Chinas Sozialkreditsystem. Eine Hinterfragung

„Wieder einmal aufstörende Kunde aus China“, so begann Wolfram Adolphi seinen Beitrag „‚Gelbe Gefahr‘ 4.0“ in der Blättchen-Ausgabe 5/2018 und fuhr fort: „Es solle dort, so ist zu hören und zu lesen, ein bis 2020 alle Einwohnerinnen und Einwohner umfassendes gesellschaftliches Kreditpunktesystem geben. Welches erstellt werde mittels Vernetzung gesammelter Daten. Und zum Ziele habe – so die vorherrschende westliche Interpretation – die Schaffung der angepassten Bürgerin respektive des angepassten Bürgers. Also: Wohlverhalten im Sinne der verkündeten Normen werde mit Punkten belohnt, Fehlverhalten durch Punktabzug geahndet.“
Anschließend tat der Autor durchaus Recht daran, den überwiegend heftigen Kritiken am chinesischen Sozialkreditsystems (SKS) hierzulande den Spiegel vorzuhalten, indem er auf die SCHUFA und andere Beispiele verwies, um zu schlussfolgern: Es sei „doch unübersehbar: Das Sammeln, Verarbeiten und interessengeleitete Nutzen von immer größeren Datenmengen für die mal als Beeinflussung, mal als Manipulation, mal als Erziehung, mal als Zurichtung zu bezeichnende Formung des Menschen ist längst ein globales […] Problem […].“ Und zwar eines, so ist zu ergänzen, das eine starke Tendenz zur Entmündigung des Individuums mit sich bringt.
Im Hinblick auf die westlichen Gesellschaften kommt hinzu, dass der Datenansaug- und -aufbereitungsfuror von Internetkonzernen wie Google, Facebook & Co., die der individuellen Privatsphäre ihrer Nutzer mit Verve das Grab schaufeln, den gläsernen Kunden, respektive Bürger aus dem Reich der Metaphern bereits ein erhebliches Stück in das einer neuen intransparenten Realität befördert haben. Dabei sind die genannten Internetkonzerne nur der wahrnehmbare Teil des Eisbergs. Sehr viel weniger oder kaum bekannt hingegen ist demgegenüber das Wirken solcher klandestinen, auf Schnüffelalgorithmen spezialisierten Datenkraken wie etwa der US-Firma Palantir – der Name ist Tolkiens „Herr der Ringe“ entlehnt und steht dort für eine magische „sehende“ Glas- oder Kristallkugel. „Niemand ist besser als Palantir darin, Daten zu analysieren, Spuren zu folgen, Menschen aufzuspüren. Das sagen jedenfalls die Geheimdienste, für die das Unternehmen arbeitet“, wusste die Wirtschaftswoche im April zu berichten. Die Welt nannte Palantir einen „der wichtigsten Technologiezulieferer der US-Geheimdienste“. In Deutschland arbeitet unter anderem der Staatsschutz in Hessen mit Software von Palantir.
Wolfram Adolphi ist also nicht zu widersprechen, dass das reflexartige Aufrufen des Menetekels China allzu leicht den Blick dafür verstellt oder gar verstellen soll, was im eigenen Hause vor sich geht.
Die Zielstellung von Adolphis Beitrag erscheint gleichwohl fragwürdig: Er wolle „nichts weiter […], als die Verblüffung über die Chinanachrichten zu mildern. Oder das Erbostsein. Oder beides.“ Denn so harmlos, wie die dortige Entwicklung in Adolphis einleitend zitierter Zusammenfassung klingt, ist sie womöglich nicht.
Bis 2020 will die chinesische Führung landesweite, zunehmend automatisierte Digitalsysteme zur Kontrolle und gezielten Beeinflussung des sozialen Verhaltens der gesamten Bevölkerung einführen, will ein flächendeckendes Sozialkreditsystem (SKS) aufbauen, wobei der Begriff Kredit in diesem Kontext nicht primär finanziell zu verstehen ist. Xinyong, das chinesische Wort für Kredit, meint nach alter konfuzianischer Lesart vielmehr das, was bei uns unter Vertrauenswürdigkeit verstanden wird.
Jeder chinesische Bürger soll demzufolge auf der Grundlage seines alltäglichen Verhaltens ein individuelles, zentral verwaltetes Punktekonto erhalten, dem er durch regelkonformes Agieren Pluszähler hinzufügen und dessen Stand er jederzeit über eine Smartphone-App abrufen kann; regelwidrige Aktivitäten werden mit Abzügen geahndet. Neben den Behörden sollen auch Banken und Versicherungen, Arbeitgeber, Vermieter, Einkaufsplattformen, Reiseanbieter, Airlines und andere Interessierte aus der Privatwirtschaft Zugang zu den Bewertungsergebnissen erhalten. Und genau wie bei einer Rating-Agentur haben die Betroffenen auf die Bewertungskriterien – in Medienberichten ist von insgesamt knapp 3000 die Rede, zusammengestellt von fast 100 Regierungsstellen – ebenso wenig Einfluss wie auf verhängte Sanktionen. Beide Bereiche werden nach Vorgaben des chinesischen Machtapparates strukturiert und ausgestaltet.
Wenn hiesige Medien mit konkreten Darstellungen aufwarten, dann sind die genannten Beispiele bisweilen reichlich banal: „Wer zum Beispiel über das Internet gesunde Babynahrung bestellt“, so hieß es in einem Beitrag der Zeit, „soll Pluspunkte erhalten. Wer sich hingegen Pornos ansieht oder zu viel Zeit mit Computerspielen verbringt, muss mit Abzügen rechnen.“ Solche Exempel kaschieren eher, wie komplex das angestrebte Spektrum der Bewertung des Verhaltens der Bürger sein soll: Einkaufsverhalten und Zahlungsmoral sollen ebenso einbezogen werden wie Strafregister, digitale Surf- und Kommunikationsgewohnheiten sowie -vorlieben und das Sozialverhalten im Allgemeinen. Dazu sollen sämtliche relevanten staatlichen und privatwirtschaftlichen Datenbanksysteme des Landes miteinander vernetzt werden.
Entscheidende Voraussetzungen dafür existieren nach Auffassung von Experten bereits:

  • Das chinesische Internet ist vom World Wide Web weitgehend entkoppelt und wird daher nicht von amerikanischen High-Tech-Giganten dominiert, sondern von nationalen.
  • Bereits Ende 2015 gab es 1,3 Milliarden Handynutzer in China (theoretisch hatte also praktisch jeder Einwohner vom Säugling an eines), von denen 95 Prozent auch oder sogar vorwiegend mobil online unterwegs sind. Die stellen damit – nolens volens – neben ihren individuellen Bewegungsprofilen auch laufend digitale Informationen über sich und ihr Verhalten zur Verfügung.
  • Die Chinesen sind in überaus starkem Maße in sozialen Netzwerken und im Nutzen von Messengerdiensten aktiv; allein auf WeChat („winzige Nachricht“) sollen 46 Prozent der Bevölkerung des Landes zurückgreifen; für vergleichbare Dienste wie Ozone, Youko oder Sina Weibo werden immerhin auch noch jeweils über 30 Prozent genannt.
  • Im Alltagsleben der Chinesen boomt digitales Bezahlen außerordentlich stark, häufig abgewickelt über Smartphones; bereits 2016 wurden Transaktionen im Umfang von umgerechnet 2,4 Billionen Euro abgewickelt.
  • Allein Alibaba, eine der drei größten chinesischen Internetfirmen, hat nur mit seinen Handelsplattformen Taobao und Tmall bereits die Daten von etwa 800 Millionen Nutzern eingesammelt. Sich staatlichem Zugriff darauf ernsthaft zu entziehen, haben chinesische Unternehmen kaum.
  • Nirgendwo im Lande macht sich auch nur ansatzweise Kritik an oder gar spürbarer Widerstand gegen die partei- und staatsoffiziellen SKS-Planungen und -aktivitäten bemerkbar…

Vorhandene Datenerfassungs- und -banksysteme sollen überdies durch neue Techniken ergänzt werden. Mit großer Intensität wird etwa an digitaler Gesichtserkennungstechnik gearbeitet, um über die Koppelung mit stationären und mobilen Überwachungskameras künftig weiteres Sozialverhalten der Bürger, ja gegebenenfalls selbst das Überqueren von Straßen bei Ampelschaltung Rot in das System einspeisen zu können. (Zum Entwicklungsstand dieser Technik: Im Frühjahr 2018 nahm die Polizei einen zur Fahndung ausgeschriebenen Verdächtigen fest, den sie zuvor mit Gesichtserkennungssoftware der Firma Yitu Technology identifiziert hatte – unter den fünfzigtausend Teilnehmern eines Popkonzerts.)
Von der in China mit großer Intensität vorangetriebenen Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz werden in absehbarer Zeit weitere Entwicklungssprünge vor allem hinsichtlich der Aufbereitung und Nutzbarmachung der gesammelten Bürgerdaten erwartet.
In der Konsequenz geht es um nicht weniger als die umfassende Bewertung der gesellschaftlichen Vertrauenswürdigkeit jedes Einzelnen in politischer, moralischer, finanzieller und anderer Hinsicht.
All dies soll die Grundlagen dafür liefern, die Bevölkerung mit einem abgestimmten Spektrum von Boni und Mali zu konditionieren – nach dem klassischen Grundsatz von Zuckerbrot und Peitsche:

  • Wer seinen Punktestand erhöht – etwa durch besondere berufliche Leistungen oder durch gesellschaftliches Engagement entsprechend der Erwartungen der chinesischen Kommunistischen Partei (KP) – und kontinuierlich auf hohem Level hält, der soll zur Belohnung vergünstigte Finanzkredite oder eine bessere Krankenversicherung erhalten; dessen Kinder könnten bei der Vergabe von Studienplätzen bevorzugt werden. Sicherheitskontrollen an Flughäfen sollen einfacher zu passieren sein …
  • Wessen Punktestand hingegen absackt, weil er etwa an Demonstrationen teilnimmt oder allein mit dem Auto statt mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, hat unterhalb bestimmter Schwellenwerte mit Strafen zu rechnen. Um welche Dimensionen es dabei geht, verdeutlicht allein der Sachverhalt, dass sich im April 2018 über 10 Millionen Chinesen wegen mangelnder Zahlungsmoral auf einer von Gerichts wegen publizierten Schwarzen Liste wiederfanden und daher nicht mehr einschränkungsfrei Tickets für Flüge oder Hochgeschwindigkeitszüge erwerben konnten. Laut Medienberichten werden auch Einschränkungen bei Immobilienerwerb, Schulanmeldungen und Nutzung von Autobahnen erprobt.

Nachdem Vorarbeiten bereits eine Reihe von Jahren liefen, wurde die Schaffung des hier skizzierten Sozialkreditsystems durch eine Verfügung des Staatsrates der VR China im Jahre 2014 offiziell in Gang gesetzt. In jenem Jahr erhielten darüber hinaus acht Privatunternehmen die Genehmigung und den Auftrag, eigene digitale Bewertungssysteme mit dem Ziel automatisierter Punktegenerierung für Einzelpersonen zu entwickeln. Zugleich wurden zwölf Städte ausgewiesen, in denen praktische Modellversuche anliefen. Eine davon ist die Küstenstadt Rongcheng mit knapp 700.000 Einwohnern. Dort erhält, wer sich regelmäßig auf der Website der Renmin Ribao (Volkszeitung), des Parteiorgans der KP, einloggt, zusätzliche Bonuspunkte. Weitere Details können unter anderem in einem Feature von Deutschlandradio Kultur vom September 2017 nachgelesen werden. (Zum Text hier klicken.)
Nach offizieller Lesart ist das Projekt des Sozialkreditsystems darauf angelegt, Chinas Bürger zu moralisch besseren Menschen zu machen – mit dem Ziel, jene „Sozialistische Harmonische Gesellschaft“ aufzubauen, zu der der damalige Partei- und Staatschef Hu Jintao schon im Jahre 2005 ausgeführt hatte, sie sei „demokratisch, fair und gerecht, voller Vertrauen und Freundschaft, hält sich an Gesetze, ist vital, stabil, ordentlich und sorgt für den Ausgleich zwischen Mensch und Natur“, und die sich auch Hus Nachfolger Xi Jinping auf die Fahnen geschrieben hat. Kritiker wie der Schriftsteller Murong Xuecun haben an diesem Konzept grundsätzliche Zweifel, denn es ziele auf „eine strenge Ordnung, in der nur eine Stimme zugelassen ist und keine Opposition“.
Hinter dem Schleier der Parteirhetorik reagiert Chinas Führung mit diesem Projekt zweifelsohne zuvorderst auch auf die destabilisierenden Entwicklungstendenzen im Gefolge des turbokapitalistischen Aufschwungs der vergangenen Jahrzehnte, der zu immensen sozialen Verwerfungen, Nepotismus und massenhafter Korruption, gigantischen Umweltproblemen und anderen gravierenden negativen Begleiterscheinungen geführt hat. Ausdruck dieser Tendenzen sind lawinenartig angeschwollene Massenzwischenfälle – so der chinesische, wenn auch nicht genau definierte Begriff – im Lande. Waren es 1994 noch 8700, finden sich für 2014, also für das Startjahr des SKS-Projektes, Angaben von bis zu 90.000; Tendenz steigend.
Fazit: Augenscheinlich strebt die chinesische Führung mit dem SKS-Projekt ein neues Level an Kontrolle, Überwachung und gezielter Beeinflussung des Verhaltens der Bevölkerung an – ein sich, wenn man es zu Ende denkt, selbst regulierendes System, in dem die Herrschaft der Kommunistischen Partei, die natürlich weiterhin an den Schalthebeln sitzt, durch eine Art Selbstkontrolle der Gesellschaft „verschwunden“ zu sein scheinen würde: Im Idealfall kontrollierte dann jeder sich selbst und arbeitete im Übrigen an seinem Punktstand.
Ein solches System wäre viel effektiver als etwa Orwells Big Brother, dem – in einer Mangelgesellschaft – außer Peitsche nichts einfiel und der deshalb ständig Insubordination und Widerstand gewärtigen musste. Im chinesischen Sozialkreditsystem hingegen sorgen materielle und sonstige Boni und Segnungen auf der Basis des dortigen prosperierenden kapitalistischen Wohlstandes dafür, dass die Peitsche ein völlig anderes Image erhält – nämlich das des fairen Anreizes, der motivieren soll. Das dürfte auch einer der Gründe dafür sein, dass die chinesische Führung mit ihrem Sozialkreditsystem bisher nahezu keine gesellschaftlichen Abwehrreaktionen provoziert hat.

P.S.: Dieser Tage verkündete die Schriftstellerin Thea Dorn öffentlich: „Sollte bei uns ein digitaler Totalitarismus drohen, wie ihn die Chinesen munter installieren, dann garantiere ich […]: Da bin ich auf den Barrikaden.“ Wenn dieser „Totalitarismus“ allerdings ebenso smart daherkäme wie derzeit in China, dann stände die Kombattantin dort oben womöglich sehr allein auf weiter Flur …