„Ich brauche den Zweifel“

Ein Gespräch mit Holger Isabelle Jänicke über Klimawandel, Neonazis, 160 Regalmeter Anarchie und das Archiv Aktiv als Gedächtnis der Gewaltfreien Bewegungen

Holger Isabelle Jänicke wurde 1962 in Lübeck geboren und ist als schwer behindertes Kind in der schwäbischen Provinz aufgewachsen. Gegen Ende seiner Schulzeit wurde er aktiv in der Friedensbewegung. In den 1980ern engagierte er sich u.a. in der Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung in Mutlangen. In einem Interview mit GWR-Mitherausgeber Besalino erzählte er in der GWR 385 über sein Engagement im Rechtshilfebüro für Gewaltfreie Aktionen. (1) Daran knüpft das folgende Gespräch an, das GWR-Redakteur Bernd Drücke im Juli 2018 im Studio des Medienforums Münster mit dem Bewegungsarbeiter führte. (2) Holger Isabelle Jänicke ist im Vorstand des Archiv-Aktiv e.V. in Hamburg. Dort werden Dokumente, Fotos, Filme und Transparente zum gewaltfreien Widerstand gesammelt. Im Gespräch geht es um Jänickes Arbeit als Aktivist und Archivar. Außerdem um Klimawandel, Anarchismus, soziale Bewegungen und emanzipatorische Perspektiven gegen das Erstarken des Neofaschismus. (GWR-Red.)

 

Graswurzelrevolution (GWR): Seit 1987 gibt es in Hamburg das Archiv Aktiv, in dem Du Dich engagierst. Was kannst Du zu der Geschichte erzählen?

 

Holger Isabelle Jänicke: Das Archiv Aktiv ist aus einer Graswurzelgruppe entstanden, aus dem Gedanken, dass es viel zu viel Material gab, von dem man nicht wusste, wohin damit. Und als Anarchisten wollte man das nicht in staatliche Hände, in staatliche Archive übergeben. In den Müll wollte man es auch nicht schmeißen, weil die Geschichte auch weitergegeben werden muss. Sonst geht sie verloren. Ich bin jetzt seit 2005 beim Archiv Aktiv in Hamburg dabei, seitdem auch im Vorstand, zuständig für die Archivverwaltung. Ich mache also alles, was mit der Sicherung der Archivalien zu tun hat.

 

GWR: Was ist das für ein Archiv? Was habt Ihr für Bestände? Und welche Bestände nehmt Ihr auf?

 

Holger Isabelle Jänicke: Unser Sammelgebiet ist die Gewaltfreie Aktion, Gewaltfreie Bewegung in Deutschland seit 1945. Man kann jetzt darüber streiten, ob man das auch anders formulieren kann. So ein Archiv braucht natürlich eine Eingrenzung: Ab wann und bis wo sammeln wir? Und zur Gewaltfreien Bewegung ist wirklich eine Menge dabei. Wir haben schachtelweise Unterlagen zu Wyhl, viel aus den 1980ern zu Mutlangen zum Beispiel, Gorleben und CASTOR-Transporte, X-tausendmal quer, Gendreck weg, … Also viele wunderschöne Materialien, und zwar sowohl Papier als auch Fotos, Filme, Toncassetten. Transparente sammeln wir auch. Das ist wichtig, weil sich Geschichte nicht nur über das geschriebene Wort vermittelt. Geschichte ist etwas, was man gerne begreifen darf. Und da gehören solche Objekte auch zu. Die stellen uns zwar immer wieder vor besondere Herausforderungen. Aber wir unterziehen uns gerne der Mühe.

 

GWR: Ihr habt Bestände vor allem aus den Sozialen Bewegungen. Das ist schon ein bisschen etwas anderes, als man es in staatlichen Bibliotheken findet.

 

Holger Isabelle Jänicke: Natürlich, ja. Wir haben in unserem Archiv nicht nur Bestände aus Nachlässen, nicht nur Bestände von den bekannten Köpfen, die ständig von Gremiumsitzung zu Gremiumsitzung pendeln. Es sind auch ganz Unbekannte dabei, die zum Beispiel in Dortmund oder woanders vor Ort aktiv sind. Die Bestände sind wichtig, weil sie wichtige Aussagen ermöglichen, wie politische Arbeit funktioniert.

 

GWR: Es wird auch einen Dokumentarfilm geben?

 

Holger Isabelle Jänicke: Den gibt es schon. Wir haben im Februar 2018 Jubiläum gefeiert. Und dazu gab es die Premiere des Dokumentarfilms. Er heißt „Mut zur Lücke“. (3)

Da versuchen wir darzustellen, was wir im Archiv machen. Es ist kein Dokumentarfilm, wo Gründer, jetzt Aktive, alle möglichen Leute Interviews geben. Wir sind mit den Filmemachern durch die Räume gegangen und haben praktisch an der Geschichte der Aktionsformen dargestellt, wie wir mit den unterschiedlichen Archivalien auch unterschiedlich umgehen müssen. Was wir machen. Was man damit anfangen kann.

 

GWR: Es ist ja ein Archiv, das bei der Gründung 1987 vor allem auch mit den Austauschzeitungen und Materialien der Graswurzelrevolution aufgebaut worden ist, die damals ihren Redaktionssitz in Hamburg hatte. Wie groß sind die Bestände heute? Wieviel Material gibt es da ungefähr?

 

Holger Isabelle Jänicke: Es gibt über tausend Ordner. Ich habe es neulich mal ausgerechnet und kam auf 160 Regalmeter. Gut, mit staatlichen Archiven können wir da noch nicht mithalten. Aber bei den freien Archiven sind wir schon eins von den nicht mehr ganz so kleinen.

 

GWR: Habt Ihr auch Öffnungszeiten?

 

Holger Isabelle Jänicke: Nein, wir haben keine festen Öffnungszeiten. Am besten mailt man uns vorher an und fragt nach, wann man kommen kann. Dann mailen wir zurück, wenn es an einem Tag gar nicht geht, und schreiben, wann es am besten passt. Wir machen diese Arbeit ehrenamtlich, das darf man dabei nicht vergessen. Das Archiv lebt bis heute ausschließlich von Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Wir bekommen keinerlei staatliche Gelder, wollen das auch nicht. Das ist manchmal auch schwierig, weil es finanziell eng wird. Aber das ist uns die Unabhängigkeit von staatlichen Geldern wert. Deswegen brauchen wir Spenden und können eben nur ehrenamtliche Arbeit machen.

 

GWR: Du bist auch einer von zehn Bewegungsarbeiter*innen der Bewegungsstiftung. (4) Wie bist Du in die Sozialen Bewegungen gekommen? Wie wurdest Du politisiert?

 

Holger Isabelle Jänicke: Das liegt daran, dass ich als schwerbehindertes Kind in einer totalen Provinz aufgewachsen bin. Ich habe irgendwann angefangen, aufzuhören zu glauben, dass ich der Schuldige bin. Ich habe Martin Luther King gelesen, der geschrieben hat: „Nicht die Schwarzen sind schlecht, weil sie schwarz sind, sondern die Weißen, weil sie sie für schlecht halten.“ Daraus entstand das Ganze; das war der Impuls, dass ich die Welt verändern will.

 

GWR: Du bist seit über 30 Jahren in den Sozialen Bewegungen aktiv, jetzt auch als Bewegungsarbeiter. Was bedeutet das?

 

Holger Isabelle Jänicke: Ich habe mich 1984 entschieden, dass ich Friedensarbeit, Bewegungsarbeit in Vollzeit machen will. Seitdem mache ich das zum Teil in verschiedenen Ausrichtungen. Ich habe es auch schon über Sozialhilfe gemacht. Zum Teil über Spenden, mit anderen zusammen. Und jetzt seit 2002 als Bewegungsarbeiter bei der Bewegungsstiftung. Es gibt eine Reihe von Patinnen und Paten, die monatlich für mich Geld einzahlen, und das wird mir dann regelmäßig von der Bewegungsstiftung ausgezahlt.

 

GWR: Die Bewegungsstiftung hat sich zum Ziel gesetzt, soziale Bewegungen zu unterstützen. Ist das begrenzt?

 

Holger Isabelle Jänicke: Es ist begrenzt auf zehn Bewe-gungsarbeiter*innen. Man muss bestimmte Kriterien erfüllen. Dazu gehören selbstverständlich die Kriterien, die für die Bewegungsstiftung insgesamt gelten, also gewaltfrei, partizipativ, emanzipativ, ökologisch und so weiter. Bei den Bewegungsarbeiter*innen gehört dann noch dazu, dass es Personen sein müssen, die sich schon entschieden haben, Vollzeit für die Bewegung zu arbeiten, und die das mit besonderen Kenntnissen und Fähigkeiten verbinden. Das ist bei mir zum einen die juristische Arbeit, zum anderen die kritische Auseinandersetzung mit der Polizei.

 

GWR: Du vertrittst Aktivist*innen vor Gericht und hilfst ihnen, wenn sie Prozesse etwa wegen Blockaden am Hals haben und kriminalisiert wurden?

 

Holger Isabelle Jänicke: Da weiß ich im Moment gar nicht, was ich dazu sagen soll. Zum einen bin ich gerade dabei, die juristische Arbeit ein bisschen zu reduzieren. Worum es mir geht, ist nicht, dass ich irgendwen heraus haue, sondern ich vertrete Menschen vor Gericht, wenn sie ihren Prozess in einer bestimmten Form führen wollen, wenn sie ihn als politischen Prozess führen wollen. In meiner Arbeit geht es zwar auch darum, dass ich meinen Mandant heraus haue, aber mein Mandant ist derjenige, der den Prozess führt, und ich bin dabei und unterstütze ihn. Das ist mir wichtig. Eigentlich muss es in unserer Arbeit darum gehen, daraufhin zu arbeiten, dass wir nicht mehr gebraucht werden.

 

GWR: Was verstehst du unter Anarchie, Anarchismus?

 

Holger Isabelle Jänicke: Ich verstehe Anarchie als eine Form von Ordnung. Es ist ein soziales Gefüge. Letztlich ist es aber auch nicht mehr als eine Utopie. Eine Utopie, die wir jetzt anfangen müssten, zu leben. Indem wir sie leben. Sonst ist es schwierig zu sagen. Es gibt hunderttausende Theorien zum Anarchismus. Ich selber habe Schwierigkeiten, mich Anarchist zu nennen, weil ich das Gefühl habe, dass es eigentlich nichts aussagt. Wenn ich sage, dass ich Anarchist bin, weißt du nicht, ob ich Syndikalist oder ein anderer Anarchist bin.

Da gibt es so viele Richtungen. Anarchismus ist, und bei manchen merkt man das leider auch, ein –ismus, also ein Dogmatismus. Ich bin eher jemand, der Zeit seines Lebens im Zweifel lebt. Ich brauche immer wieder den Zweifel, und das verträgt sich nicht so ganz mit Dogmatismus.

 

GWR: Wie willst Du Deine persönliche Arbeit in Zukunft gestalten?

 

Holger Isabelle Jänicke: Ich habe in den letzten Jahren immer wieder festgestellt, dass ich mit den Rechtshilfe-Workshops zum Beispiel nicht so wirklich voran komme. Ich habe da regelmäßig dieselben Leute vor den Aktionen, die dann da raus gehen und sagen, jetzt habe ich es begriffen, und die dann von den Aktionen kommen und sagen, jetzt ist es mir wieder passiert; es ist mir so ergangen wie sonst auch: Ich stand vor den blöden Bullen und wusste nicht mehr, was ich sagen soll.

Ich schließe daraus, dass es nicht so ist, dass die Leute nicht wissen, was sie der Polizei argumentativ entgegen halten können, sondern dass sie vor den uniformierten Menschen der Staatsmacht stehen, und dann ist es wie eine Prüfungssituation. Da hilft es auf Dauer, glaube ich, nicht mehr, wenn ich ihnen zum hundertsten Male erkläre, wie es zum Beispiel mit dem Festnahmerecht aussieht.

Man müsste eigentlich mit ihnen an der Haltung arbeiten: Wie gehe ich mit Autorität um. Wie kann ich besser aufrecht stehen. Daran will ich mehr arbeiten.

 

GWR: Arbeitest Du auch zu den aktuellen Polizeigesetzplänen, die es jetzt von den Landesregierungen zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Niedersachsen gibt?

 

Holger Isabelle Jänicke: Ich verfolge das natürlich mit. Ich bin da aber gerade nicht so aktiv. Das ist auch ein bisschen ein Kapazitätenproblem. Und in Hamburg kriegen wir zur Zeit kein neues Polizeigesetz. Aber ich bin solidarisch mit allen, die sich dagegen wehren.

 

GWR: Welche Perspektiven siehst Du für das Archiv Aktiv? Und weiterreichend: für die Sozialen Bewegungen, anarchistische, feministische, antisexistische, antirassistische Bewegungen?

 

Holger Isabelle Jänicke: Das ist gespalten. Auf der einen Seite merke ich, dass mich die momentane politische Situation auch immer wieder ängstigt. Im Flüchtlingsbereich machen wir gerade zehn Schritte zurück, in Richtung Abschottung. Das geht gar nicht. Und auch ansonsten weht uns der Wind ziemlich heftig entgegen. Ich glaube, dass man das gar nicht anders sagen kann, und dass wir das nicht unterschätzen sollten.

Auf der anderen Seite glaube ich, dass die Vergleiche etwa zur Weimarer Republik eher hinken, weil wir eine andere Zeit haben. Wir haben eine muntere, sehr bunte Bewegung, wir haben auch gesellschaftlich noch ein anderes Klima. Der Hass gegen Ausländer nimmt zwar zu. Gleichzeitig gibt es aber doch große gesellschaftliche Kreise, für die Schwul Sein, Lesbisch Sein, Queer Sein oder so relativ normal ist. Insofern ist es gerade ziemlich schwierig zu greifen, wo wir hingehen. Man kann sagen, dass es spannende Zeiten sind.

 

GWR: Es gab in letzter Zeit ja sehr schöne gewaltfreie Aktionen, zum Beispiel im Rheinischen Bergbaugebiet, auch von Ende Gelände. (5) Kannst Du etwas zur Klimabewegung sagen?

 

Holger Isabelle Jänicke: Ich finde, dass es eine der zentralen Bewegungen ist, weil das Klimathema akut ist. Ende Gelände schafft es ganz gut, so wie die Aktionen angelegt sind, Menschen neu in die Bewegung hinein zu ziehen und zu emanzipieren.

Es sind nicht nur gewaltfreie Aktionen, es sind für mich auch Aktionen, die davon geprägt sind, dass alle, die daran teilnehmen, daraus auch für zukünftige Kämpfe etwas lernen, wie man solche Situationen organisieren, aber eben auch bewältigen kann. Das finde ich phänomenal. Das Sich Selbst Ermächtigen geht zum Teil anderen gewaltfreien Gruppen in den letzten Jahren ein bisschen ab. Das ist mir sehr wichtig. Ich meine, dass niemand eine gewaltfreie Aktionsgruppe mit Autoritätsstrukturen braucht.

 

GWR: Wie erklärst Du Dir, dass mit der AfD eine extrem rechte, rassistische, homophobe, sexistische Partei so einen Zulauf hat? Bei der Bundestagswahl wurde die AfD von sechs Millionen Menschen gewählt. Die CSU versucht, sie zu kopieren. Wie können wir diesem Rechtsruck entgegen steuern?

 

Holger Isabelle Jänicke: Es gibt verschiedene Theorien, und ich will sie nun nicht auch noch alle aufwärmen. Natürlich ist da einiges schief gelaufen. Ich werde hier den Fokus darauf legen, dass ich meine, dass die sozialen Bewegungen da durchaus auch etwas verpennt haben. Wir haben uns jahrelang zu sehr auf unsere Themen fokussiert und uns in unseren Kreisen wohlgefühlt. Wir haben es versäumt, die soziale Frage, die wir immer mal wieder im Mund führen, auch wirklich für weite gesellschaftliche Kreise greifbar zu machen. Das fällt uns jetzt auf die Füße. Ich glaube, dass wir, hätten wir diesen Fehler nicht begangen, vielleicht eine andere Entwicklung gehabt hätten.Oder zumindest abgeschwächt.

Wir müssen uns da eingestehen, Fehler gemacht zu haben. Viele Wähler der AfD sind ja nicht als Rechte auf die Welt gekommen. Da sind auch viele ehemalige SPDler und sonstige Linke dabei.

Das hat auch damit zu tun, dass wir ihnen bisher fast nichts anzubieten hatten, wie sie aus ihrer Hoffnungslosigkeit heraus kommen könnten.

 

Interview: Bernd Drücke

 

Anmerkungen:

1) ... vorneweg mit ‚ner Ziege an der Hand. Ein Interview von Besalino mit Holger-Isabelle Jänicke vom Rechtshilfebüro für Gewaltfreie Aktionen über ein neues Projekt zum Versammlungsrecht, in: GWR 385, Januar 2014, https://www.graswurzel.net/385/holger-isabelle.php

2) Die 55minütige Sendung wurde im Bürgerfunk auf Antenne Münster ausgestrahlt und ist in der Mediathek zu hören auf https://www.nrwision.de/mediathek/radio-graswurzelrevolution-holger-isabelle-jaenicke-bewegungsarbeiter-und-aktivist-180731/

3) Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=TVq58pXQMrw

4) https://www.bewegungsstiftung.de/foerderung0/bewegungsarbeiter.html

5) www.endegelaende.de

 

 

Interview aus: Graswurzelrevolution Nr. 432, Oktober 2018, www.graswurzel.net