Zeit der Diadochen

Diesmal irrte die Süddeutsche Zeitung. Am Tag nach der hessischen Landtagswahl orakelten Nico Fried und Robert Rossmann, dass sich Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag im Dezember wohl auf dem Sattel der Parteivorsitzenden halten werde, weil sich ihre möglichen Nachfolger gegenseitig blockieren würden und „keinem einzigen“ zugetraut werde, „bei einer Kandidatur gegen die CDU-Chefin zu gewinnen“. Das war schon am Tag des Erscheinens Schnee von gestern. Am 29. November verkündete Merkel, dass sie nicht mehr für den Vorsitz zur Verfügung stehe, kein anderes politisches Amt anstrebe, aber bis zum Ende der Legislaturperiode Kanzlerin bleiben wolle. Damit kam sie einem Sturz durch Dritte zuvor. Sie ist Machtfrau genug, um das geringste Vibrieren in den Fundamenten ihres Herrschaftsgebäudes richtig interpretieren zu können. Die Kanzlerin hat einiges von der Sensibilität einer Elefantin: Die nur scheinbar schwer beweglichen grauen Riesen sehen wie die Ruhe selbst aus, haben aber eine äußerst empfindliche Haut und ein erstaunliches Langzeitgedächtnis. Merkels innerparteiliche Gegner haben das immer unterschätzt und wurden mit einer für Außenstehende faszinierenden Regelmäßigkeit aus dem Spiel gekegelt.
Einer tauchte jetzt wie der berühmte Igel aus dem Grimmschen Märchen wieder auf und warf seinen Hut in den Ring um die (potenzielle) Kanzlerinnen-Nachfolge: der 2002 von ihr gestürzte damalige Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz. Merz gilt heute als führender Kopf der Konservativen in der CDU. Er bildet damit die inhaltlichen Schnittmengen zur AfD ab. Der hervorragend vernetzte eingeschworene Gegner Angela Merkels ist zudem Vorsitzender der Atlantik-Brücke. Gegen Merz stehen derzeit die Merkel-Vertraute Annegret Kramp-Karrenbauer, die Generalsekretärin der Partei, und Gesundheitsminister Jens Spahn. Spahn fiel bislang eher durch markige Sprüche als durch Sachkompetenz auf. Er gilt als Merkel-Kritiker. Wenn Kramp-Karrenbauer, wie der Spiegel notierte, zuletzt „verhalten Kritik“ am schlechten Erscheinungsbild der Koalition geäußert hatte, so ging die eher an die Adresse von Andrea Nahles und Horst Seehofer als an die der eigenen Chefin. Der einflussreiche NRW-CDU-Chef Armin Laschet hat nach einem kurzen Zögern abgewunken. Gegen Laschet ist der Parteivorsitz nicht zu machen. Sein Landesverband stellt gut ein Drittel aller Parteitagsdelegierten. Friedrich Merz ist tief im Westfälischen verankert.
Das alles hat etwas von Mikado-Spiel an sich. Dass Merkel sich weigert eine Empfehlung für die eigene Nachfolge abzugeben, hat mit zweierlei Dingen zu tun: Eine Wunschkandidatin der Kanzlerin wird mit ziemlicher Sicherheit auf dem Parteitag durchfallen. Zu oft wurde in den letzten Monaten bei jedem CDU/CSU-Debakel mit dem Finger „auf Berlin“ gezeigt, gemeint war Angela Merkel. So etwas prägt, und das Entstehen von Parteitagsmehrheiten hat in Zeiten individueller Hilflosigkeit vieler Delegierter oft mit deren Bauchgefühl zu tun. Das kann von einer unglücklichen Antrittsrede entscheidend beeinflusst werden. Andererseits dürfte die Kanzlerin angesichts der seit Jahren immer bösartiger werdenden Angriffe die Nase voll haben. Die Floskel „Merkel muss weg!“ – zuerst von Linken im Umfeld der Wahlen von 2011 in Permanenz in die Welt posaunt, mit Beginn der „Flüchtlingskrise“ 2015 von PEGIDA und in der Folge von der AfD annektiert – wurde zu einem stehenden Begriff in den politischen Auseinandersetzungen der Republik und mehr oder weniger verschämt von den Gegnern der Kanzlerin in der eigenen Partei aufgegriffen.
Der thüringische CDU-Chef Mike Mohring beschwor dieser Tage in der Ostthüringer Zeitung, dass die CDU jetzt wieder die Chance habe, „herauszustellen, für welche Möglichkeiten sie steht“ und verkündete eine „Zeitenwende“. Wie sieht die aus? Ende August befragte infratest-dimap im Auftrage des MDR das thüringische Wahlvolk: Mohrings Laden stürzte gegenüber 2017 um sieben Prozentpunkte ab, in der Fallhöhe gefolgt von der LINKEN (5 Prozent minus). Klarer Umfrage-Gewinner ist auch hier die AfD, die von 13 auf 23 Prozent zulegen konnte und DIE LINKE als zweitstärkste Kraft ablöste. Im aktuellen Thüringen-Monitor der Friedrich-Schiller-Universität Jena erklärten 95 Prozent der Befragten, dass ihnen „ihre Heimat wichtig“ sei (der Identitätsfaktor liegt im Bundesdurchschnitt bei 77 Prozent). Die Soziologen sehen einen deutlichen Zusammenhang zwischen „Heimatverbundenheit“ und der Ablehnung von Ausländern – auch ein Ergebnis der jahrzehntelange Verteufelung dieses Begriffes durch die Linken, die „Heimat“ immer als etwas leicht Faschistisches ansahen. 58 Prozent der Thüringer denken, Deutschland sei „durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“. Was meint Mike Mohring mit „Zeitenwende“? Auf Grundlage der aktuellen Zahlen und der Töne, die das regionale Spitzenpersonal beider Parteien von sich gibt, wäre in Thüringen eine CDU-AfD-Koalition denkbar. Gewählt wird dort am 27. Oktober 2019.
Die nächsten Bundestagswahlen liegen erst im Herbst 2021 an. Bis dahin wird sich die SPD weiter demontieren. Andrea Nahles hat schon erklärt, dass sie überhaupt nicht daran denke, irgendwelche Schlüsse für den Bestand der Berliner Koalition aus irgendwelchen Landtagswahlen zu ziehen. Das Ende der Großen Koalition wäre das Ende ihrer persönlichen Karriere. Peer Steinbrück – wer war das doch gleich? – beschwor jetzt die SPD, dass sie „eine Person wie Bernie Sanders braucht, nur 30 Jahre jünger“. Übersetzt: Diese Partei ist (nicht nur) personalmäßig am Ende.
In Sachsen – Wahltermin ist der 1. September 2019 – liefern sich CDU und AfD wahrscheinlich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Auch hier wäre das Rechts-Bündnis nur auszuschließen, wenn CDU und LINKE gemeinsam in die Regierung gingen. Fast dasselbe Bild ergibt sich in Sachsen-Anhalt. In den aktuellen Umfragen verlor die CDU 12 Prozent, die AfD gewann 8 Prozent dazu und wurde zweitstärkste Kraft. In Brandenburg liegt sie gleichauf (!) mit der SPD an der Spitze. Das ist kein ostdeutsches Phänomen: In Bayern erreichte der Rechtsblock im September 59 Prozent aller Stimmen. Die 10 Prozent der dortigen SPD entsprechen ihren Umfragewerten in den mitteldeutschen Ländern. In der „Zehnprozentfalle“, so die Nachdenkseiten im Juni 2018, steckt auch DIE LINKE.
Bei dieser Partei überlagern die fast seit PDS-Gründung andauernden Flügelkämpfe jeglichen auch nur einigermaßen nachvollziehbaren programmatischen Ansatz. Niemand vermag mehr zu sagen, wofür die Partei eigentlich steht. Fakt ist nur, dass Sahra Wagenknecht für das Führungspersonal der Partei derzeit als Buh-Frau für alles Ungemach steht. Damit steckt die Frontfrau von „Aufstehen“, um die es nach ihrem Fauxpas im Zusammenhang mit der „unteilbar“-Demo merkwürdig still wurde, in haargenau derselben Rolle wie ihre öffentliche Lieblingsfeindin Angela Merkel. Die „nichtöffentliche“ ist – wie umgekehrt – die eigene Parteivorsitzende. Auch das kennen wir von der CDU.
Bei Letzterer beginnen jetzt die Diadochen-Kämpfe. Die werden ausgehen wie bei den Erben Alexanders des Großen. Letztendlich triumphierte Rom … Einen „richtigen“ Gewinner wird es auch bei der CDU nicht geben. Die Partei wird nach rechts zu rutschen versuchen. Dieser Platz ist inzwischen besetzt. Die Union wird sich in der Perspektive in einem ähnlichen Niedergangsprozess wiederfinden wie die Sozialdemokratie.
In Deutschland verändert sich die Parteienlandschaft derzeit ebenso gründlich wie bei unseren Nachbarn. Der von kaum einem erwartete Aufstieg der Grünen zu einer „neuen“ linksbürgerlichen Sammlungspartei ist ein Indiz dafür. Vielleicht vermag wenigstens das die wieder einmal drohende deutsche „Götterdämmerung“ aufzuhalten. Von den anderen ist momentan nichts zu erwarten.