun war der – erst 2004 enttarnt – freilich bereits 1999 aus dem Geheimdienst ausgeschieden, weiterer Geheimnisverrat mithin kaum noch zu befürchten. Der hätte durch einfache Austauschverweigerung im Übrigen unspektakulär unterbunden werden können.
Oder ist die Skripal-Attacke die gezielte Aktion einer Geheimdienstorganisation gegen einen Verräter, wie Ex-Oligarch Michail Chodorkowski glaubt? Immerhin sollen durch des Doppelagenten bezahlte Dienste für die Briten etwa 300 russische Agenten aufgeflogen sein. Muss man da nicht „Nachahmer“ abschrecken? Klingt zwar einleuchtend, nichtsdestotrotz gilt im Geheimdienst- und Spionagemilieu über Landes- und selbst Systemgrenzen hinaus traditionell ein ungeschriebenes Gesetz: Inhaftierte, gar rechtskräftig verurteilte und nachmals offiziell ausgetauschte Verräter sind sakrosankt. Wenn diese Regel nicht gälte, wäre es noch schwieriger als sowieso schon, Spitzenquellen zu rekrutieren oder aufzubauen. Es wäre daher ausnehmend dumm, solchen Kollateralschaden für einen sinnlosen Racheakt zu riskieren.
Eine weitere Frage beantwortet sich quasi dadurch, dass sie gestellt wird: Welcher Täter würde eine Waffe wählen, die gewissermaßen mit voller Breitseite vor allem auf ihn selbst zurück verwiese?
Der britische Labour-Führer Jeremy Corbyn mag ähnliche Überlegungen im Hinterkopf gehabt haben, als er empfahl, „auf die bestehenden internationalen Verträge und Verfahren zum Umgang mit chemischen Waffen“ zurückzugreifen. Er habe es „im Parlament […] allzu oft erlebt, dass in internationalen Krisen klares Denken durch Emotionen und voreilige Entscheidungen verdrängt wurde“. Dies habe bereits in den Fällen Irak, Afghanistan und Libyen zu katastrophalen Folgen geführt.
Corbyn wurde natürlich von Parlamentskollegen, auch der eigenen Partei, und von den britischen Medien umgehend niedergemacht. Wie es sich halt gehört, wenn die Stunde der Hysteriker geschlagen hat.