Aktive Politik der Armutsbekämpfung – Fehlanzeige!

Vor Kurzem hat die Nationale Armutskonferenz ihren Schattenbericht 2018[1] vorgelegt. Darin fordert sie eine aktive Politik der Armutsbekämpfung, die aber von der Bundesregierung weiterhin sträflich vernachlässigt werde. Insbesondere in Hinblick auf die Bekämpfung von Erwerbsarmut gebe es einen enormen Handlungsbedarf.

So sei für viele Menschen in Beschäftigung Armut dennoch bittere Realität – obwohl Wirtschaft und Arbeitsmarkt boomen. In Deutschland hat sich die Erwerbsarmut in den letzten zehn Jahren verdoppelt: Zwischen 2004 und 2014 stieg der Anteil der »working poor« an allen Erwerbstätigen auf 9,6%. »Prekäre Beschäftigung schafft Unsicherheit, führt in Altersarmut und behindert die Lebensplanung«, so die nak-Sprecherin Barbara Eschen.

Besonders problematisch seien Minijobs mit derzeit 7,5 Mio. Beschäftigten. Diese ermöglichten in der Regel keinen Einstieg in gute Arbeit, sondern seien berufliche Sackgassen mit mangelnden Perspektiven, niedrigen Einkommen und oftmals schlechten Arbeitsbedingungen – insbesondere für Frauen. Die Nationale Armutskonferenz fordere die Bundesregierung daher auf, sich für gute Arbeit und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung einzusetzen, statt »Arbeit um jeden Preis« zur Devise zu machen.

In den meisten deutschen Städten fehle es zudem an bezahlbarem Wohnraum. Und das nicht nur für wohnungslose Menschen, sondern zunehmend auch für einkommensarme Haushalte, Alleinerziehende, Studierende, Geflüchtete oder Seniorinnen und Senioren. Die Nationale Armutskonferenz fordert daher auch die Stärkung des Sozialen Wohnungsbaus sowie die realistische Ermittlung angemessener Wohnkosten in der Grundsicherung.

In ihrem Statement ging Barbara Eschen auch Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger ein: »Es ist äußerst fraglich, ob Sanktionen ein geeignetes Mittel sind, um Menschen ›fit für den Arbeitsmarkt‹ zu machen. Vor allem aber sollten wir uns bewusst machen: Das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard ist nicht verhaltensabhängig.«

Gefordert sei vielmehr eine Neuorientierung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Beschäftigungspolitik sollte demnach auf Sanktionen und Druck verzichten und vielmehr die Motivation und Selbstbestimmung der Menschen unterstützen. Notwendig seien zudem höhere Regelsätze in der Grundsicherung und die weitere Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns.

Wie berechtigt die Forderung der Sozialverbände und der Armutskonferenz nach Erhöhung der Regelsätze ist, zeigt ein Blick auf das Budget der Hartz-IV-Haushalte. Der Staat zahlt Hartz IV-Empfänger*innen die sogenannte Regelleistung – für einen Alleinstehenden derzeit 416 Euro im Monat, für Kinder je nach Alter 240 bis 316 Euro – und übernimmt die Kosten für eine der Größe des Haushalts angemessene Unterkunft. Was davon für einen Hartz-IV-Haushalt zum Leben zur Verfügung bleibt, kann die Nürnberger Bundesagentur genau vorrechnen. So verfügt ein Single im Durchschnitt über ein Haushaltsbudget von 783 Euro im Monat. Das setzt sich zusammen über die Regelleistung, davon abgezogen werden durchschnittlich fünf Euro für Sanktionen, weil die/der Hartz-IV-Empfänger*in bestimmten Pflichten nicht nachgekommen ist. 330 Euro gehen davon für die Miete und die Heizung weg. Obendrauf kommt aber noch das, was die/der Hilfebedürftige selbst zusätzlich verdient – und davon behalten darf.

Oberhalb eines Freibetrags von 100 Euro im Monat werden laut BA 80% des Verdienstes mit Hartz IV verrechnet. Wegen dieser Zusatzverdienste ist das Haushaltsbudget mit 783 Euro geringfügig höher als der Anspruch auf die Leistungen vom Jobcenter. Es handelt sich aber um Durchschnittswerte. Das heißt nicht, dass jeder Hartz-IV-Empfänger nebenbei jobbt oder Abzüge durch eine Sanktion hat. Tatsächlich gab es im Oktober vergangenen Jahres 1,16 Mio. Hartz-IV-BezieherInnen, die erwerbstätig waren und damit die staatliche Leistung aufstocken konnten.
Die Regelleistungen liegen damit in allen Fällen unter der Armutsgefährdungsschwelle, die mit einem Einkommen von weniger als 60% des Medianeinkommens definiert wird. Durch das schmale Einkommensplus, das nach Verrechnung des Hinzuverdienstes bleibt, wird diese Schwelle teilweise knapp erreicht.

Die dringend notwendige Anhebung der Regelleistungen für Hartz-IV-BezieherInnen ist im Koalitionsvertrag der neuen Regierung nicht vorgesehen. Unisono wird sowohl von Unionsparteien wie SPD die Auffassung vertreten, das Arbeitslose das »Notwendige« bekommen. Es sei klar, »dass diejenigen, die von Hartz IV leben, nicht viel Geld haben. Gleichzeitig ist unser System eines, das Menschen das Notwendigste gibt«, so Bundeskanzlerin Merkel. Stattdessen will die neue Bundesregierung mit einer Mrd. Euro jährlich einen sozialen Arbeitsmarkt aufbauen, um 150.000 Langzeitarbeitslose wieder in Arbeit zu bringen. Das Wichtigste sei, möglichst vielen Betroffenen wieder Arbeit und »die Perspektive auf ein eigenes Einkommen zu eröffnen«, so Angela Merkel.

Der Aufbau eines sozialen Arbeitsmarkts ist zweifelsohne ein wichtiger sozialpolitischer Schritt, der allerdings finanziell zu gering dimensioniert ist.[2] Eine weitergehende Neujustierung der sozialen Sicherungssysteme wird mit Schwarz-Rot wegen der finanziellen Dimensionen und der Abkehr von bisherigen ordnungspolitischen Grundsätzen nicht zu haben sein.

 

Das System der Grundsicherung

In der »Berliner Republik« sind viele Bürger*innen auf Transferleistungen der sozialen Mindestsicherungssysteme angewiesen, um ihren grundlegenden Lebensunterhalt bestreiten zu können. Zum Jahresende 2016 erhielten in Deutschland 7,9 Mio. Menschen und damit 9,5% der Bevölkerung soziale Mindestsicherungsleistungen. Im Jahr 2015 hatten knapp 8,0 Mio. Menschen Leistungen der sozialen Mindestsicherung erhalten.

Diese existenzsichernden finanziellen Hilfen des Staates gehören in Deutschland zu den grundlegenden Charakteristika eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates. Allerdings ist die Ausgestaltung oder die laufende Anpassung dieser Unterstützungsleistungen eben auch Bestandteil der politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.

Die Transferleistungen der sozialen Mindestsicherungssysteme sind finanzielle Hilfen des Staates, die zur Sicherung des grundlegenden Lebensunterhalts an leistungsberechtigte Bürger*innen ausgezahlt werden. Folgende Leistungen werden zu den Mindestsicherungsleistungen gezählt:

- Arbeitslosengeld II/Sozialgeld nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) »Grundsicherung für Arbeitsuchende«;
- Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen im Rahmen der »Sozialhilfe« nach dem SGB XII;
- Laufende Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Rahmen der »Sozialhilfe« nach dem SGB XII;
- Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG);
- Leistungen der Kriegsopferfürsorge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Hinzu genommen werden muss in diesem Zusammenhang noch das Wohngeld, das Menschen mit niedrigen Einkommen ohne Grundsicherungsleistungen beziehen. Es wird einkommensschwächeren Haushalten gewährt, damit diese die Wohnkosten für angemessenen und familiengerechten Wohnraum tragen können. Ende 2016 bezogen rund 631.000 Haushalte Wohngeld. Das waren wegen der Wohngeldreform 2016 170.000 Haushalte mehr als Ende 2015. Ende 2016 betrug der durchschnittliche monatliche Wohngeldanspruch von reinen Wohngeldhaushalten 157 Euro, von wohngeldrechtlichen Teilhaushalten 145 Euro.

Das Niveau dieser Transferleistungen ist umstritten, weil die Leistungen eben nicht für die sozialkulturelle Existenzsicherung ausreichend sind. Ein weiteres Problem ist die beständig größer werdende Zahl der Menschen, die auf diese Existenzsicherung angewiesen sind.

Der Rückgang in 2017 gegenüber 2016 (um etwa 280.000) rührt ganz überwiegend daher, dass die Zahl der Empfänger*innen von Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz deutlich und auch die Zahl der Bezieher*innen von ALG II und Sozialgeld leicht zurückgegangen ist.

- Knapp 6,0 Mio. Menschen erhielten Ende 2017 Gesamtregelleistungen (Arbeitslosengeld II/Sozialgeld) nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II »Grundsicherung für Arbeitsuchende«; sogenanntes Hartz IV).
- Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII »Sozialhilfe« erhielten gut 1,0 Mio. Menschen. Das waren gut 30.000 mehr als 2016.
- Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bekamen rund 468.000 Menschen. Dies entspricht einem Rückgang von 36,0%. Dafür standen Mittel in Höhe von 5,9 Mrd. Euro zur Verfügung. Der Rückgang beruht insbesondere auf der hohen Zahl abgeschlossener bzw. entschiedener Asylverfahren. Die betroffenen Personen erfüllen nicht mehr die Leistungsvoraussetzungen des AsylbLG.

Einen längerfristigen Aufwärtstrend gibt es auch bei der Zahl der auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit angewiesenen Bürger*innen. 2017 waren das 620.000 Menschen mehr als noch 2003. 2017 bezogen davon 544.090 Personen Grundsicherung im Alter (2003: 258.000). Gleichzeitig stagniert seit einigen Jahren die Zahl der Langzeitarbeitslosen im Hartz-IV-System zwischen 5,8 und 6,0 Mio. Die Zahl der Kinder, die von Sozialgeld leben, ist aber seit 2010 um mehr als 140.000 gestiegen. Kinder- und Altersarmut sind in der Berliner Republik ein immer drängenderes soziales Problem.

Besonders hoch ist der Anteil der Menschen, die auf soziale Mindestsicherungsleistungen angewiesen sind in den Stadtstaaten Berlin (17,7%) und Bremen (18,0%), gefolgt von Hamburg. Aber auch in vielen Flächenländern hat sich ihr Anteil in den letzten Jahren deutlich erhöht. So ist die Quote in Nordrhein-Westfalen von 10,2% in 2010 auf nun 11,7% in 2017 gestiegen. Absolut waren das gut 2,1 Mio. Menschen, die in NRW auf Mindestsicherungsleistungen angewiesen waren. Dies entspricht mehr als 25% aller auf Mindestsicherung angewiesener Menschen in Deutschland.

Die Zahl und Quote der Mindestsicherungsempfänger*innen markieren keineswegs das ganze Ausmaß an Armut in der Berliner Republik. Denn tatsächlich beantragen Millionen Bürger*innen keine Hartz IV- oder Grundsicherungsleistungen, obwohl sie mit ihrem Netto-Einkommen einschließlich Wohngeld, Kindergeld und Kinderzuschlag über weniger als das Existenzminimum verfügen, und damit Anspruch auf soziale Unterstützung haben. Das heißt, dass sie das soziale Basisnetz nicht in Anspruch nehmen, obwohl sie wegen geringen Einkommens oder Vermögens Anspruch darauf hätten. Keine Frage: Die gesellschaftliche Diskriminierung von Armut und der bürokratische Umgang bewirken, dass viele Benachteiligte auf soziale Rechte verzichten. Zweitens können viele von Armut Betroffene das soziale Netz nicht in Anspruch nehmen, weil sie trotz Bedarf die Leistungsvoraussetzungen nicht erfüllen.

So liegt denn auch die Armutsgefährdungsquote, die den Anteil der Bevölkerung misst, der weniger als 60% des Durchschnitteinkommens zur Verfügung hat, 2017 mit 15,9% deutlich über der Quote der Empfänger*innen von Mindestsicherungsleistungen von 9,2%. Das bedeutet, dass tatsächlich etwa 13 Mio. Bürger*innen in Deutschland arm sind.

Und die Armutsgefährdungsquote hat seit 2006 trotz guter ökonomischer Rahmenbedingungen von 13,9% auf 15,9% in 2017 deutlich zugenommen. Sie lag im 2017 in allen westdeutschen Bundesländern (außer Hamburg, aber auch hier mit zuletzt wieder deutlich steigender Tendenz) über dem Niveau des Jahres 2005. Der Anstieg des Armutsrisikos war in den letzten 10 Jahren in Nordrhein-Westfalen am stärksten. Dort erhöhte sich das Armutsrisiko im Vergleich zum Jahr 2005 um 4,3 Prozentpunkte auf 18,7% im Jahr 2017.

Das bundesweit höchste Armutsrisiko wies im Jahr 2017 Bremen mit 23,0% auf, gefolgt von Sachsen-Anhalt mit 21,0%, Mecklenburg-Vorpommern mit 19,4% und Berlin mit 19,2%. Die niedrigsten Armutsgefährdungsquoten 2017 hatten – gemessen am Bundesmedian[3] – Baden-Württemberg (12,1%), Bayern (12,1%), und Hamburg (14,7%).

Armut verteilt sich nicht nur ungleich über die und innerhalb der Bundesländer, sondern auch über die verschiedenen sozialen Gruppen. Am höchsten ist die Armutsquote bei den Erwerbslosen. Hier waren 2017 57,2% von Armut betroffen. Dann folgt schon die Gruppe der Alleinerziehenden und ihre Kinder, die zu 42,8% als arm gelten müssen. Nach einer neueren Studie der Bertelsmann-Stiftung[4] liegt die Armutsquote bei den Alleinerziehenden sogar bei 68%. Von Armut überdurchschnittlich betroffen sind zudem Menschen mit Migrationshintergrund mit 28,6%. Und bei den Renter*innen ist es inzwischen so, dass ihre Armutsquote 2017 mit 16,0% über dem Durchschnitt von 15,8% gelegen hat, während sie Mitte der 2000er Jahre noch deutlich niedriger lag.

 

Schlussfolgerung

Um Armut nachhaltig zu bekämpfen und den Zukunftsängsten vieler Bürger*innen zu begegnen, ist eine Reihe von gesellschaftspolitischen Maßnahmen erforderlich, die auf eine Neujustierung des Systems der sozialen Sicherheit hinauslaufen. Dies müsste verbunden sein mit Initiativen zur Umstrukturierung der Wirtschaft und der Stabilisierung der Wertschöpfung. Dazu gehören dann auch umfangreiche staatliche Investitionen in die öffentliche Infrastruktur.

Dabei geht es erstens um eine Eindämmung der Prekarisierung der Lohnarbeit, eine Begrenzung von Leiharbeit und Werkverträgen sowie die Abschaffung der Minijobs, um den Umfang des Niedriglohnsektors, und damit das Armutsrisiko, wirksam zu begrenzen. Zweitens geht es um Strukturreformen am Arbeitsmarkt mit der weiteren Ausdehnung eines sozialen Arbeitsmarkts, der wieder verlängerten Auszahlung von ALG I, einer deutlichen Erhöhung des Mindestlohns sowie der Abschaffung des Sanktionsregimes bei Hartz IV. Drittens geht es um eine Verhinderung der weiteren Absenkung des Rentenniveaus, in der Perspektive um eine deutliche Anhebung und um armutsfeste Grundsicherungsleistungen, die den Betroffenen ein sozial-kulturelles Minimum garantieren und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sicherstellen. Dazu gehört auch eine deutliche Anhebung des Wohngelds. Schließlich geht es um die Einführung einer Kindergrundsicherung, die den Skandal von Kinderarmut in einem reichen Land wie Deutschland beendet.

Die schwarz-rote Bundesregierung will zwar die befristete Beschäftigung begrenzen, Langzeitarbeitslosigkeit eindämmen und das Rentenniveau stabilisieren, behandelt aber ansonsten das Armutsproblem eher als zu vernachlässigendes Randproblem. Armuts-und Abstiegsängsten begegnet man so sicherlich nicht.


[1] nak – Nationale Armutskonferenz, Armut stört, Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz, Oktober 2018.
[2] Vgl. dazu Bernhard Müller, Projekt »Sozialer Arbeitsmarkt«: Hoffnung für Langzeitarbeitslose, in: Sozialismus Heft 3/2018.
[3] Nimmt man den Landesmedian, der die regionalen Einkommens- und Ausgabenstrukturen besser einfängt, dann ergibt sich ein etwas anderes Bild. Dann weist z.B. Hamburg mit 18,3% die höchste Armutsquote aus.
[4] Jan Marvin Garbuszus, Notburga Ott, Sebastian Pehle, Martin Werding, Wie hat sich die Einkommenssituation von Familien entwickelt? Ein neues Messkonzept, Februar 2018.