Gegen das offizielle Blabla über den Faschismus

in (08.09.2000)

Was für eine Kälte

Muß über die Leute gekommen sein!

Wer schlägt da so auf sie ein,

Daß sie jetzt so durch und durch erkaltet?

So helft ihnen doch! Und tut es in Bälde!

Sonst passiert euch etwas,

was ihr nicht für möglich haltet!
(Bertolt Brecht)

Es kann in einem Aufruf gegen den Faschismus keine Aufrichtigkeit liegen, wenn die gesellschaftlichen Zustände, die ihn mit Naturnotwendigkeit erzeugen, in ihm nicht angetastet werden. Um in seinen Entscheidungskampf einzutreten, muß der Kapitalismus sich aller, auch der letzten Hemmungen entledigen und alle seine eigenen Begriffe, wie Freiheit, Gerechtigkeit, Persönlichkeit, selbst Konkurrenz, einen nach dem andern über Bord werfen. So tritt eine einstmals große und revolutionäre Ideologie in der niedrigsten Form gemeinen Schwindels, frechster Bestechlichkeit, brutalster Feigheit, eben in faschistischer Form, zu ihrem Endkampf an, und der Bürger verläßt den Kampfplatz nicht, bevor er seine allerdreckigste Erscheinung angenommen
hat.


(Bertolt Brecht)

Diese allerdreckigste Erscheinung sieht uns jetzt an, sieht uns so offen an, daß kein "normaler" Staat ein Feigenblatt finden kann, das dreckige Gesicht auf Deutschlands Straßen weiter zu verhüllen.

Dem von Beginn an blinden und nun "normalen" Staat muß man sagen: Fa-schismus schleppt sich - zunächst mit verhangenen Zügeln, wie die Kinderpro-stitution nach Tschechien - überall dort über die früheren Grenzen, wo das Ka-pital "hoch auf dem gelben Wagen" des Neoliberalismus die Zügel führt.

Faschismus gibt es seit dem Epochenbruch, seit der neuen Weltordnung, von Moskau bis New York. Hetzmaterial in vielen Sprachen und in großen Massen ist ein Exportschlager aus Amerika.

Nach dem Epochenbruch konnte der deutsche Staat Ausländerfeindlichkeit schnell hoffähig machen: Entrechtung der Asylsuchenden, "Festung Europa", gewaltsame Abschiebung. Und zuletzt eine Goebbelssche Hetzpropaganda ge-gen Jugoslawien. "Das ist Auschwitz", sagte der deutsche Staat und klagte, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Volk an, von dem er wußte, daß es den deut-schen Faschismus eigenhändig ohne Hilfe Rußlands, ohne Hilfe Amerikas unter enormen Opfern aus seinem Land gejagt hat; auch aus dem Kosovo, der für den italienischen Faschismus in Begeisterung verfallen war, auch aus Kroatien, das dem deutschen Faschismus eilfertig Konzentrationslager für die Serben gebaut hatte.

Brecht konnte natürlich nur in ein Deutschland zurückkehren, in dem der Fa-schismus von rechtswegen verboten war, und nicht in ein Deutschland, in dem über Rechtswege Nazirichter wieder Recht sprachen. (Alles bekannt! Alles ver-gessen! Alles Geschichte! Alles was ein "normaler" und moderner Staat in den Mülleimer der Geschichte kippt!)

Vor einiger Zeit fiel es der großen Wochenzeitung Die Zeit ein, über das klei-ne Ostdeutschland nachzudenken. Als sie damit zuende gekommen war, stachen die Zeitungsbuchstaben den östlichen Leser mit einer für die Zeitung nicht zu enträtselnden Frage tief in die Augen. Es fragte das Schwarze auf dem weißen Papier in verwirrtem Staunen: "Warum ist der Osten so ruhig?" Der Satz, der so fragt, weiß wenig; weiß nicht: daß die Ruhe eine besondere Form der Bewegung ist. Er stellt eine eitle und auch ein wenig verlogene Frage, weil Heiner Müllers Antwort allgemein verständlich ist: "Die Arbeitslosigkeit geht durchs Land wie ein neues Gespenst der Furcht, das keine Stasi braucht, um die Menschen einzu-schüchtern."

Der Arbeitslosigkeit und der allgemeinen Entwürdigung, die vor zehn Jahren sofort mit faschistischer Gesinnung einhergingen ("Ossis stinken", zitierte Der Spiegel), ist etwas Drittes hinzugefügt worden. Dieses Dritte, das mit dem aus-gestreckten Finger großer Unternehmer aus dem Westen auf die fünf Länder zeigt, könnte jene besondere Form der Ruhe jetzt in Bewegung bringen. Denn der Faschismus, der aus der Freiheit kommt und mit dem diese Unternehmer jahrzehntelang vergnüglich zusammen gelebt haben, der aus "Juden stinken" flink "Ossis stinken" machte und bei der Maueröffnung in noch flinkeren Stie-feln zum Brandenburger Tor lief und schrie: "Wir wollen rein" und sogleich auf Bertolt Brechts Grab SAU JUDE schrieb - dieser Faschismus soll nun als das Übel, als böses Erbteil des Sozialismus den Bürgern auf dem kapitalistischen Markt verkauft werden. Dieser Markt, auf dem das nun ausgeschrien wird, kann den Osten nach den Erniedrigungen in diesen zehn Jahren und seiner trotzdem so "erstaunlichen Ruhe" in eine zornbeflügelte Stimmung geraten lassen, weil auch das Maß gemeinsten Schwindels in der Maßlosigkeit zerfällt.

Mit solchen ausgestreckten Fingern schaffen die bekannten Unternehmer von Auschwitz, die in den Medien nun den Osten traktieren, was der Staat nicht wol-len kann, aber wollen muß: schaffen Stimmung für den Bürgerkrieg, den sie dann von der Politik bekämpfen lassen, weil sie ihre historische Verknüpfung mit dem Faschismus nur in immer neuen Feuern verbrennen können: Feuern, die sie mit der zunehmenden Armut im Osten entfachen: In zehn Jahren stieg die Armut im Osten um zehn Prozent; in Osteuropa hungern jetzt 26 Millionen Menschen (UN Weltbericht November 99). Mit diesem Anspruch an die Welt, arm zu bleiben, prostituieren die Unternehmer erfolgreich die Freiheit und De-mokratie in der Welt, bis sie als "Tyrannis über die Völker kommt" (Sokrates).

Der weise Sokrates wußte es vor 2400 Jahren, daß die totale Freiheit zur tota-litären Freiheit wird und die Demokratie, wenn sie die Ausbeutung und die Ge-walt freiläßt, aus der in ihren Eingeweiden wohnenden Logik in die Tyrannis fallen muß. "Bei dem Tempo, das der Neoliberalismus jetzt vorlegt, wird bald auch die Luft privatisiert sein, und dann werden die Experten eintreffen und er-klären, daß diejenigen, die Luft gratis verbrauchen, ihren Wert nicht zu schätzen wissen und es deshalb nicht verdienen zu atmen." (Eduardo Galeano) "Das or-ganisierte Verbrechertum ist das höchste Stadium und die Essenz des Kapitalis-mus selbst. Wo die totalitär gewordene Warenrationalität und die weltweite Verblendung wüten, sind das Gemeinwohl, der Staat, das Gesetz in höchster Ge-fahr. Die demokratische Gesellschaft wird ihrer Immunkräfte beraubt." (Jean Ziegler)

Solange der Osten noch atmet, können aber die Unternehmer von Auschwitz, die alles umdrehen, dem Osten auch noch zurufen, daß er selbst schuld ist, weil er die braune Pest vor zehn Jahren durch sein Tor ließ. Der Markt verlangt eine immer größere Schizophrenie und eine immer höhere Spezialisierung auf dem Gebiet des Verbrechens. Die Erziehung zu kriminellem Denken und Handeln auf diesem Markt macht besonders vor den demokratischen Parteien und ihren Regierungen nicht halt. Der Standort Auschwitz war für diese Wirtschaft keinen Augenblick lang in Deutschland gefährdet, er war völlig konkurrenzlos auf dem Globus und insofern für einen Kapitalisten ideal; ein Ziel aufs innigste zu wün-schen; nicht mehr erreichbar mit Billiglöhnen, wenn ihnen der Hungerlohn nicht auf dem Fuße folgt. Weil dem Unternehmertum alles Beute ist wie einem wilden Tier, gehörte zur Logik des deutschen Unternehmertums in Auschwitz der Tod durch Arbeit.

Trotz des schon einmal erfolgten Sturzes der Demokratie in die Tyrannis auf deutschem Boden, trotz der Wiedergeburt des Faschismus nun in ganz Deutsch-land möchte ich mich mit der fast schon erblindeten Hoffnung nicht gegenüber jenem Mitleid verschließen, das Brecht mit den verführten Soldaten hatte, die für den deutschen Faschismus morden gingen bis zu den Toren Berlins, bis zum großen Ruinenfeld dieser Stadt. Ich möchte diesen zum zweiten Mal Verführten in Deutschland mit Bertolt Brecht sagen: "Seht unsere Söhne taub und blutbe-fleckt... ach, selbst der Wolf braucht, der die Zähne bleckt, ein Schlupfloch. Wärmt sie. Es ist ihnen kalt."

Und es wird kälter in Deutschland.

Die Redaktion OSSIETZKY im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin, ist per e-mail zu erreichen unter der Adresse ESPOO@t-online.de