Wehrpaßverbrennung

Eine fast vergessene Aktion

Es ist nicht mehr gewiß, daß es bei der „Aussetzung“ der Wehrpflicht bleiben wird: Rekrutierungsprobleme der Bundeswehr und zunehmende internationale Spannungen könnten uns mit Problemen konfrontieren, die wir seit Jahren nicht mehr hatten. Für Frankreich wurde von Coastliner in der GWR 419 (Mai 2017) „Eine Renaissance des Kriegsdienstzwangs“ vorhergesagt. Tatsächlich hat Macron jetzt die Einführung eines „service national universel“ für Anfang 2019 angekündigt. Deshalb ist eine Erinnerung an Konflikte und Aktionen sinnvoll, an denen GraswurzelrevolutionärInnen und andere AntimilitaristInnen früher beteiligt waren. Das mag sogar Widerstand vorbereiten oder eine abschreckende Wirkung haben, wenn Zwangsdienste wieder ins staatliche Kalkül geraten. Vor 40 Jahren haben einige von uns ihre Wehrpässe öffentlich verbrannt. (GWR-Red.)

 

„Niemand kann uns zum Kriegsdienst zwingen. Es hat Kriegsdienstverweigerung gegeben schon lange bevor es Gesetze über Kriegsdienstverweigerung gab! Es wird Kriegsdienstverweigerung geben ohne und gegen alle staatlichen Gesetze! Gesetze können gemacht, ausgehöhlt, verändert und abgeschafft werden – uns kann niemand zum Töten ausbilden!“ (1)

 

Am 14. April 1978 verbrannten auf dem Göttinger Marktplatz 14 Kriegsdienstgegner ihre Wehrpässe, etwa die Hälfte kamen aus der Gewaltfreien Aktionsgruppe, mitgetragen und unterstützt wurde die Aktion von der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner, den Evangelischen und Katholischen Studentengemeinden, Frauenzentrum und Frauenhaus Göttingen, dem Sozialistischen Büro, den Jungsozialisten und Zivildienstleistenden der Göttinger Selbstorganisation der ZDL. (2) Die Kundgebung war angemeldet, die Aktion öffentlich angekündigt, der NDR hatte über den Plan berichtet, deshalb kamen zu den Unterzeichnern des Flugblatts noch drei Leute hinzu, die ebenfalls ihre Wehrpässe verbrannten. Nachdem Borcherts berühmter Text „Sag‘ Nein“ verlesen worden war, wurden von den Teilnehmenden Passagen des Flugblatts vorgetragen, dann jeweils ein Wehrpaß angezündet. Während so ein Wehrpaß nach dem anderen brannte, wurden weitere Texte verlesen, darunter einer über Wehrpaßverbrennungen in den USA im Kampf gegen den Vietnamkrieg und ein Auszug aus Thoreaus „Über die Pflicht zum Ungehorsam“. Etwa 200 Leute hörten zu und klatschten. (3) Auch in anderen Städten hatten ähnliche Bündnisse zu Wehrpaßverbrennungen aufgerufen, in Köln brannten 18, in München 15 Wehrpässe, bundesweit wurden etwa 150 Wehrpässe zerstört. In Kassel versuchte die Polizei die Aktion zu verhindern und nahm vier Kriegsgegner fest, die erkennungsdienstlich behandelt und wegen Sachbeschädigung und versuchter Urkundenvernichtung verhört wurden. (4)

Insgesamt gab es Protestaktionen in 130 und Wehrpaßverbrennungen in mindestens 12 Städten. (5)

Es wurden auch verschiedene Erklärungen zur Verweigerung oder die Asche von Wehrpässen an das Bundesverfassungsgericht oder das Bundesministerium der Verteidigung geschickt, alles dokumentiert in der Graswurzelrevolution 36/37.

 

Anlaß und Hintergründe

 

„Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ So hieß der immer wieder zitierte Artikel 4,3 des Grundgesetzes.

„Dieser Satz hat bisher nicht verhindern können, daß Kriegsdienstverweigerer in deutschen Gefängnissen und Arrestzellen der Bundeswehr einsaßen und einsitzen. Er hat nicht verhindert, daß dutzende nicht anerkannter Verweigerer von der Bundeswehr in den Selbstmord getrieben wurden und werden. Das unwürdige Prüfungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer nimmt das ‚tolerante‘ Versprechen des Grundgesetzes faktisch zurück – der Staat sichert den Personalbedarf der Armee durch die Senkung der Anerkennungsquote für Gewissensentscheidungen.“ (6)

Heute werden die Jahre der sozialliberalen Koalition gerne als eine Reformphase gewertet, „mehr Demokratie wagen“ sei nach Willy Brandts Regierungserklärung 1969 das Leitmotiv gewesen. Dabei gab es durchaus ganz andere Seiten, die ebenso durch die Protestbewegungen „angeregt“ worden waren: Berufsverbote, die Politik der „Inneren Sicherheit“ und eine sozialdemokratische Verteidigungspolitik von Georg Leber und Helmut Schmidt, die Abschreckung durch garantierte gegenseitige Vernichtung und Verteidigung durch Kriegsführungsfähigkeit im Bündnis zu zentralen Inhalten machten. Viele Reformen hatten auch einen technokratischen Charakter, sie sollten etwa „Bildungsreserven“ erschließen, damit die deutsche Wirtschaft gestärkt würde.

So war auch die Stellung zur Kriegsdienstverweigerung und zum Zivildienst immer umstritten, zwischen Staatsräson und Verwaltungsinteressen einerseits und antimilitaristischen Positionen und Verteidigung individueller Grundrechte andererseits.

Das ungeliebte und zunächst weithin unbekannte Grundrecht, Kriegsdienste zu verweigern, war von Beginn an durch abschreckende Verfahren ausgehöhlt worden und militärischen Interessen zugeordnet:

Zuständig für die Anerkennung war das Kreiswehrersatzamt, dem ein Lebenslauf, schriftliche Begründung, möglichst noch Gutachten von Zeugen eingereicht werden mußten, dann folgten mündliche Verhandlungen, die der „Gewissensprüfung“ dienten vor Prüfungsausschuss und Prüfungskammer, die dem Verteidigungsministerium unterstanden und von einem Juristen dieses Ministeriums geleitet wurden. Dieser war formal nicht stimmberechtigt, beeinflusste aber in der Regel das Urteil der drei Beisitzer, die zu entscheiden hatten, etwa durch rechtliche Hinweise oder Zusammenfassung der gewonnenen Eindrücke. Nach den Ergebnissen dieser Instanzen konnte vor den Verwaltungsgerichten geklagt werden. Klar, daß dieses Verfahren abschrecken sollte.

Der zivile Ersatzdienst zeigte zudem nicht selten paramilitärische Züge: geschlossene Unterbringung, Weckappelle, Stuben- und Spindordnungen, an die Bundeswehr angelehnte Disziplinarordnungen, besonders wenn der Staat und nicht die Wohlfahrtsverbände Träger der Einrichtungen waren. (7) Die Arbeiten, zu denen die Dienstleistenden eingezogen wurden, waren „klassische Frauenarbeiten“, etwa im Zusammenhang von Pflegediensten („Pisspottschwenker“), die also als „unmännlich“ und selbst diskriminierend galten.

So waren es zunächst auch überwiegend religiös motivierte Männer, die das Tötungsverbot für sich verbindlich machten. Ende der 1960er Jahre veränderte sich das: Die Motive der Verweigerer waren stärker moralisch, politisch, auch gegen die Disziplin, den Drill, die Persönlichkeit zerstörende Befehl-Gehorsam-Unterordnung gerichtet. 1968 lehnten mehr junge Männer als je zuvor in der Bundesrepublik den Kriegsdienst ab und verweigerten: 11.000. Gegenüber 1967 verdoppelte sich die Zahl der Antragsteller, die Zahl der Soldaten darunter stieg von 871 auf 3495. In diesem einen Jahr haben mehr Soldaten verweigert als in der gesamten Bundeswehr-Zeit zuvor. (8)

 

Wie so oft war die Antwort repressiv:

 

Der seit 1966 gültige Erlaß, dass verweigernde Soldaten vom Dienst an der Waffe befreit waren und zu beurlauben seien, wurde kassiert. Man sah die Funktionsfähigkeit der Armee gefährdet, ganze Kompanien könnten lahmgelegt werden, wenn wichtige Funktionsträger verweigerten.

In der Bundeswehr wie in den Zivildienststellen war die außerparlamentarische Opposition angekommen, oft mit provozierenden und subversiven Taktiken, die entlarven sollten, politisieren wollten, störten.

Dagegen entwickelten Politiker immer wieder Pläne, den „Ersatzdienst“ nicht, wie von kirchlichen Kreisen und Pazifisten gewünscht, zu einem „Friedensdienst“ auszugestalten, sondern ihn - besonders für die renitenten Verweigerer - Richtung Arbeitsdienst fortzuentwickeln: uniformiert, kaserniert, diszipliniert. Eingesetzt beim Deichbau, in der Land-und Forstwirtschaft.

Von Januar bis März 1970 gab es wegen des „Lagers Schwarmstedt“ am Rand der Lüneburger Heide den ersten bundesweiten Streik von Zivildienstleistenden, etwa 600 ZDLer streikten in 50 Dienststellen. Besonders die staatliche Reaktion: Streichung der Bezüge, der Heilfürsorge, der Verpflegung und schließlich sogar die Sperrung von Strom, Wasser und Heizung führten zu einer breiten Solidarisierung etwa der Gewerkschaften. (9)

Ebenso wurden auch „Vergünstigungen“ innerhalb des Zivildienstes beseitigt und schärfere Disziplinarmaßnahmen durchgesetzt, und diese Politik setzte sich über die Große Koalition hinaus in der sozialliberalen Koalition fort. 1971 beklagte Willy Brandt vor dem Bundestag „die innere Abwendung eines Teils der heranwachsenden Generation von den Pflichten, die ihnen von Staat und Gesellschaft abverlangt werden“. (10)

Zu den repressiven Folgen der wachsenden Kriegsdienstverweigerungen gehörten dann schnell sinkende Anerkennungsquoten: Waren 1967 noch 87,2 % der Anträge erfolgreich, sank die Zahl bis 1973 auf 66,4%.

Die Ungerechtigkeiten des Anerkennungsverfahrens, besonders verschärft, wenn zur Armee eingezogene Kriegsdienstverweigerer vor die Wahl gestellt waren, „konsequent“ zu bleiben und bestraft zu werden oder Kompromisse mit dem Dienst zu machen und das als Beleg vorgehalten zu bekommen, dass sie ja durchaus dienen könnten, also gar keine „echte“ Gewissensentscheidung vorliege, hatten eine jahrelange öffentliche Diskussion bewirkt, ob eine „Gewissensprüfung“ möglich sei, ob sie nicht sprachlich weniger gewandte Verweigerer benachteilige und mehr und mehr zu einer Karikatur werde, bei der gut vorbereitete Verweigerer eher eine Chance hatten und je nach Bezirk des Kreiswehrersatzamtes und politischer Haltung auch der Beisitzer die Anerkennungsquoten höchst unterschiedlich ausfielen. Kurz: die Legitimationskrise des Anerkennungsverfahrens war unübersehbar.

„Die Verfahren machen das selbst, daß der arme Mann ihnen feind wird“: Folge war tatsächlich eine zunehmende Staatsferne der Verweigerer und radikale Kritik eines militarisierten Staates, der das Grundrecht an Erfordernisse der „Verteidigung“ jeweils anpasst. Es war aber nicht nur diese „ideologische“ Gefahr, sondern vor allem der Wunsch, Staat und Verwaltung von zahlreichen politischen und in viele Dienststellen eindringende Konflikte und Probleme zu entlasten, der – auch jenseits der linksliberalen und kirchlichen Kritik – eine technokratische Reform verlangte.

Deshalb strebten die sozialliberalen Regierungen eine Abschaffung des Verfahrens an, der Zivildienst wurde gegenüber der Pflichtzeit bei der Bundeswehr (15 Monate) auf 18 Monate verlängert und andere Verschlechterungen des Zivildienstes diskutiert, die abschreckend wirken sollten: „heimatferne Einberufung, Wegfall der Möglichkeit, sich den Zivildienstplatz selbst auszusuchen, Abbau der Heimatschlaferlaubnis, Kasernierung, Einsatz von ZDLern im Katastrophen- und Zivilschutz, bei der Feuerwehr, im ‚Umweltschutz‘“ (11) – und mit Umweltschutz konnten Waldarbeiten, Deichbau u.ä. gemeint sein. Zuletzt hatte sich der Kampf gegen die Pläne des Bundesamtes für Zivildienst vor allem gegen das „Vinkehof“-Projekt gerichtet. Im Januar 1978 hatte es eine bundesweite Aktionswoche gegeben, am 27.1. einen 24stündigen ZDL-Streik und einen Hungerstreik von 14 ZDL-Einberufenen in der Zivildienstschule Staffelstein. Das BAZ beantwortete die Aktionen mit Disziplinarverfahren. (12)

Die sozialliberale Koalition hatte im Sommer 1977 ein Gesetz verabschiedet, das die Gewissensprüfung für ungediente Wehrpflichtige, die den Kriegsdienst verweigern wollten, aussetzte. Eine Verfassungsklage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und der Landesregierungen von Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz führte dazu, daß das Bundesverfassungsgericht die Novelle außer Kraft gesetzt hatte, die endgültige Entscheidung wurde für den 13. April 1978 erwartet. Es war zu befürchten, daß der Verzicht auf eine „Gewissensprüfung“ als verfassungswidrig erklärt werden würde, dagegen wollten die Kriegsdienstgegner „ein Zeichen unserer Nichtunterordnung und Nichtzusammenarbeit mit dem ganzen System des Militarismus“ (13) setzen.

 

Der Plan

 

Der Gedanke wurde zuerst bei einem Regionaltreffen der Graswurzelbewegung Südniedersachsen entwickelt, dann am 8./9. März 1978 vom Werkstattbeirat, dem damaligen Koordinationsgremium der Graswurzelbewegung, aufgenommen und an alle in Frage kommenden Organisationen und Zeitschriften versandt:

Am Tag nach der Verkündigung eines negativen Entscheids des Verfassungsgerichts sollten in möglichst vielen Orten öffentlich Wehrpässe verbrannt werden. Anerkannte Kriegsdienstverweigerer, die ihre Wehrpässe verbrennen, demonstrierten, daß sogar die anerkannten KDVer „durch den Besitz des Wehrpasses noch in die ganze Maschinerie einbezogen sind. Die geplanten Veränderungen im Zivildienst (Kasernierung) können noch einmal dargestellt und kritisiert werden. Es kann deutlich gemacht werden, daß Kriegsdienstverweigerung tatsächlich einen völligen Bruch mit der ganzen Ideologie der Abschreckung, des Wettrüstens usw. bedeutet ...“ (14)

Die Aktionen sollten so angelegt sein, daß Kundgebungen auf belebten Plätzen oder vor dem Kreiswehrersatzamt stattfinden sollten, möglichst auch weitere Veranstaltungen. Es werde nicht darum gehen, möglichst viele Wehrpässe zu verbrennen, allerdings sollten es fünf pro Ort schon sein, sondern Aufmerksamkeit für unsere Argumente zu erzielen und eine neue Dynamik des Kampfes gegen die „Gewissensprüfungen“ zu erzielen. Deshalb sollte nicht anonym agiert, sondern mögliche Repressalien würden mit einer Eskalationsstrategie beantwortet werden: Spätere Wehrpaßverbrennungen anlässlich von Prozessen, möglichst in wachsenden Zahlen. Als mögliche strafrechtliche Konsequenzen drohten Verfahren wegen „Verunglimpfung staatlicher Symbole“ oder ähnlichen Gummiparagraphen; allein der Verlust von Urkunden wie dem Wehrpaß konnte eine Geldstrafe nach sich ziehen.

Der Aufruf erfolgte relativ kurzfristig; es konnte aber angekündigt werden, daß in Hannover und Göttingen auf jeden Fall solche Aktionen stattfinden würden. In Köln wurde eine Koordinationsstelle (15) eingerichtet, die abgestimmte Erklärungen und die anfallenden Vorbereitungen koordinieren sollte.

In Göttingen wurde bei einem „Alternativplenum“ der undogmatischen Linken am 3. April nicht nur über den Stromzahlungsboykott und Aktionen gegen eine NPD-Kundgebung am 15.4. diskutiert, sondern auch die Wehrpaßverbrennung vorgeschlagen. (16) Die GA Göttingen hätte gerne ein „Plenum Ziviler Ungehorsam“ als längerfristiges Bündnis mit allen gewaltablehnenden Linken aufgebaut. Es gab dann mehrere Vorbereitungstreffen: Die Kundgebung wurde beim Ordnungsamt angemeldet und sogar eine Fackel genehmigt. Durch die öffentliche Ankündigung brachte der NDR mehrmals Hinweise und zur Aktion kamen ReporterInnen auch von überregionalen Medien (dpa, Tagesschau, Welt).

 

Das Urteil

 

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem sehr umstrittenen Urteil (17) gerügt, daß der Bundesrat nicht beteiligt wurde, vor allem aber eine „Wahlfreiheit“ zwischen Bundeswehr und Zivildienst verworfen: Kriegsdienst ist die Regel, ein Ersatzdienst die Ausnahme. Die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr darf nicht eingeschränkt werden. (18)

Geradezu drohend heißt es etwa: „Der Kerngehalt des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 GG besteht darin, den Kriegsdienstverweigerer vor dem Zwang zu bewahren, in einer Kriegshandlung einen anderen töten zu müssen, wenn ihm sein Gewissen eine Tötung ausnahmslos zwingend verbietet.

Die Ableistung von Wehrdienst außerhalb dieser Zwangslage und ihres unmittelbaren Zusammenhangs, insbesondere die Leistung von Wehrdienst in Friedenszeiten, fällt nicht schlechthin in den Kernbereich des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 GG. Das Grundgesetz gibt indes durch die in Art. 12a Abs. 2 GG erteilte Ermächtigung, auf gesetzlichem Wege eine Ersatzdienstpflicht einzuführen, zu erkennen, daß es denjenigen, der den Kriegsdienst mit der Waffe aus Gewissensgründen verweigert, auch außerhalb des von Art. 4 Abs. 3 GG geschützten Kernbereichs, mithin grundsätzlich auch in Friedenszeiten, nicht zum Dienst mit der Waffe herangezogen wissen will.“ Da klingt ein „Wir können auch anders“ durch!

Und es müssen Gewissensgründe glaubhaft gemacht werden. Das geschieht nicht durch eine „Postkarte“, die das nur behauptet. Dennoch hat der Gesetzgeber reichlich Spielräume, wie er das Vorliegen von Gewissensgründen beglaubigt.

Verkürzt gesagt: Allenfalls könnte ein Ersatzdienst so ausgestaltet werden, daß ihn nur wahrnimmt, wer tatsächlich ernste Gewissensgründe hat.

„Deshalb verbrennen wir unsere Wehrpässe zum Zeichen unseres Bruches mit der Politik der Rüstung und des Militärs. Wir wollen nicht eine Tötungsmaschinerie antreiben, sondern Möglichkeiten entwickeln, den Menschen von seiner Unterdrückung und seinen Ängsten zu befreien. In diesem Kampf sind wir ein Teil der Internationale der Kriegsdienstgegner. ‚Der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Wir sind daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und für die Beseitigung aller seiner Ursachen zu kämpfen.‘ Diese Selbstverpflichtung der War Resisters‘ International (…) hat für uns mehr Verbindlichkeit als Gesetze der Bundesrepublik Deutschland oder irgendeines anderen Staates. Allzu leicht wird Zwangsarbeit und Krieg zum Gesetz des Staates; wir sind aber dem Gesetz der Menschen verpflichtet: Freiheit und gegenseitige Hilfe!“ (19)

„Wir fordern damit alle Gegner von Arbeitsdienst und Krieg auf: Entwickelt den zivilen Ungehorsam, leistet durch direkte Aktionen gewaltfreien Widerstand.“ (20)

Die BVG-Entscheidung wurde auch als Beweggrund begriffen, sich der Erfassung, Musterung und der Teilnahme an den Prüfungsverfahren zu verweigern und war somit eine Grundlage für zunehmende Fälle von „Totalverweigerung“; Anfang Mai erschien auch das Buch dazu: Dokumente zum Widerstand gegen die Wehrpflicht.

 

Ein Strohfeuer? (21)

 

Die Aktion erhielt eine Antwort von unerwarteter Stelle: In den Tagesthemen kommentierte Friedrich Nowottny: „Bücherverbrennungen – und seien es nur Wehrpässe – sind in Deutschland schon immer der Beginn einer unheilvollen Entwicklung gewesen!“ (22)

Eine perfidere Verdrehung wird man schwerlich ersinnen können (und deshalb habe ich auch aus den Flugblättern so viel zitiert, die antifaschistisch, transnational und gegen den Kadavergehorsam argumentiert hatten). Was sind dagegen manche „Fake News“ von heute, der Altmeister wußte schon, wie es geht. 1979 erhielt er das Bundesverdienstkreuz am Bande, 1986 das Große Bundesverdienstkreuz, zahlreiche weitere Preise, Orden, Ehrungen, seit 1985 war er Intendant des WDR. Bis heute feiert das Netz seine „feinsinnigen Kommentare“.(23)

Das Irre solcher Medienmacht ist übrigens, daß sie nicht ohne Wirkung bleibt. Wenn wir in den Tagen danach Leute auf diese Gemeinheit ansprachen, konnte es durchaus sein, daß dann ein „Na ja, irgendwie ...“-Verunsicherungs-Einwand kam. Als würde man sich mit der Lektüre des Wehrpasses weiterbilden, als würde nun ausgerechnet dieser den „zersetzenden Ungeist“ symbolisieren, den die Nazis „dem Feuer übergeben“ wollten … Als wäre es nicht der Unterschied ums Ganze ob der Wehrpaß brennt oder zuerst die Bücher, dann die Menschen!

Erwartbar waren da schon die Angriffe der „Welt“, die von einem „Volksfront“-Flugblatt sprach und uns wie üblich verdächtigte, Kriege sozialistischer Staaten weniger verwerflich zu finden.

Übrigens war ja die Aktion stark an den Aktivitäten der amerikanischen Vietnamkriegsopposition orientiert, die Wehrpässe, Einberufungsbefehle und ähnliche Dokumente brennen ließ („Hell no – we won‘t go! We won‘t die for Texaco!“) und über die wir gut informiert waren. Diese Aktionen, etwa auch der Berrigans, gehören zur Vorgeschichte der Wehrpaßverbrennungen und sind ein Beispiel für die transnationale Vorbild- und Resonanz-Wirkung auch von direkten Aktionen. Neben dem Beispiel USA gab es die 1974 gegründete europäische Kampagne International Collective Resistance, die sich ebenfalls „gegen den waffenlosen Kriegsdienst (Ersatzdienst)“ richtete und Militärpapiere verbrannt hatte. (24)

Man wird vermuten dürfen, daß die breite Ablehnung des Urteils und dessen Begründung im sozialliberalen Milieu (Verfassungsrichter Hirsch hatte in einem Minderheitenvotum widersprochen und die politisch reaktionäre Staatsräson angesprochen) (25) dazu führte, daß eine Eskalation der Proteste vermieden werden sollte und sich die Staatsanwaltschaften eher für Totschweigen entschieden: Es gab Bußgeldbescheide, weil die Aktivisten gegen die Vorschrift verstoßen hatten, die Dokumente „sorgfältig aufzubewahren“. „Die Militärbehörden haben also die schwächste Reaktion gezeigt, die ihnen möglich war. Man kann das fast nicht mehr als Repression bezeichnen.“ (26) Deshalb das Plädoyer, sich nicht in der Haltung des standhaften Märtyrers zu sonnen oder die reale Wirkung der Aktion zu überschätzen. Eine antimilitaristische Offensive müsse von dem Potential der sprunghaft gestiegenen Verweigerer-Zahlen und der Radikalisierung und Aktivierung der Zivildienstleistenden ausgehen, die schon mehrfach gestreikt hatten. Aber auch aus der sich verbreiternden Bewegung gegen die „zivile Nutzung“ der Atomenergie könne ein „Bewußtseinsschub“ kommen, die „ursprüngliche Atomenergie-Nutzung“ als Drohung wieder verstärkt wahrzunehmen. Wir dürften uns nicht als „unverwüstliche Kämpfer einer Subkultur“ profilieren, die nur für jugendliche intellektuelle Milieus attraktiv ist. Hier kündigt sich die Orientierung auf die Massenbewegungen gegen AKWs und die mit der Diskussion über die Neutronenbombe sich verstärkende antimilitaristische Protestkultur an, die eben aus dem „Ghetto“ herausführen könnte; auch dafür sollten die eventuell zu erwartenden Verfahren genutzt werden: Heraus aus der Defensive!

Was dabei vielleicht nicht richtig gesehen wurde, ist einmal die Individualisierungs-Wirkung von Bußgeld-Bescheiden usw.: Die Frage ist immer, ob man sich wegen relativ geringer Geldstrafen und einer ungewissen politischen Wirkung einer erst einmal durch Einsprüche und anwaltliche Beratung zu erzwingenden Gerichtsverhandlung ein jahrelanges Verfahren durch alle Instanzen zumuten will. Diese Frage wird je nach Lebenslage und persönlichen Einstellungen unterschiedlich beantwortet. Vor allem läßt sich aber die Kollektivität der ursprünglichen Aktion nicht über die Dauer solcher Verfahren aufrechterhalten; diese Verfahren lassen den Protest auf kleiner Flamme köcheln.

Andere Bewegungen und Anlässe für Protest und Widerstand sollten sich schnell als auch für die Entscheidungen der Einzelnen wichtiger erweisen:

In den einzelnen Städten waren eine Vielzahl von Themen und Konflikten aktuell (in Göttingen etwa der „Mescalero“-Prozess); wenn man die alten Ausgaben der GWR durchsieht, bekommt man einen guten Eindruck davon.

Im Frühsommer 1978 wurde für den 3. Internationalen Gewaltlosen Marsch für Entmilitarisierung mobilisiert, der vom 16. bis 23. Juli in Katalonien stattfand. Der Stromzahlungsboykott begann am 30. Juni und der Beginn der Gorleben-Aktivitäten (Gorleben-Aktionstag am 30. Juni 1978 „Wiederaufforstung statt Wiederaufbereitung“) banden Kräfte, die bei der Wehrpaßverbrennung aktiv gewesen waren.

Auch die offizielle Politik veränderte sich: Im Zivildienst wurde seit Ende der 70er Jahre nicht mehr ein Repressionsinstrument gesehen, mit dem die Zahl der Verweigerer klein gehalten werden sollte – dies hatte sich nicht durchsetzen lassen. Vielmehr wurde nun der Zivildienst zu einem wichtigen Bereich der Sozialpolitik, auch der Arbeitsmarktpolitik. Und Zivildienstleistende hörten auch durch ihr vielfältiges und nützliches Engagement auf, Drückeberger zu sein, sondern brachten es bis zum „Zivi Mischa“ in der „Schwarzwaldklinik“: „stets hilfsbereit, arbeitsam, freundlich, zuvorkommend, verständnisvoll, sogar adrett gekleidet mit relativ kurzem Haar.“ (27) Gegen soviel „soziale Kompetenz“ und „soft skills“ hatte auch kein „Einstellungsträger“ mehr etwas, der manipulative Charakter löst ja überall den autoritären „Komißkopp“ ab.

 

Eine Wirkung von „‚68“?

 

1968 lehnten mehr junge Männer als je zuvor in der Bundesrepublik den Kriegsdienst ab und verweigerten (s.o.). Vor dieser sprunghaften Entwicklung war offene Verweigerung nur die Sache weniger: Viele Dissidenten wichen nach West-Berlin aus, um sich der Wehrpflicht zu entziehen; auch ein Grund für die Versammlung oppositioneller Geister in dieser „Frontstadt“. Seit der Wiederbewaffnung hinderten viele Motive die Wehrpflichtigen an der Wahrnehmung des in eine sektiererische Ecke gedrückten Grundrechts: die scharfe Ablehnung durch die gesellschaftliche Umgebung, spätere Probleme bei der Berufswahl, eine Vielzahl von diskriminierenden Praktiken, die Verweigerer als unmännlich, als Feiglinge und „Drückeberger“ klassifizierten und ächteten. Zum Vergleich: In Frankreich konnte Louis Lecoin durch Hungerstreiks ein Recht auf Verweigerung durchsetzen, über das aber nicht öffentlich informiert werden durfte; in vielen Ländern gab es keine legale Kriegsdienstverweigerung, sondern Mehrfachbestrafungen für die Verweigerer, denn KDV wurde nicht als eine bindende Entscheidung angesehen, sondern als ein wiederholtes Delikt, so wie jemand auch immer wieder als Dieb bestraft werden kann. So blieb die Zahl der Kriegsdienstverweigerer trotz der scharfen Debatten um die Wiederbewaffnung, einer zunächst verbreiteten „Ohne mich“-Stimmung und der Spannungen des Kalten Krieges zunächst gering. Im Gegenteil: Der Kalte Krieg und die „kommunistische Bedrohung“ bildeten Motive für den „Dienst mit der Waffe“. Das traditionelle Rollenverständnis und Pflichtgefühl wirkten ebenso wie eine Ideologie „Das hat noch keinem geschadet“: Junge Männer lernten Disziplin, Sauberkeit, Ordnung, Gehorsam, alles das, was man auch später im Beruf brauchte. (28) Bis Anfang der 60er Jahre galten auch die Hitler-Attentäter noch weithin als „Eidbrüchige“ und Vaterlandsverräter, von der Rehabilitierung von Deserteuren und Wehrkraftzersetzern war man weit entfernt. „Kameradschaft“ lerne man „beim Bund“, ein „tolles Gemeinschaftsgefühl“ waren verbreitete Einstellungen, vor allem wenn man es „überstanden“ hatte und sich hinterher die Erniedrigungen schön redete. Nur die Zeugen Jehovas verweigerten auch den zivilen Ersatzdienst(29), erst 1969 wurde ihre Mehrfachbestrafung beendet, wenn sie sich zu einem mehrjährigen Arbeitsverhältnis im Sozialbereich bereit erklärten. (30)

Aber Ende der 60er Jahre stiegen die Zahlen der Kriegsdienstverweigerer sprunghaft, und dies sollte sich als langfristiger Trend erweisen. Ist es da nicht naheliegend, das als Folge der Protestbewegungen zu begreifen? Was daran war Ergebnis der Diskussionen über Notstandsgesetze, über den Vietnamkrieg (täglich hörte man ja in den Nachrichten die Meldungen über schwere Bombardierungen „in der entmilitarisierten Zone“), über den Obristenputsch in Griechenland, hier sah man ja eine NATO-Armee aktiv werden. Was waren die längerfristigen Wirkungen von Ostermärschen und pazifistischen Verbänden? War „die Schule der Nation“ zu autoritär oder gab es zu viele Skandale der Bundeswehr, abstürzende Starfighter und aufgedeckte Schikane gegen die Rekruten, der „Schleifer von Nagold“ mag hier für einige stehen. Manche dieser Themen wirken nicht sofort, sondern erst mit anderen Ereignissen und Motiven führen sie zu einer Entscheidung, einem Urteil über die Bundeswehr (oder auch einem Urteil, was man selbst will).

Vielleicht waren es die gleichen Ursachen, die die Protestbewegung auf die Straßen brachte und zu massenhaft gestiegenen Verweigerer-Zahlen führten? Vielleicht waren es aber auch die Auswirkungen der Kampagnen der außerparlamentarischen Opposition, der vielfältigen Strömungen der Protestbewegung, die man keineswegs nur auf den SDS und die Studentenbewegungen reduzieren darf. Auch die vom SDS gegründeten Aktionszentren Unabhängiger und Sozialistischer Schüler (AUSS) propagierten massiv die Kriegsdienstverweigerung. Die Begründungen der Kriegsdienstverweigerung wurden jetzt säkular und politisch, nun viel stärker als früher mit der erklärten Absicht, die Bundeswehr zu schwächen! (31)

Dennoch ist Vorsicht geboten, hier direkte Auswirkungen der APO-Agitation zu sehen. Auch sozialpsychologische Motive verschoben sich schnell: Den „Pardon“-LeserInnen graute nicht mehr vor „Verweichlichung“ (32), die Autoritäten wurden überall in Frage gestellt, auf Befehle stumpf und automatisch zu reagieren galt als gegen die menschliche Würde gerichtet.

So kommt auch Patrick Bernhard zu dem Ergebnis, daß es eher ein Wertewandel war, der sich in den 60er Jahren vor allem bei Jüngeren und Gebildeteren geltend machte und insofern mit den verlängerten Ausbildungszeiten zusammenhängt: Selbstentfaltung, Emanzipation, durchaus auch mit anderen und für andere wurde wichtiger als Pflicht, Disziplin, Anpassung. Das vollzog sich in allen Lebensbereichen: Erziehung, Sexualität, Arbeit, und musste natürlich ganz besonders die Armee als „harten Kern“ der autoritären Einstellungen treffen. In den Motiven der Verweigerer spiegelt sich das: es sind nicht mehr religiöse Dogmen, sondern individuelle Entscheidungen, die angeführt werden, oft Freiheitsbedürfnisse, Entscheidungen für ein anderes Zusammenleben als unter der Hierarchie fremder Befehle. So erklären sich für mich auch die Übergänge zwischen den idealtypisch zu trennenden Motivlagen: ethisch -– politisch – privatistisch. Der Zivildienst wird als sozial verantwortliche und gleichzeitig den persönlichen Bedürfnissen besser entsprechende Alternative vorgezogen (was nicht immer unserem Bild eines konsequenten Kriegsgegners entsprechen muß). So ist der Einfluß von Peer-Groups und besonders den Freundinnen, die Gewalt ablehnen (33), aber auch die heimatnahe Unterbringung, das Nicht-Getrennt-werden ins Feld führen ebenso wichtig wie ein geändertes Verständnis von Männerrollen, das karitative und pflegende Berufe nicht ausschließt, überhaupt eine „Feminisierung der männlichen Jugendlichen“, die sich besonders durch die langen Haare zeigte. (34)

Schließlich beförderte auch die Entspannungspolitik den Widerspruch noch weiter, daß hochgerüstete Armeen sich gegenüberstanden, um gerade nicht eingesetzt zu werden, aber immer am Rand bedrohlicher Zusammenstöße wie während der Kuba-Krise: Die Legitimationsbasis dieser Politik mußte bröckeln. Es spricht manches dafür, daß die Themen der außerparlamentarischen Opposition: Vietnamkrieg, Einsatz der Bundeswehr im Innern als weitere Belege begriffen wurden, daß der Militarismus auch persönlich abzulehnen sei.

Besonders durch „Militanz“ bewirkte die Revolte nicht selten ein Ende früherer Reformansätze: „Wie etwa der Verlauf der Diskussion um die Straf- und Disziplinargesetze zeigt, die statt der von der Großen Koalition noch geplanten Liberalisierung das genaue Gegenteil, nämlich eine Verschärfung erlebten, schlossen sich durch den ‚68er‘-Protest zuvor existierende ‚Reformfenster‘ wieder. Überhaupt trat der Bund infolge der Revolte in starkem Maße als ‚strafender Staat‘ auf.“ (35)

Die Protestbewegung sei „mehr Wirkung als Ursache“ gesellschaftlicher Veränderungen gewesen, die Radikalen „mehr Bewegte als selbst Beweger in einer Zeit im Aufbruch.“ (36)

Vielleicht ist dieses Urteil zu sehr durch die Fixierung auf „offizielle“ Politik geprägt, dort machte sich ein APO-Einfluss bei Jungsozialisten, Jungdemokraten und anderen „linken“ Strömungen bemerkbar, die sich bestätigt und gestärkt fühlten im Wechselspiel mit den direkten Aktionen. Für die Emanzipationsbewegungen ist die Erfahrung ihrer Handlungsfähigkeit – auch wenn dabei oft Illusionen im Spiel sind – ein wichtiger Antrieb: „Wir sind nicht hoffnungslose Idioten der Geschichte, die unfähig sind, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. Wir können eine Welt gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat, eine Welt, die sich auszeichnet, keinen Krieg mehr zu kennen, keinen Hunger mehr zu haben, und zwar in der ganzen Welt!“ (Dutschke).

 

Johann Bauer

 

Johann Bauer ist seit 1972 Mitherausgeber der Graswurzelrevolution. Buch: Johann Bauer, Ein weltweiter Aufbruch! Gespräch über den gewaltfreien Anarchismus der Siebzigerjahre. Mit Grundsatztexten u.a. zur Kritik der RAF und zur Göttinger „Mescalero“-Affäre, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg, 119 Seiten, 12 Euro, ISBN 978-3-939045-12-0

 

Anmerkungen:

1) Erklärung Göttinger Kriegsdienstgegner (Flugblatt), ähnlicher Wortlaut auch im Bündnisflugblatt „Schluß mit der Drückebergerei“ (Göttingen 1978)

2) Das Flugblatt des Bündnisses zur Aktion „Schluß mit der Drückebergerei!“ und zur Veranstaltung „Friedenspolitik oder wollt Ihr den totalen Krieg“ hat als ViSdP unterzeichnet der DFG-VK-Aktivist Ludger Sauerborn, später Gründungsmitglied der Grünen und dort Jahrzehnte aktiv, jetzt Unterstützer der AfD mit ausdrücklichem Hinweis auf seine Kriegsdienstverweigerung: https://www.youtube.com/watch?v=Wc8QajW8UKg. Er engagiert sich für die AfD „nicht obwohl ich mit einer Chinesin verheiratet bin, sondern weil ich mit einer Chinesin verheiratet bin.“ Mit dem Oberstleutnant Junge, Chef der AfD in Rheinland-Pfalz, hat er kein Problem, solche Leute hätte er sich bei den Grünen gewünscht!

3) Bilder der Aktion sind auf der Internetseite eines uns nicht gerade wohlgesonnenen Fotojournalisten zu sehen: https://www.karlheinz-otto.de/index.php/goettingen-1970-bis-1979?page=28, die Bilder 19780414 (also vom 14.04.1978)

4) Vgl. Graswurzelrevolution 36/37 (1978) und den Bericht von Helga Weber, in: Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren Nr. 40 (März/April 1978) S. 28 f. Auch in Kassel kamen durch die Vorankündigung Leute zu der Wehrpaßverbrennung hinzu, ein „älterer Arbeiter (…) fragte ‚Wollt Ihr noch einen?‘ und verbrannte seinen gleich mit.“ In Kassel kreuzten auch OB Eichel und der Polizeipräsident bei der Aktion auf. Weitere Berichte in: Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren Nr. 41 (Mai/Juni 1978).

5) Vgl. Graswurzelrevolution 36/37 (1978)

6) Erklärung Göttinger Kriegsdienstgegner (Flugblatt)

7) Vgl. Bernhard, Patrick: Zivildienst zwischen Reform und Revolte: eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961 – 1982. München 2005. Dort die genauen Zahlen der Erfassten, der Anträge und Anerkennungsquoten S. 417ff.

8) Bernhard, Patrick: Zivildienst zwischen Reform und Revolte: eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961 – 1982. München 2005, S.115.

9) Bernhard, Patrick: An der „Friedensfront“. Die APO, der Zivildienst und der gesellschaftliche Aufbruch der sechziger Jahre. In: Hodenberg, Christina von (Hrsg.): Wo „1968“ liegt: Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik. Göttingen 2006, S. 164-200, hier S. 181

10) Zit n. Bernhard, Patrick: Zivildienst zwischen Reform und Revolte: eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961 – 1982. München 2005, hier S.150. Materialreich werden in diesem Buch die „Diskurse“ um Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst dargestellt, auch wenn Bernhard den Begriff an keiner Stelle verwendet. Nur ein Beispiel: Als 1970 mit dem „Mülheimer Modell“ ein Reformkonzept der friedensbewegten Pfarrer und der Kriegsdienstverweigerer vorgestellt wurde, wurde der Begriff „ziviler Friedensdienst“ abgelehnt, weil man darin das Zugeständnis sah, daß es auch einen „militärischen Friedensdienst“ geben könne; es sollte schlicht „Friedensdienst“ genannt werden! Der dort u.a. vorgeschlagene Einsatz von Zivildienstleistenden an „sozialen Brennpunkten“ war durch die „Randgruppenstrategie“ der APO angeregt (Bernhard, Zivildienst, bes. S. 256)

11) Uebelacker, Stephan: Zivildienst-Kasernen nein danke: Vom Kampf der Zivildienstleistenden, in: Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren Nr. 40 (März/April 1978) S. 9-11

12) Vgl. Uebelacker. Da in der letzten Zeit mehrmals in der GWR über die Geschichte der Selbstorganisation der Zivildienstleistenden berichtet wurde (GWR 424, 426), hier eine Zusammenfassung der Situation 1978 durch Stephan: „Die SOdZDL ist ein lockerer Zusammenschluß örtlicher ZDL-Gruppen, es gibt weder Mitgliedsausweise noch -beiträge. In der gewerkschaftsähnlichen Organisation sind etwa 10-20 % aller ZDLer organisiert (…). Nachdem seit Jahren die SO hauptsächlich von der DFG-VK beeinflußt worden ist, wurde seit etwa einem Jahr der Kommunistische Bund in ihr aktiv. Der KB beeinflußt wesentlich die SO-Gruppe Hamburg, die wohl die größte und aktivste SO-Gruppe ist. Von ihr aus gingen die wesentlichen Impulse für die SO-Arbeit. Zwischen SO und DFG kam es zu Fraktionskämpfen. Der KB ist mehr aktionsorientiert und hat aufgrund ungeschickten Verhaltens von DFG-Leuten erheblich an Einfluß gewonnen (…). Es gibt Pläne des KB, die SO zu einem allgemein-antimilitaristischen Verband auch für Nicht-ZDLer als Konkurrenz zur DFG-VK umzuwandeln. Ansätze dazu waren schon auf der letzten Bundesdelegiertenkonferenz spürbar, wo viele SO-Gruppen durch Nicht-ZDL vertreten wurden.“ (S. 10). Soviel zum Thema „Selbstorganisation“! Es traten KB-Kader damals gerne als Vertreter der SO oder „Unabhängige“ auf, um eine größere Breite und Verankerung der KB-Positionen darzustellen. Die repressiven Maßnahmen im Feld „Zivildienst“ waren auch mit der KB-“Theorie“ einer „Faschisierung von Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik“ gut vereinbar. Die Darstellungen in GWR 424: Anne Niezgodka: Die Vermehrung der Drückeberger, S. 13/14 und die Entgegnungen von Elmar Klink und darauf wiederum Gernot Lennert in GWR 426, S. 20/21 sparen leider die soziologisch interessanten Fragen aus: eine „Selbstorganisation“, die zunehmend von Geschäftsführern und Nicht-ZDLern dominiert wird und sich über ihren ursprünglichen Anlass hinaus etablieren möchte, Verselbständigung eines Labels.

13) Erklärung Göttinger Kriegsdienstgegner (Flugblatt)

14) An alle Wehrpaßbesitzer! An alle Antimilitaristinnen und Antimilitaristen! (Rundbrief der Graswurzelwerkstatt vom 10. März 1978)

15) Otto Drese und Rolf Tepel, nach meinen Erfahrungen kann man den weiteren Werdegang von ViSdP-Unterzeichnern so gut wie immer im Internet verfolgen, geradezu exemplarisch und witzig Rolf Tepel, vgl. www.dreamteam-media.com/mein-leben-im-paradies.html und viele andere Einträge im Netz, auch https://www.youtube.com/watch?v=-iYg9H0UOfY

16) Im Löwenzahn: Zeitung für alternatives Leben und Arbeiten Nr. 10 (Frühsommer 1978) wird schon in antikisierender Fraktur ironisch zurückgeblickt auf den „Göttinger Politfrühling anno 1978“ und die Wehrpaßverbrennung neben dem Antifaschistischen Aktionstag, dem Aktionstheater während des Prozesses gegen die Buback-Nachruf-Herausgeber, der Gründungsversammlung der freien ökologischen Genossenschaft und Straßentheater-Szenen in Erinnerung gerufen. Das wurde als eine intensiv-kämpferische Zeit erlebt, und alles das gehörte zusammen. Wir wußten gar nicht, wie wertvoll diese Zusammenhänge waren und daß sie sich bald entmischen würden. Da waren die Leute aktiv, die gegen die „Liquidierung der antiautoritären Phase“ durch Marxisten-Leninisten gewesen waren, die offen und suchend eine große Kraft bildeten, solange sie die Unterschiede aushielten und sich nicht in irgend einer Richtung „professionalisierten“. Im spontaneistischen Spektrum waren es diejenigen, die von den „militanten“ Strömungen durchaus verächtlich „Müslis“ genannt wurden (viele aus der „militanten“ Ecke „machen jetzt was mit Gesundheit“). Übrigens offenbarte sich im November 1978 der Göttinger „Tageszeitungsinitiative“, einer der Gründungsgruppen der TAZ eine Frau, die vom Verfassungsschutz-Mann Meiners seit Juni 1978 Aufträge erhielt: „Meiners setzte die Verfassungsschutz-Informantin auf die ‚Gewaltfreie Aktion‘, auf das Frauenzentrum und den Frauenbuchladen in Göttingen an sowie auf die örtliche Initiative der ‚Tageszeitung‘ … (V-Mann Heinz holte den Spitzel Inge im roten Opel: Informantin des Verfassungsschutzes „packte aus“, in: Göttinger Tageblatt 24.11.1978, auch in: Löwenzahn Nr.11, Winter 1979 S. 52).

17) www.servat.unibe.ch/dfr/bv048127.html

18) Vgl. GWR 36/37 (1978). Der ursprünglich in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte 53 (2005),1 erschienene Text Patrick Bernhards über Vorgeschichte, politische Abstimmungsprozesse, den „Leber-Plan“ und schließlich das Urteil des Verfassungsgerichts zur „Kriegsdienstverweigerung per Postkarte“ ist online unter: https://www.researchgate.net/profile/Patrick_Bernhard2/publication/275967054_Kriegsdienstverweigerung_per_Postkarte_Ein_gescheitertes_Reformprojekt_der_sozialliberalen_Koalition_1969-1978/links/554c8a670cf29752ee7ef37f/Kriegsdienstverweigerung-per-Postkarte-Ein-gescheitertes-Reformprojekt-der-sozialliberalen-Koalition-1969-1978.pdf

19) Flugblatt des Bündnisses zur Aktion „Schluß mit der Drückebergerei!“ S. 2

20) Erklärung Göttinger Kriegsdienstgegner (Flugblatt)

21) So mußte Hajo Karbach schon in der Graswurzelrevolution 38 (Oktober 1978) S. 1 u. 2 fragen; im Oktober 1978 wurde er zu einem Bußgeld von 200 DM verurteilt („Verstoß gegen das Wehrpflichtgesetz“); das scheint die übliche Bestrafung gewesen zu sein. Einer der Göttinger wurde nach Einspruch gegen den Bußgeldbescheid vom Amtsgericht Kassel (1. Wohnsitz) zu 80 DM verurteilt (Info 44 Jan/Feb. 1979, S. 22, dort weitere Berichte).

22) Zit. n.: Ana Chie: Wollt Ihr den totalen Krieg? Einige Gedanken nach der Wehrpaßverbrennung, in: Löwenzahn 10 (1978), S.31

23) Leider war sein „Wehret-den-Anfängen!“-Kommentar zur Wehrpaßverbrennung nicht im Netz. Merkwürdig aber wie vergleichsweise unbeteiligt-gelangweilt er das Jahr 1977 im Rückblick betrachtet, das im öffentlichen Gedächtnis der BRD sonst einen besonderen Platz einnimmt: https://www.tagesschau.de/multimedia/video/jahresrueckblick/1977/video803552.html

24) Tradition der flammenden Wehrpässe, in GWR 36/37, S. 7

25) www.servat.unibe.ch/dfr/bv048127.html

26) Karbach, Hajo: Wehrpassverbrennung … Ein Strohfeuer? In: GWR 38 (Oktober 1978)

27) Bernhard, Zivildienst S. 386

28) Diese Motivlage konnte Anfang der 80er Jahre noch nachgewiesen werden: Birckenbach, Hanne-Margret: Mit schlechtem Gewissen – Wehrdienstbereitschaft von Jugendlichen. Baden-Baden 1985

29) Bis 1966 wurde ausgeschlossen, wer nicht verweigerte, vgl. Bernhard, Patrick: Zivildienst zwischen Reform und Revolte: eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961 – 1982. München 2005, S. 61.

30) Bernhard, Patrick: An der „Friedensfront“. Die APO, der Zivildienst und der gesellschaftliche Aufbruch der sechziger Jahre. In: Hodenberg, Christina von (hrsg.): Wo „1968“ liegt: Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik. Göttingen 2006, S. 164-200, hier S. 172

31) Allerdings auch mit üblen Praktiken gegen die Pazifisten der älteren Generation, die lächerlich gemacht wurden, mit Unterwanderung von Verbänden und putschartigen Besetzungen von Vorständen etwa des Verbandes der Kriegsdienstverweigerer, was sogar zu allerhand Gerichtsverfahren führte. Vor allem gab es die Tendenz, Gewaltlosigkeit als „bürgerliche Ideologie“ zu verachten und bizarre Programmatiken, wie die Zivildienstleistenden den anti-imperialistischen Kampf unterstützen sollten. Auch die Strategien der Provokation in Krankenhäusern und Altenheimen, die die „repressive Toleranz“ entlarven und die Repression sichtbar machen sollte, oszillierten zwischen berechtigter Kritik und Ungehorsam und pornographischer Schmiererei (vgl. Bernhard, Friedensfront S. 174ff.). Tatsächlich fiel die Anerkennungsquote der Antragsteller von 87 Prozent im Jahr 1967 auf 66 Prozent im Jahr 1973 (Bernhard, Friedensfront S. 178). 50 Einrichtungen mit 500 Zivildienstplätzen kündigten die Verträge und wollten auf die weitere Beschäftigung von Zivildienstleistenden verzichten (Bernhard, Friedensfront S. 179).

32) Die satirische Zeitschrift „Pardon“ spielte eine große Rolle, nicht zuletzt, indem dort militärische Werte und Normen lächerlich gemacht wurden, aber auch bei der Kritik der Bundeswehr und der Behandlung der Verweigerer. Auch das 1966 bei rororo aktuell erschienene Buch (innerhalb eines Vierteljahres wurden 30.000 Exemplare verkauft) Liepman, Heinz (Hg.): Kriegsdienstverweigerung oder gilt noch das Grundgesetz? basierte auf „Pardon“-Artikeln. Bis 1970 wurde das Buch sechsmal aufgelegt, 57.000 Auflage

33) Bernhard, Zivildienst S. 217

34) Bernhard, Zivildienst S. 207

35) Bernhard, Zivildienst S. 414

36) Ebd. S. 415

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 430, Sommer 2018, www.graswurzel.net