Postkolonialismus: Eine koloniale Schatzkammer

Es soll ein „Weltkulturmuseum“ werden und ist der postkoloniale Ort in Deutschland: das Humboldt Forum in Berlin. Sein Domizil soll es hinter der Barockfassade des wiederaufgebauten Stadtschlosses finden. Die (Teil-)Eröffnung ist für Ende 2019 geplant. Doch die Konzeption stößt vielfach auf Ablehnung: Das nach dem Naturforscher Alexander Humboldt benannte Forum verharre im kolonialen Blick auf die ausgestellten Objekte, bei denen es sich in vielen Fällen um Raubgut handelt.

von Joachim Zeller

 

Es ist der postkoloniale Ort in Deutschland, der im Entstehen begriffen ist: das Humboldt Forum in Berlin. Sein Domizil soll es hinter der rekonstruierten Barockfassade des wiederaufgebauten Stadtschlosses finden. Für Ende 2019 ist die (Teil-)Eröffnung geplant. Geworben wird für das Großprojekt nur im Superlativ. Das Schloss sei ein „Jahrhundertbau“ und das Humboldt Forum ein „Weltkulturmuseum“ neuen Formats. Es soll ein „Kompass für das globale Miteinander“ sein, ein „kulturelles Zentrum von nationaler und internationaler Ausstrahlung“, mit dem sich Berlin im Kreis der „weltweit führenden Kultur- und Museumsstädte“ etablieren will. Selbst die Tourismusindustrie könnte das kommerzielle Branding der Marke Berlin nicht besser betreiben, um die Stadt an der Spree als Global Player der Kultur in Stellung zu bringen.

615 Millionen Euro sind für die Wiedererrichtung des 1950 von der DDR-Führung gesprengten Residenzschlosses der einstmaligen Hohenzollern-Dynastie veranschlagt und 60 Millionen jährlich für den Ausstellungsbetrieb. In den Räumlichkeiten des Humboldt Forums mit seinen insgesamt 40.000 Quadratmetern Nutzfläche sollen die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst mit ihren zusammen rund 500.000 Objekten präsentiert werden. Bisher waren sie im Museumszentrum in Berlin-Dahlem zu Hause. Die so genannte Gründungsintendanz wurde mit dem Archäologen und Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp und dem britischen Kunsthistoriker und Museumsfachmann Neil MacGregor besetzt.

 

Kontroverse Debatten

Seit das Großprojekt auf der Agenda steht, ist es mit sich widersprechenden Stimmen konfrontiert und wird von erregt geführten Debatten begleitet. Folgt man den Verlautbarungen der Verantwortlichen, so handelt es sich bei dem Vorhaben „Berliner Schloss – Humboldt Forum“ um das „wichtigste kulturpolitische Projekt in Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts“. Das Humboldt Forum soll „zur Denk- und Erfahrungsschule einer demokratischen Weltgesellschaft“ avancieren. Mit dem „Denkraum für die Zukunft der Welt“ wird ein „Ort des Dialogs der Kulturen der Welt“ angestrebt. Die neue Mitte Berlins soll zu einer „Freistätte für Kunst und Wissenschaft“ werden. Im Humboldt Forum als einem „multiperspektivischen Ort der Weltkulturen“ will man die Objekte der außereuropäischen Kulturen auf Augenhöhe mit denen westlicher Kulturen präsentieren.

All diesen Bekundungen zum Trotz hagelt es Kritik an der inhaltlichen und konzeptuellen Ausgestaltung des geplanten Humboldt Forums. Mitunter wird sogar die Legitimation des gesamten Projekts in Frage gestellt. Bereits die Schloss-Replik stößt bei den GegnerInnen auf Ablehnung. Das Gebäude stehe für Preußentum, Militarismus, Krieg und koloniale Expansion. In dieser feudalistischen Herrschaftsarchitektur könne man keine „ethnologischen Objekte“ ausstellen, die durch koloniale Gier in die vormalige Kolonialmetropole Berlin gebracht worden sind. Bemängelt wird zudem die Zusammensetzung der Mitglieder der Gründungsintendanz, die nur aus weißen mitteleuropäischen Männern besteht.

Offensiv in die Öffentlichkeit getragen wurden die Anti-Humboldt-Positionen insbesondere durch das Kampagnenbündnis „No Humboldt 21“, einem Zusammenschluss von mehr als 40 kultur- und entwicklungspolitischen, migrantisch-diasporischen sowie internationalen NGOs. Schon früh forderten die AktivistInnen des Bündnisses ein Moratorium und eine breite öffentliche Debatte über das Humboldt Forum. Die Kulturschätze aus aller Welt dienten lediglich zur Demonstration von Weltoffenheit der selbsternannten „Kulturnation“. Das Humboldt Forum verharre im kolonialen Blick auf seine Objekte. Die Hegemonien des Kolonialzeitalters würden nicht wirklich aufgebrochen, da die in dem Humboldt Forum versammelten Kulturgüter der Welt auch weiterhin den Privilegierten im Norden vorbehalten blieben.

Unterstützung für ihre Positionen fanden die VertreterInnen des Bündnisses unter anderem bei Aminata Traoré, der ehemaligen Kultur- und Tourismusministerin Malis. Schon bei der Eröffnung des Pariser Museé du Quai Branly im Jahr 2006 hatte sie festgestellt: „Unsere Kunstwerke haben Bürgerrechte dort, wo uns allen der Zugang verwehrt bleibt.“ In der Presse pflichtete man diesem Gedanken bei. Der Kunsthistoriker und Journalist Hanno Rauterberg nannte das Humboldt Forum einen „Palast der Verlogenheit“. Gepredigt werde „ein Dialog der Kulturen, gelebt wird eine Politik der Abschottung. Kulturelle Relikte sind wohlgelitten, nicht aber jene Menschen, die diese Kultur hervorbrachten – was für eine Bigotterie!“

 

Provenienzforschung ungleich Restitution

Für Aufsehen sorgte der Protest von Bénédicte Savoy, die im Juli 2017 aus dem internationalen ExpertInnenbeirat des Humboldt Forums austrat. Die Leibniz-Preisträgerin, Professorin für Kunstgeschichte an der Technischen Universität Berlin und am Collège de France in Paris und Leiterin des Forschungsprojekts „Translocations“ zu Kulturgutverlagerungen, bemängelte die bisher unzureichende Provenienzforschung der Sammlungsobjekte. In der aktuellen Ausrichtung des Humboldt Forums sieht sie eine unkritische Fortschreibung der über 300-jährigen, kolonial geprägten Sammlungsgeschichte. Die Objekte der ethnographischen Sammlungen hätten in Dahlem verbleiben und dort so präsentiert werden sollen, dass „sie der Internationalisierung Deutschlands und der Kolonialismusdebatte hätten standhalten können“.

Savoy betont, dass Provenienzforschung und Restitutionen zu unterscheiden sind, ein Unterschied, den manche um ihre Sammlungsbestände besorgten und deshalb mit einem Abschottungs- und Abwehrreflex reagierender MuseumsbeamtInnen nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Während die Provenienzforschung eine historische Wissenschaftsforschung ist, sind Restitutionen von juristischer und symbolischer Natur, mit denen Fragen nach einer möglichen Wiedergutmachung von Unrecht und einem wirksamen Ausgleich des erlittenen Nachteils verhandelt werden. Die Provenienzforschung, darauf verwies die Ethnologin Larissa Förster, könne nicht allein von der Raubkunst-Debatte aus gedacht werden. Nicht immer würden kolonialzeitliche Erwerbszusammenhänge bedeuten, dass es sich auch um Beutegut handeln muss. Postkoloniale Provenienzforschung müsse auf ein umfassendes Verständnis (post-)kolonialer Verflechtungsgeschichte und auf eine transnationale Einbettung der Sammlungen abzielen.

Rückgabegesuche zu einzelnen Kunst- und Kulturobjekten aus den Beständen des zukünftigen Humboldt Forums liegen teilweise schon seit Jahrzehnten auf dem Tisch, ob es sich um die Kultmasken der Kogi (Kolumbien), die berühmten Benin-Bronzen (Nigeria) oder den Thron des Königs Njoya (Kamerun) handelt. Weitere Museen in Berlin und anderen deutschen Städten sind ebenfalls von Rückgabeforderungen betroffen. Zu den bekanntesten Fällen gehören die Büste der Nofretete (Ägypten), eine der Hauptattraktionen auf der Berliner Museumsinsel, oder das Tangué (Kamerun) im Münchner Museum Fünf Kontinente.

Die Restitutionsdebatte bezieht sich aber nicht nur auf Kunst- und Kulturobjekte aus ethnologischen Sammlungen, die aus den ehemaligen deutschen und anderen europäischen Kolonialgebieten stammen. Abgesehen von den bereits laufenden Repatriierungen von Human Remains wird auch über Objekte aus naturkundlichen Sammlungen wie dem zum Berliner Naturkundemuseum gehörenden Skelett des Brachiosaurus brancai diskutiert. Das im Lichthof stehende Wahrzeichen des Museums – es ist das größte in einem Museum aufgebaute Dinosaurier-Skelett der Welt – wurde in den Jahren nach 1909 zusammen mit anderen Saurierknochen bei einer Grabungskampagne am Fuße des Tendaguru-Berges in „Deutsch-Ostafrika“ (heute Tansania) freigelegt und außer Landes gebracht. Dieses Beispiel belegt, wie kompliziert Restitutionsansprüche sein können. Während mittlerweile mehrere tansanische ParlamentarierInnen die Rückgabe sämtlicher Saurierknochen fordern, erteilte die Regierung Tansanias einem Restitutionsantrag im Juni 2017 eine Absage, wohl um die guten Beziehungen zu Deutschland nicht zu gefährden: will heißen, um keine Kürzung deutscher Entwicklungshilfeleistungen zu riskieren.

 

Kritik der Kritik

„Über das Humboldtforum ist alles gesagt. (…) Die Diskussion bewegt sich seit langer Zeit im Kreise. In diesem Jahr haben die Feuilletons die Regie übernommen, ohne daß dabei neue Gesichtspunkte zur Sprache gekommen wären“, heißt es in dem Blog „Wie weiter mit Humboldts Erbe? Ethnographische Sammlungen neu denken“. Ob nun tatsächlich alle fachlichen Positionen abgesteckt und ausgetauscht sind, sei dahingestellt. Die Aussage lässt aber den jetzt erst jetzt richtig in Gang gekommenen (kultur-)politischen Aushandlungsprozess um das Humboldt Forum unbeachtet, haben doch Museen nicht in erster Linie eine ästhetische oder wissenschaftliche Funktion, sondern einen gesellschaftlichen Zweck zu erfüllen. Betrachtet man daraufhin das Für und Wider der Kontroverse, halten sich seriöse, weil differenzierende Beiträge und solche unter Niveau die Waage. Und sollte Hanno Rauterberg mit seiner Feststellung richtigliegen, beim Humboldt Forum handle es sich um einen „Palast der Verlogenheit“, bieten sich durchaus erstaunliche Einblicke in das Diskursereignis Humboldt Forum.

Beispielhaft belegt werden kann dies mit den Publikationen von Viola König, der Direktorin des Ethnologischen Museums der Staatlichen Museen Berlin. Darunter findet sich der Aufsatz „Das Humboldt Forum – Ein Versuch einer Kritik der Kritik“. Ihr Text eignet sich deshalb, da sie mit ihm vor allem auf die „Kolonialismusdebatte“ reagiert, um die sich gegenwärtig vieles dreht. Zunächst verwahrt sich König dagegen, den VertreterInnen des Humboldt Forums Unkenntnis kolonialer Geschichte, Geschichtsvergessenheit und eurozentrische Selbstgewissheit zu unterstellen. Solche pauschalen Behauptungen, die lediglich der wohlfeilen „Selbstprofilierung“ dienen würden, weist sie mit Entschiedenheit zurück. In diesem Punkt ist ihr beizupflichten. Bei aller notwendigen Kritik zeugt es nicht nur von Unwissen, sondern es ist auch unredlich, dem Gegenüber jegliches (kolonial)historisches Bewusstsein und Gespür für globale Ungleichheitsstrukturen abzusprechen.

Zudem wird außer Acht gelassen, dass die Ethnologie einerseits und die Museumsethnologie andererseits in den letzten Jahrzehnten Gegenstand heftiger postkolonialer Kritik gewesen sind. Die damit verbundene „Krise der Repräsentation“ hat ein einfaches Sprechen über „andere Gesellschaften“ längst hinter sich gelassen. Die Ethnologie selbst weist eine lange Geschichte anti-hegemonialer politischer Kritik auf, wenn auch die Debatten um die Verstrickungen der Ethnologie in das koloniale Projekt hierzulande in der Öffentlichkeit erst verspätet angekommen sind. Verschiedene Projekte wie die Tropen-Ausstellung (2008), die Ausstellungen des Humboldt Labs (2011-2015) oder die Ausstellung „Unvergleichlich – Kunst aus Afrika im Bode-Museum“ (seit Oktober 2017), die sich alle als Probelauf für das künftige Humboldt Forum verstehen, dokumentieren, dass ein Umdenken in Gang gekommen ist. Gleichwohl der Weg hin zu einer normativen Korrektur des eurozentrischen Blicks noch lang ist, bleibt die Frage, was davon später tatsächlich ins Programm des Humboldt Forums übernommen werden soll. Die selbst von Bundeskanzlerin Angela Merkel geäußerte Befürchtung, es könnte dort ein Völkerkundemuseum alter Schule geben, dürfte sich jedenfalls erledigt haben.

Bei alledem ist es aufschlussreich, auf welche Kritikpunkte König nicht eingeht. Dazu gehört die Mahnung, man möge doch in Berlin die Zivilgesellschaft mit den migrantischen und postkolonialen Gruppen nicht außenvorlassen, eine Mahnung, die nur allzu berechtigt ist. Denn der von den Institutionen gerne vorgebrachte Hinweis darauf, man strebe partizipatives Arbeiten an und wolle „Deutungsmacht“ abgeben, indem WissenschaftlerInnen aus den Herkunftsländern der Objekte in die Projekte eingebunden würden (was de facto nur  zögerlich geschieht), kann die aktiv betriebene Marginalisierung der diasporischen und aktivistischen Gruppierungen vor Ort kaum überdecken – eine höchst fragwürdige Praxis, die allerdings auch in anderen Städten wie etwa Hamburg zu beobachten ist.

Aber es scheint so, als wäre man sich unter den OrganisatorInnen des Berliner Humboldt Forums einig darin, die postkolonialen Initiativgruppen auf Distanz halten zu wollen. Die Argumente sind hinlänglich bekannt: Man spricht ihnen schlicht die Expertise ab, außerdem könnten sie ja nur moralisch argumentieren. Die dahinterstehende Strategie, sich auf diese Weise unliebsamer Kritik zu entledigen, wird gerne von dem Gründungsintendanten Hermann Parzinger praktiziert. Er scheut sich nicht, sich in einem diffamierenden Tonfall zu äußern und von „Aktivisten unterschiedlichster Couleur“ daherzureden.

Höchst fragwürdig ist im Übrigen die oft in den Medien auftauchende Behauptung, erst mit dem Humboldt Forum sei „das Thema Kolonialismus in der Politik ‚hoffähig‘ geworden“. Mit einem Federstrich wird damit die kolonialhistorische Forschungs- und Aufklärungssarbeit der vergangenen Jahrzehnte beiseitegeschoben, an der postkoloniale Initiativen ihren gewichtigen Anteil haben.

 

Aus Beispielen lernen?

Noch gravierender in der Argumentation von Viola König ist ein anderer Punkt. Sie behauptet, die kritischen Stimmen zum Musée du Quai Branly in Paris seien nach dessen Eröffnung rasch verstummt. Auch in Berlin, so lässt sie durchblicken, werde dies nach der Fertigstellung des Humboldt Forums der Fall sein. Tatsächlich ist das nationale französische Museum für außereuropäische Kunst ein Publikumsmagnet und erhielt großen Zuspruch. Aber König lügt sich hier in die Tasche, wenn sie die bis heute anhaltende Kritik verschweigt. Zudem verwundert ihr Verweis auf das Musée du Quai Branly, da längst ein Konsens dahingehend besteht, das Pariser Museum – samt seiner Architektur, die dem Prinzip der Re-Exotisierung folgt – nicht als Modell für Berlin heranziehen zu können. Das dortige Konzept der Dauerausstellung, die Objekte als Kunstwerke, das heißt allein nach ästhetischen und nicht nach ethnologischen und kulturhistorischen Kriterien zu präsentieren, ist so nicht auf das Humboldt Forum übertragbar.

Der Soziologe Wolf Lepenies war nicht der Einzige, der schon vor Jahren auf das Versagen des Musée du Quai Branly hinwies, „auf die Frage nach der kolonialen Vergangenheit des Landes eine Antwort“ geben zu können. Er vergaß auch nicht darauf aufmerksam zu machen, „wie sehr die Strategie der Ästhetisierung eine politische Funktion erfüllt“, um eben nicht über den – auch im Geschichtsbewusstsein der Französinnen und Franzosen – weithin verdrängten Kolonialismus sprechen zu müssen.

Man darf an dieser Stelle fragen, was aus vorangegangenen vergleichbaren Projekten gelernt wurde, so zum Beispiel aus der vieldiskutierten Ausstellung „Primitivism in 20th Century Art“ 1984 im Museum of Modern Art in New York. Auf große Vorbehalte stieß seinerzeit der Ansatz der Reduktion auf rein formale Kriterien, der mit einer Entkontextualisierung der Objekte aus afrikanischen oder südamerikanischen Ländern – und damit der Ausblendung kolonialer Zusammenhänge – erkauft wurde. Die Ausstellung, die vorgab, der „Dritten Welt“ offen begegnen zu wollen, habe lediglich die ethnozentrische und aufgeblasene Subjektivität der Weißen offenbart, notierte der Kunstkritiker Thomas McEvilley. Sie hätte den westlichen Egoismus noch genauso unverhohlen gezeigt wie in den Jahrhunderten des Kolonialismus. Die um 1900 noch als Ethnographica wahrgenommen Kunstobjekte aus Afrika, Amerika oder Ozeanien wären abermals vereinnahmt worden, um westliche Qualitätsvorstellungen und Überlegenheitsgefühle zu demonstrieren.

 

Entinnerung als Strategie

Widerstände dagegen, den kolonialhistorischen Balast, der dem Humboldt Forum anhaftet, unvoreingenommen aufzuarbeiten, lassen sich noch an anderer Stelle beobachten. So argumentiert etwa Gründungsintendant Horst Bredekamp, große Teile der Sammlungen des zukünftigen Humboldt Forums seien „vorkolonial“. Als Beleg verweist er gerne auf solche Exponate wie das mexikanische Federbild, das Alexander von Humboldt der Kunstkammer des Berliner Schlosses übergab. Bredekamp scheint entfallen zu sein, dass Humboldt durch spanische Kolonialgebiete reiste. Oder will da jemand partout nicht zur Kenntnis nehmen, dass die völkerkundlichen Sammlungen ihr Zustandekommen ganz wesentlich dem Kolonialismus und vor allem dem Hochimperialismus im späten 19. Jahrhundert verdanken?

Bredekamp ist offensichtlich entgangen, dass es „1492“ und die Folgen gegeben hat und dass die Globalisierung unter kolonialen Vorzeichen abgelaufen ist. Zu allem Überfluss beruft sich Bredekamp auch noch auf die Spieltheorie von Friedrich Schiller, als sei das Ganze ein „spielerisches Sammeln“ gewesen. Einer solchen Formulierung Unempfindlichkeit gegenüber der kolonialen Vergangenheit zu attestieren, ist eine Untertreibung: Sie ist ein verlogener Euphemismus, als habe es sich nicht - wie in ungezählten Fällen - um koloniale Raubzüge gehandelt.

Haben wir es hier nicht, so ließe sich weiter fragen, mit einem „intellektuellen Kolonialismus“ (Wolf Lepenies) zu tun, der immer noch allein von Europa aus den Blick auf die „nicht-westlichen“ Kulturen richtet? Fakt bleibt: Nicht alle, aber doch viele Artefakte in den ethnographischen Sammlungen sind im kolonialen Unrechtskontext „erworben“ worden. Ob Bredekamp mit seinen kruden Ansichten auch für die übrigen MitarbeiterInnen des Humboldt Forums spricht, wird sich nach dessen Eröffnung zeigen. Wer sich aber derart äußert, der setzt bewusst oder unbewusst auf eine Strategie der „Entinnerung“ der Kolonialgeschichte, wie dies die Kultur- und Politikwissenschaftlerin Lilia Youssefi genannt hat. Das habe, so Youssefi, „nichts mit einem Nicht-Wissen über die kolonialen Implikationen des Humboldt Forums zu tun. Es handelt sich nicht um eine Ignoranz im Sinne einer Nicht-Wahrnehmung, sondern einer aktiven Ent-Wahrnehmung.“

Zwar dürfe die koloniale Provenienz eines Großteils der außereuropäischen Sammlungen nicht verschwiegen werden, heißt es auf Seiten der VerfechterInnen des Humboldt Forums, doch beeilt man sich hinzuzufügen, nichts wäre verfehlter, als es in ein „kolonialhistorisches Museum zu verwandeln, um damit einen weiteren Teil der historischen Schuld Deutschlands abzutragen“, so der Ethnologe Karl-Heinz Kohl. „Dies zu tun, käme einer erneuten Vereinnahmung der künstlerischen Hervorbringungen der indigenen Kulturen gleich. Sie stellen autonome Werke dar, die dasselbe Recht haben, um ihrer selbst willen ausgestellt zu werden, wie die großen Kunstwerke des klassischen Altertums, Ägyptens und Mesopotamiens auf der benachbarten Musuemsinsel.“ Dies ist wieder ein Argument, das nur verlogen genannt werden kann.

Tatsächlich stellt niemand ernsthaft in Frage, die betreffenden Sammlungsobjekte als autonome Kunstwerke wertzuschätzen und sie – auch, aber eben nicht nur – als solche präsentieren zu können. Der Vorwurf einer vermeintlich „erneuten Vereinnahmung“ übergeht aber vor allem die Kehrseite der Medaille. Denn werden die Objekte europäischer Ausbeutung im Humboldt Forum nicht zu Objekten kosmopolitischen Verstehens gemacht? Auf nichts Anderes als eine Vereinahmung läuft es hinaus, sie ins nationale Schaufenster zu stellen, wo sie der Tourismusindustrie und der Selbstverklärung Deutschlands als weltoffenes Land zu Diensten sind.

 

Glamour statt Kolonialismusdebatte

Wiederholt beklagten sich die VertreterInnen des Humboldt Forums, nicht „die Wertschätzung der Exponate fremder Kulturen, sondern die hypostasierte Schuld, diese zu besitzen“, stehe gegenwärtig im Mittelpunkt der Debatten. Man solle das Humboldt Forum „nicht den Bedenkenträgern“ überlassen, raunt es aus der konservativen Presse. Statt „freudloser und hyperkorrekter Kolonialismus-Debatten“ sollte doch eigentlich „Glamour und Magie“ angesichts der sensationell schönen Kunstschätze vorherrschen. Solchen aus der Defensive kommenden Formulierungen ist der Unwille anzumerken, zur notwendigen Aufarbeitung des deutschen und europäischen Kolonialerbes beizutragen. Immer wieder nähren auch die in der Sache verantwortlichen Kreise den Zweifel daran, ob sie in der Lage und überhaupt willens sind, der durch die postkoloniale Debatte erwachsenen Herausforderung gerecht zu werden. Wer von der Kolonialgeschichte als „tragische Verbundenheit“ (Hermann Parzinger) zwischen Europa und den Menschen anderer Kontinente schwadroniert, als sei das Ganze eine Naturkatastrophe gewesen, versagt angesichts der globalen postkolonialen Konfliktlagen.

Die wenigen Beispiele verdeutlichen, wie schwer man sich mit dem Kolonialismus-Thema tut, über das der Kulturwissenschaftler Thomas Thiemeyer sagt, es sei mittlerweile massentauglich und national relevant geworden. Was das Humboldt Forum betrifft, so komme ihm ein zentraler Platz in der heutigen deutschen, zunehmend kosmopolitisch und integrativ geprägten Erinnerungskultur mit ihrem exemplarischen Schlachtfeld „Berlin, (Post)Kolonialismus und Museum“ zu. Neben den öffentlichskeitswirksamen Debatten um das Humboldt Forum sieht Thiemeyer drei weitere Gründe für das neuerwachte Interesse: die Transformation Deutschlands hin zum Einwanderungsland; eine sich hierzulande im Wandel befindende Erinnerungskultur und die Diskussionen um Kulturbesitz aus „Unrechtskontexten“, namentlich der Raubkunst aus dem Nationalsozialismus und der Kolonialzeit.

So wie der Kolonialismus eine Chiffre ist, über die größere Themen wie Rassismus oder der Umgang mit dem Fremden verhandelt werden, so ist das Humboldt Forum zu einem symbolischen Ort geworden, der den Anlass bietet, über das Selbstverständnis der bundesdeutschen Gesellschaft als Migrationsgesellschaft nachzudenken. Stimmt man dem zu, geht es um nicht weniger als die Suche nach einer modernen kulturellen Identität und um globale Kulturvielfalt im Zeichen des Postkolonialismus. Nicht zuletzt deshalb sollte, ja muss das Humboldt Forum vor allem auch die MigrantInnen im Lande ansprechen – und in den Gestaltungsprozess einbinden.

Knapp zwei Jahre vor seiner Eröffnung steckt das zu einem zentralen Ort nationaler Staatskultur avancierte Humboldt Forum in der Krise. Dies kann kaum verwundern angesichts des universalen Anspruchs, das Fremde und das Eigene neu verhandeln zu wollen. Unübersehbar ist Deutschlands größte Kulturbaustelle in die Turbulenzen einer postkolonialen Dynamik geraten, die sich hier wie andernorts, ob gewollt oder ungewollt, an der Kolonialvergangenheit abarbeitet.

 

Geteiltes Erbe

Das Berliner Humboldt Forum als der postkoloniale Ort Deutschlands muss auf die im Zuge des Postcolonial Turn aufgeworfenen Grundsatzfragen über rassistisch motivierte Forschungspraxen und den Umgang mit kolonialzeitlichen Museumsbeständen, diesem „heiklen“ und „schwierigen Erbe“, überzeugende Antworten geben. Einstweilen wird viel spekuliert über die tatsächliche Ausgestaltung des geplanten „Universalmuseums“, über das bisher – außer einer gönnerhaften Symbolpolitik – kaum mehr in die Öffentlichkeit gedrungen ist, als dass unter Berufung auf Humboldt europäische und „außereuropäische“ Kulturen miteinander in Verbindung gebracht werden sollen. Herkulesaufgaben sind zu lösen, denkt man etwa an das Versprechen, nur diejenigen „Ethnographica“ im Humboldt Forum auszustellen, deren Herkunft geklärt ist. Selbst BefürworterInnen geben zu bedenken, dass es dann im Schloss ziemlich leer aussehen dürfte.

Nicht so schnell beendet sein werden auch die Auseinandersetzungen um das vielbemühte geteilte Erbe, das den Menschen der Herkunftsländer zur Verfügung steht, im Humboldt Forum lediglich seinen Verwahrungsort hat und als Besitz der ganzen Welt gilt. Das Humboldt Forum als große „Leihbibliothek“ zu verstehen (manche sprechen dagegen von einer großen Fundgrube), ist ein Konstrukt, das kaum auf die Zustimmung aller Beteiligten treffen wird. Die Forderung des Historikers und Museologen Ciraj Rassool aus Kapstadt ließe sich damit nur schwer in Übereinstimmung bringen. Er mahnt einen anderen Blick auf die Sammlungen an: Sie müssten nicht nur „post-kolonial“ ausgerichtet sein, sondern in ihren Strukturen „entkolonisiert“ werden.

Für Unruhe in der Museumswelt sorgte kürzlich die Ankündigung des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Auf einer Afrikareise sagte er Ende November 2017 an der Universität Ouagadougou in Burkina Faso, geraubte Kulturgüter aus Afrika zeitweilig oder endgültig zurückgeben zu wollen. Er sehe das Thema im größeren Rahmen der „kolonialen Vergangenheitsbewältigung“. Ergänzend verlautete aus dem Elysée-Palast: „Das afrikanische Erbe darf kein Gefangener europäischer Museen sein.“ Die Erklärung Macrons ist geradezu revolutionär, da das Prinzip der Unveräußerlichkeit, der Unverjährbarkeit und der Unpfändbarkeit, auf das sich Museen in Frankreich bei Restitutionsforderungen stets beriefen, ernsthaft infrage gestellt wird. In Berlin zog die Rede Macrons – wieder einmal – heftige Streitereien über die „koloniale Amnesie“ nach sich, die den MacherInnen des Humboldt Forums vorgeworfen wird.

 

Radikale Ehrlichkeit vonnöten

In Anbetracht des Dilemmas und der gegenwärtig kaum zu überbrückenden Gegensätze reicht es nicht - und riecht es nach Selbstbeweihräucherung sich liberal gebender Weißer -, das Humboldt Forum als „einen Ort radikaler Toleranz“ (Horst Bredekamp) auszurufen. Mit einer solchen allzu harmlosen Konsensformel ist der Preis für das Humboldt Forum nicht zu begleichen, er wird sehr viel höher ausfallen. Angemessener wäre es, einen Ort radikaler Ehrlichkeit zu fordern. Wenn das Humboldt Forum ein Haus mit experimentellem Charakter werden soll, ein demokratischer und kosmopolitischer Debattenort, dann gilt es die Kontroversen nicht akademisch verpackt im Kleingedruckten der Katalogtexte zu verstecken, sondern sie ohne Abstriche in die Ausstellungskonzeption zu übernehmen. Und dazu gehört nun mal die Kolonial- und Eroberungsgeschichte, von der Deutschland und ganz Europa eingeholt wird. Am Ende der Debatte muss ein verwegener Schritt gemacht werden: Hin zu einer vollständigen Neustrukturierung der Sammlungen im geplanten Humboldt Forum einschließlich derjenigen auf der Museumsinsel. Man wird um einen ein ganz neuartigen Museumsverbund in Kooperation mit den Herkunftsländern der Objekte nicht herumkommen. Von einem „Preußischen Kulturbesitz“ zu sprechen, wird dann nicht mehr zeitgemäß sein. Der Kameruner Politikwissenschaftler und Postkolonialismus-Theoretiker Achille Mbembe spricht von einem „grenzenlosen Zirkulieren von Kunstgegenständen“ und dem Aufbau und Unterhalt von Museen in Afrika, die von den ehemaligen Kolonialmächten zu bezahlen seien.

Was wäre unter (radikaler) Ehrlichkeit zu verstehen? Einen Fingerzeig gab jüngst das nach langen Jahren des Umbaus wieder eröffnete Weltmuseum in Wien, auf dessen Internetseite zu lesen ist: „Jahrzehnte postkolonialer Debatten und Kritiken konfrontierten die Museen mit der Notwendigkeit zu handeln.“ Demzufolge entschied man sich, das europäische - und ziemlich paternalistische - Master-Narrativ, die Welt erklären und deuten zu wollen, für obsolet zu erklären. Es sei gelungen, so hieß es lobend in der Presse, einen kritischen Blick auf die Geschichte des eigenen Hauses und die Geschichte der Ethnologie zu werfen. Angestrebt werde, die Letztgültigkeit beanspruchenden Großerzählungen durch persönliche Stimmen von VertreterInnen der Herkunftsländer und der KuratorInnen zu ersetzen.

Ebenso bemerkenswert ist die Aussage der am Wiener Museum arbeitenden Ethnologin Claudia Augustat. Sie berichtet davon, wie sie 2005 im Auftrag des Museums in Surinam bei den Saamaka, NachfahrInnen entflohener SklavInnen, Schnitzereien, Textilien und Alltagsgegenstände kaufte. Im Rückblick bereue sie den Erwerb der Objekte, die sie kaum beurteilen könne, zu kurz sei der Aufenthalt gewesen. Außerdem hätten die Menschen ihre Objekte nur deshalb so günstig und willig herausgegeben, da sie sonst kaum die Möglichkeiten haben, an Bargeld zu kommen. „Es war ein Verhältnis der Ungleichheit, eigentlich der reine Kolonialismus“, gab sie zu Protokoll. „Ich würde das heute nie wieder machen.“

Eine solche Ehrlichkeit oder ethisch basierte Wissenschaftlichkeit ist auch Berlin zu wünschen. Und sollte eine solche Stellungnahme einer Kuratorin dann auch noch auf den Ausstellungstafeln im Museum auftauchen – was nicht der Fall ist – gesellt sich zur Ehrlichkeit die Transparenz. Sich selbst und die Praxis der Weltaneignung zur Diskussion zu stellen, ist und bleibt unabdingbar für Museumsfachleute. Nur so kann die Institution des Museums zu einer Schnittstelle zwischen aufgearbeiteter Kolonialgeschichte und gelebter Kultur werden, wie es die Kulturhistorikerin Mirjam Brusius formulierte.

 

Joachim Zeller ist Historiker in Berlin. Bei seinem Artikel handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Aufsatzes aus dem Sammelband „Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit“ (herausgegeben von Marianne Bechhaus-Gerst und Joachim Zeller, Metropol-Verlag Berlin, im Druck).