Der Boxkampf

Ein Boxkampf. Klassenkampf. Zwei Kämpfer*innen, keine Schiedsrichter*innen.

in (22.08.2018)

Auf der einen Seite das Kapital. Eine Logik sozialen Wachstums, die Logik des Geldes, die Logik des Profits. Eine Logik, die jetzt Ungleichheit, Armut, Frustration, Gewalt verursacht und die uns auch in die totale Vernichtung der Menschheit führt.

Auf der anderen Seite Wir, die Menschheit, die Arbeiter*innenklasse, wie auch immer man Uns nennt. Wir, die wir permanent vom Kapital angegriffen werden und die wir unzählige Wege des Widerstands finden. Wir, die wir in der Logik des Kapitals leben, aber auch gegen sie und jenseits von ihr, die wir versuchen, unser Leben selbst zu kontrollieren und die Zerstörung zu beenden, die die Logik des Kapitals mit sich bringt.

Der Kampf ist jetzt noch grausamer geworden. Für uns. Wir hängen über den Seilen des Rings und denken, dass alles verloren ist. Das Kapital hat uns immer wieder und wieder getroffen, mit Arbeitslosigkeit, Pensionskürzungen, Lohnkürzungen, Bildungsreformen, Kürzungen im Gesundheitsbereich, Abbau des Arbeitsrechts, Polizeigewalt, mit der Schließung von Sozialen Zentren, die Widerstand leisten, mit Krieg, dem Ertrinken Tausender Flüchtlinge im Meer, mit Demütigung.

Es scheint keinen Zweck mehr zu haben, weiter Widerstand zu leisten. Wir wollen den Kampf aufgeben. Wir wissen, dass wir weiterkämpfen müssen, dass unsere Würde es nicht zulässt, aufzugeben. Aber gleichzeitig denken wir „wozu, wenn das Kapital einen Kampf nach dem anderen gewinnt?“ Das Kapital ist so erfolgreich, dass wir beinahe die Fähigkeit verlieren, an die Möglichkeit einer anderen Form der sozialen Organisierung zu denken, eine, die nicht auf Profitstreben gründet sondern auf Liebe und Kooperation und Solidarität und auf der Emanzipation unserer kreativen Kräfte.

Und dann passiert etwas. Wir öffnen die Augen und sehen uns den grausamen Gegner an, der uns gegenübersteht. Und zu unserer Überraschung sehen wir, dass etwas nicht stimmt, dass trotz all seiner Stärke seine Knie zittern. Wir sehen hin und erkennen, dass er auf einer riesigen Fiktion steht, dass er nur deshalb aufrecht stehen bleibt, weil er ständig so tut als ob, weil er ständig den Kredit erhöht.

Die Reproduktion des Kapitals, insbesondere über die letzten vierzig Jahre, basiert auf einer massiven Ausweitung des Kredits, auf der konstanten Erschaffung von Geld, das keine Grundlage im wirklich produzierten Wert hat. Das Kapital hat auf uns eingeschlagen und eingeschlagen, aber gleichzeitig ist seine eigene Existenz immer fiktiver, immer fragiler geworden. Das Kapital braucht mehr. Um sich selbst eine stabilere Existenz zu verschaffen, muss es Menschen und selbstverständlich auch die Natur immer vollständiger seiner Logik des Profits unterwerfen. Solange es das nicht tun kann, kann es nur auf der Basis überleben, so zu tun, als ob es erfolgreich wäre, indem es Versprechen gibt, von denen jede/r weiß, dass sie nicht einzuhalten sind. Über die letzten vierzig Jahre, war die Schaffung von Rechtsansprüchen auf Reichtum wesentlich schneller als das Schaffen von Reichtum selbst.

Diese Welt der Vortäuschung ist die Welt eines viel intensiveren Wettbewerbs zwischen Kapitalen und zwischen Staaten und eine Welt viel größerer Gewalt gegen uns. Es ist auch eine sehr instabile Welt, die sich in ständiger Gefahr des Zusammenbruchs befindet. 2008 brach sie fast zusammen, aber sie wurde durch die Kombination von Austeritätspolitiken und vor allem der massiven monetären Expansion gerettet. Trotz all der Austerität, hat sich das Kreditvolumen im Weltmaßstab seit 2008 fast verdoppelt und viele Kommentator*innen prognostizieren, dass es unweigerlich zu einer neuen Finanzkrise innerhalb der nächsten Jahre kommen wird, allerdings in wesentlich größerem Ausmaß.

Wir sind übel angeschlagen, aber unser Gegner ist ebenfalls in schlechtem Zustand. Und warum? Nicht wegen seiner internen Widersprüche, sondern wegen unseres konstanten Widerstands, unseres offenen Widerstands, aber ebenso wegen unserer alltäglichen, häufig unsichtbaren Widerstände, wegen unserer Weigerung oder vielleicht wegen unserer Unfähigkeit, die Anforderungen des Systems zu erfüllen – wegen der Tatsache, dass wir demonstrieren und streiken und soziale Zentren schaffen, aber auch wegen der Tatsache, dass wir immer noch mit unseren Kindern spielen oder abends ausgehen oder uns mit unseren Freund*innen unterhalten wollen. Das Kapital ist in der Krise und, auch wenn es nicht so scheint, wir sind die Krise des Kapitals.

Es gibt eine Angst im Zentrum des Kapitals. Angst wovor? Ich denke, es ist eine Angst vor uns, wie unterlegen wir momentan auch immer scheinen. Die Angst davor, dass sie uns niemals ausreichend ausbeuten und beherrschen können, um die Profitraten aufrecht erhalten zu können. Vor allem die Angst davor, dass wir sagen „Kapitalismus ist eine schrecklich dumme Art und Weise, Gesellschaft zu organisieren, ein Versagen, obszön, lächerlich“. Angst vor uns, die sich im Bau höherer Mauern, in der starken Vermehrung von Stacheldraht, in der Sicherung der Grenzen, in der Bewaffnung der Polizei widerspiegelt, Angst davor, dass wir uns eines Tages einfach umdrehen und sagen werden: „Genug!“

In unserem Boxkampf sind wir angeschlagen, aber unser Gegner ist ebenfalls in Gefahr, zusammenzubrechen, verwundet durch unsere Verweigerungen.

Ist das eine hoffnungsvolle Nachricht? Ja und nein. Ich denke, wir sind mit einer Welt wachsender Verwirrung konfrontiert, wachsenden Wettbewerbs und wachsender Gewalt. Eine Krise des Kapitals, die tödlich sein könnte: tödlich für die Menschheit, oder vielleicht auch nur tödlich für das Kapital. Eine Welt, in der Staaten (mit welcher Regierung auch immer) immer klarer als das gesehen werden, was sie sind: Teil des Systems von Tod und Zerstörung, des Kapitals.

Vielleicht müssen wir über eine Politik des Chaos nachdenken, über eine Politik, in der wir das Chaos zu unserem machen. Eine Politik des Chaos und eine Politik des Übergangs, in der wir unsere Widerstände stärken und unsere Verantwortlichkeit für die Welt annehmen, in der wir unsere eigenen Orte schaffen als Ersatz für das Kapital, an denen wir sagen „Hau ab, Kapital, deine Zeit ist abgelaufen. Geh aus dem Weg, denn Wir kommen, mit all unseren Verwirrungen und Widersprüchen, um eine andere Welt zu schaffen“.
 

 


Dieser Text ist eine leicht gekürzte Version der Rede, die der Autor bei der Vorstellung des Buches Beyond Crisis: After the Collapse of Institutional Hope in Greece, What?(hgg. Von John Holloway, Panagiotis Doulos und Katerina Nasioka, PM Press, San Francisco 2018) in Thessaloniki gehalten hat. Aus dem Englischen übersetzt von Jens Kastner.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst(Wien), Nr. 47, Sommer 2018, „Krise & Konflikt“.

John Holloway ist Soziologe und lehrt am Posgrado de Sociología, Benemérita Universidad Autónoma de Puebla, Mexiko. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch Wir sind die Krise des Kapitals… und stolz darauf(Münster: Unrast Verlag 2017) und Kapitalismus aufbrechen(Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2010).