Klasse mit Gedöns!

Thesen zu Klassenpolitik und Klassenbewusstsein im 21. Jahrhundert

 

Der Beitrag entstammt der Ausgabe zu „Klassenkampf und Klassenpolitik“ des *prager frühling. Dieser Beitrag wie auch alle anderen Beiträge sind auf der Webseite des Magazins frei zugänglich.

1. Klasse ist nicht Schnaps und Herrenwitz

Der Klassenbegriff ist in den Vulgärvarianten „linker“ Parteienforschung oder parteinaher „Strategie“-beratung zu einer Milieu- oder Identitätsveranstaltung abgesunken. Doch entgegen dieses kulturalisierenden Geredes ist das Proletariat eben keine vorgängige Größe mit Affinität für Schnaps und Herrenwitze. Es umfasst all jene, die nichts haben außer ihre Arbeitskraft. Es sind jene, die den Besitzenden ihre Zeit, ihr Wissen und ihre Körper zur Verfügung zu stellen, um für sie zu arbeiten. Gleichgültig, ob sie für Ihre Arbeitskraft gerade Abnehmer*innen finden und unabhängig davon, ob ihre Arbeit formell oder informell organisiert ist, egal ob dies in der Fabrik oder im Callcenter stattfindet. (s. dazu auch den Beitrag von Mag Wompel) Die Spaltung der Gesellschaft gründet gerade nicht allein in der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, in den Vermögen und den Eigentümern, sie gründete in der Herrschaft über den Produktionsprozess, die politisch über das Eigentum an den Produktionsmitteln gesichert ist. Diese Herrschaft ist eine Kraft, die nicht bloß soziale Ungerechtigkeit produziert, sondern das gesamte Leben durchdringt, beherrscht und entfremdet, weil es die Menschen in den Dienst des Verwertungsimperativs stellt.

2. Klasse ist nicht „Opfergemeinschaft“

Klasse ist zumindest für Karl Marx dabei weder Opfer- noch Schicksalsgemeinschaft. Im Gegenteil: Sie ist eine Hoffnung auf die Verwirklichung für den Beginn wahrhaft menschlicher Geschichte. Klasse und ihr Bewusstsein sollten sich nicht in einem gemeinsamen Opferstatus begründen, sondern in einem kollektiven Vermögen, das die herrschenden Verhältnisse radikal zu verändern, vom Kopf auf die Füße zu stellen vermag. Klassenkämpfe gründen sich auf ein Potential, das in der kapitalistischen Gesellschaft bereits angelegt ist. Dieses Potential muss politisch mobilisiert und organisiert werden; diese Klassenpolitik kann aber wiederum nur soweit erfolgreich sein, als sie eine materielle Basis hat.

3. Der doppelte Doppelcharakter …

Dem doppelten Charakter von Arbeit als Ausbeutungsverhältnisse und als radikales geschichtliches Potential entsprechen Marx‘ Überlegungen zum Doppelcharakter der Ware. Die kapitalistische Produktion bringt Gebrauchs- und Tauschwert hervor. Die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft läuft bei Marx dabei auf den Fortschritt der Produktivkräfte hinaus, die dann eines Tages von der Fessel des Tauschwertes und der Verwertung befreit werden sollten. Diese Analyse enthält auch die Annahme, dass sich im Produktionsprozess nicht bloß der Verwertungsprozess realisiert, sondern Arbeit „das Leben erzeugende Leben“ und damit ein gefesseltes Potential ist. Arbeit ist im Kapitalismus auch jenseits des riesigen Bereichs der Reproduktionsarbeit in erster Linie Lohnarbeit und „Leben erzeugendes Leben“, das immer und unvermeidlich reichhaltiger ist als der Verwertungsprozess. Gleichzeitig ist Verwertungsprozess über die Jahrhunderte so dominant geworden, dass er vielfach keine Gebrauchswerte mehr produziert, sondern nur noch sinnlose Konsumartikel.

4. … und die Kämpfe am Rande des Werts

Wenn beide Gedanken als Beschreibung gegenläufiger Tendenzen Plausibilität für sich beanspruchen können, muss eine Linke mehr denn je ihre Aufmerksamkeit auf all diejenigen richten, deren Arbeit gerade an den Rändern dessen stattfindet, was unter Lohnarbeit subsumiert wird. Dann ist womöglich das Potential der Klasse überall dort zu finden, wo die Logik der Verwertung am „schwächsten“ ist. Beispiel Pflegearbeit und ihrem affektiven Anteil: Ist da zunächst das Lohnarbeitsverhältnis von Krankenpflegenden im Spätkapitalismus, das aber einen gewissen Spiel-und Freiraum für Anderes lässt? Oder ist da ein kollektives menschliches Vermögen, dass zwar in immer wieder neuen Versuchen vom Kapital organisiert und kommandiert wird, sich aber in seiner Substanz immer wieder aufs Neue einem solchen Zugriff verweigert? Wohl beides. Das Krankenhaus ist ein Unternehmen im Kapitalismus mit Raum für etwas mehr in dem das Vermögen von Medizin und affektiver wie effektiver Pflege längst existiert und täglich und aufs Neue vom Kommando des Kapitals ausgebremst, und verhindert wird.

5. Sozialer Rechtsstaat: Umverteilung und Schutzgarantien

Die richtige Erkenntnis, dass Klasse nicht per Kontostand hergestellt wird, sondern ein Verhältnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der (Re)Produktion des Lebens ist, wurde von marxistischen Sekten mit und guten und schlechten Argumenten gegen das reformistische Projekt der Sozialdemokratie in Stellung gebracht. Das zentrale Projekt der alten sozialdemokratischen Arbeiter*innenparteien, die nachträgliche Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums ist mehr als die Verschleierung des Klassenantagonismus. Richtig ist, dass wer von Klasse nicht reden will, auch von der sozialen Frage schweigen sollte. Doch der sektiererische Umkehrschluss, wer von Klasse redet, müsse über die soziale Frage nicht mehr sprechen ist unzulässig. Denn Umverteilung und staatliche Schutzgarantien sind hart erkämpfte Klassenkompromisse, welche die Ausgangsbedingungen für weitere Kämpfe verbessert haben. Doch nicht nur das: Die Kämpfe um Verteidigung und Ausweitung sozialer Schutzgarantien sind Orte, an denen sich Klassenbewusstsein formiert und schärfen kann.

6. Aufgabe und Herausforderung linker Parteien

Die vornehmste Aufgabe linker Parteien ist es Klassenbewusstsein zu schaffen und zu erhalten, in dem sie Anlässe für kollektives Handeln schafft, auf radikale Veränderung orientiert, Konflikte identifiziert und politisch belastbar macht. Dabei kann theoretisch schon der Wahlakt selbst der Beginn einer Herstellung von Klassenbewusstsein sein. Dennoch: Hohe Wahlergebnisse linker Parteien sind in klassenpolitischen Auseinandersetzungen hilfreich, sie sind aber auch kein Selbstzweck. In bürgerlichen Demokratien denken Parteien notwendig in Wahlzyklen. Ihr Resonanzraum – die mediale Öffentlichkeit – ist zudem nach anderen Logiken strukturiert. Das bedeutet, dass es Übersetzungs- und Vermittlungsmechanismen braucht, die aber notwendig einen Überschuss zurück lassen. Für die öffentliche Debatte gilt: Grammatiken des Gemeinwohls, welche Parteien fast zwangsläufig anrufen müssen, stehen in Spannung zu Klassenpolitiken. Sie können Vehikel legitimer Übersetzungsleistungen sein, aber nur so lange ihre aufgerufenen Kategorien nicht die Logik der Klasse untergraben. Dies ist zum Beispiel bei identitätspolitischen Anrufungen von Nation, Herkunft, kultureller Orientierung oder Milieu der Fall.

7. Gegen die Ästhetisierung der Klasse

Auf Seiten der politischen Rechten gibt es eine Ästhetisierung und kulturalisierende Umdeutung des Klassenbegriffs. Aus einer abstrakten Kategorie wird bei ihnen verkitschte Arbeitertümelei, die sich um die Figur des weißen, männlichen Industriearbeiters dreht. Europäische Nouvelle Droite und amerikanische Alt-Right-Bewegung haben dafür ein uraltes faschistisches Narrativ aufgewärmt und modernisiert: Die politische Linke und ihre AnhängerInnen werden von ihnen als links-grün-versiffte KosmopolitInnen denunziert, die sich erst kulturell von den subalternen Klasse entfernt hätten, um sie dann an den Neoliberalismus zu verraten. So falsch und dumm dies alles ist, (s. dazu auch den Beitrag von Kolja Möller) so sehr scheint dieser Vorwurf auch Teile der Linken in Partei und Gewerkschaft zu verunsichern. Die Antwort auf den Vorwurf kultureller Entfremdung wird in einer kultureller Wiederannährung an eine vermeintliche Klassenästhetik gesehen. Eine Strategie, die in horizontal differenzierten Klassengesellschaft notwendig scheitern muss. Oder um es polemisch zu formulieren: Aus der Bordieu’schen Analyse, dass kulturelles Kapital eine wichtige Rolle bei der Reproduktion der Klassengesellschaft spielt, lässt sich weder der Umkehrschluss noch  die Handlungsanweisung ableiten, dass der verstärkte Verzehr von Bratwürsten ein Beitrag der Überwindung derselben dient.

 

Der Beitrag entstammt der Ausgabe zu „Klassenkampf und Klassenpolitik“ des *prager frühling. Dieser Beitrag wie auch alle anderen Beiträge sind auf der Webseite des Magazins frei zugänglich.