Übergangssituation

Entwicklungstendenzen der Weltwirtschaft

Wie ist die konjunkturelle Situation in der Mitte des Jahres einzuschätzen?

Die Bundesrepublik Deutschland steckt in einer hartnäckigen Gemengelage von gesellschaftlichen Problemen fest. Zwar hat die Beteiligung am Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien die Gewichte und Perspektiven z.T. verschoben, aber für den Großteil der Bevölkerung sind die Probleme der Neuordnung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die Reform des Gesundheitssystems und der gesetzlichen Krankenversicherung, weiter drohende Sozialkürzungen im Zusammenhang der nächsten Schritte der Steuerreform oder auch die Reform des Staatsbürgerrechtes wichtiger als die NATO-Politik auf dem Balkan. Die Regierung Schröder-Fischer, die nach eingestandenen Anfangsschwierigkeiten und handwerklichen Fehlern von den Medien eine zweite Chance zugestanden bekam, kann nach wie vor weder mit überzeugenden Reformschritten noch mit effizienter Verwaltungsarbeit aufwarten.

In diesem Negativszenario hat sich ein Faktor weit positiver entwickelt als erwartet: die Konjunktur. Die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute bringen die günstige Perspektive für die Konjunktur auf den Punkt: "Der konjunkturelle Aufschwung in Deutschland und im übrigen Europa ist im vergangenen Jahr infolge der wirtschaftlichen Entwicklung ins Stocken geraten. Ein Anhalten der Konjunkturschwäche oder gar ein Abgleiten in die Rezession droht gleichwohl nach Meinung der Institute nicht. Die sich mittlerweile abzeichnende Stabilisierung in einem Teil der Krisenländer und nicht zuletzt der Kurs der Geld- und Finanzpolitik lassen vielmehr eine Rückkehr zu einer zügigen Aufwärtsentwicklung erwarten... Trotz dieser günstigen Perspektive für die Konjunktur bleiben die Kernprobleme der deutschen Wirtschaft bestehen."1 Immerhin mußten sich Wirtschaft und Politik für das laufende Jahr mit einer deutlichen Abschwächung des Wirtschaftswachstums auf unter 2 Prozent (1,5-1,7%) arrangieren, was aber angesichts der ursprünglichen Bedrohungskulisse und einer sich abzeichnenden Aufschwungsbewegung als vorübergehendes Übel erscheint.

Krise der "Dritten Welt"

Während also hierzulande der Optimismus triumphiert - die Aussichten für den Export scheinen positiv, weil die Lage in den ostasiatischen Schwellenländern sich deutlich bessert, in Lateinamerika die Krise den Tiefpunkt durchlaufen hat und allein die ökonomisch-politische Entwicklung in Rußland unbefriedigend bleibt -, warnt die Weltbank davor, diese eurozentristische Sichtweise zu verallgemeinern. Denn die Folgen der Finanzkrise gefährden die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in den Entwicklungsländern. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert nimmt die Armut deutlich zu, die Einschulungsquote der Kinder geht zurück, und die Verschlechterung der gesundlichen Versorgung zeigt sich in einigen Regionen in der deutlichen Abnahme der durchschnittlichen Lebenserwartung. "Der Wachstumseinbruch in Asien und Lateinamerika sowie die unsichere Entwicklung in Rußland sowie in den ehemals zur Sowjetunion gehörenden Transformationsländern haben überall zu einem Rückgang des Lebensstandards und zu wachsenden Armutszahlen geführt. 1989 haben in der Sowjetunion 14 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze gelebt, jetzt sind hingegen 147 Millionen Menschen arm."2

Die größten wirtschaftlichen Verluste mußten die ostasiatischen Krisenländer hinnehmen. Hier zeichnet sich eine Besserung ab. Allerdings hält sich der Optimismus hinsichtlich einer Trendwende in Grenzen, wenn man bedenkt, daß die reichen OECD-Staaten entgegen ihrer Selbstverpflichtung nicht 0,7% ihres Sozialprodukts für Entwicklungshilfe aufwenden, sondern nur noch 0,22%. Eine zweite verlorene Entwicklungsdekade - wie während der lateinamerikanischen Schuldenkrise - kann sich die Welt nicht mehr leisten.

Wir sind mit einem Widerspruch konfrontiert: Der übliche konjunkturelle Wachstumszyklus ist dieses Mal durch die ostasiatische Finanzkrise ausgelöst worden. Die Zahlungsunfähigkeit des russischen Staates und der dadurch bedingte Zusammenbruch des Bankensystems und des nationalen Finanzmarktes hat die Abschwungbewegung der Weltwirtschaft ebenso verstärkt wie die Währungsturbulenzen in Lateinamerika. Daher hat sich "die Weltkonjunktur ... seit dem vergangenen Sommer nochmals verlangsamt. Das war eine Folge der Krise in Asien, deren Wirkungen zunehmend in den Industrieländern spürbar wurden. Hinzu kamen die Produktionseinbrüche in Rußland und in Südamerika."3 Die Stabilisierung der Lage in den Krisenregionen - mit Ausnahme Rußlands - erlaubt die Prognose, daß in den kapitalistischen Metropolen eine rezessive Entwicklung unwahrscheinlich ist. Allerdings sind die sozialen und ökonomischen Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise für die große Mehrheit der Weltbevölkerung noch keineswegs überstanden. Die positiven Aussichten für Nordamerika und Europa sollten nicht den Blick dafür verstellen, daß Südostasien und Lateinamerika von einem gefährlichen Rückschlag in der Entwicklung bedroht sind.

Expansive Konjunkturpolitik in Japan

Auch Japan paßt nicht in das konjunkturelle Schönwetterbild, das in Nordamerika und Europa gezeichnet wird. Die Talfahrt, die zum Jahresende 1997 einsetzte, verstärkte sich im Verlauf des letzten Jahres. Das reale Bruttoinlandsprodukt ging um 2,8% zurück. Unter dem Eindruck der ostasiatischen Finanzkrise und massiver Pression der anderen kapitalistischen Länder ist in Japan in mehreren Schritten das wohl umfangreichste Stabilisierungsprogramm aufgelegt worden:

- im April '98 ein Konjunkturprogramm in Höhe von 16.700 Mrd. Yen = 3,3% des BIP;
- im November '98 ein zweites Paket in Höhe von 24.200 Mrd. Yen = 4,8% BIP;
- im Oktober '98 ein Rekapitalisierungsprogramm für den Bankensektor in Höhe von 60.000 Mrd. Yen = 12% des BIP;
- außerdem senkte die Bank von Japan ihre Zinsen für Tagesgeld von 0,5% auf 0,25% im September '98, und im Februar '99 wurde der Satz auf 0,15% zurückgenommen.

Trotz dieser wahrlich expansiven Wirtschaftspolitik wird das Bruttoinlandsprodukt auch 1999 rund 0,5% hinter dem Vorjahr zurückbleiben. Die extreme Versorgung der Wirtschaft mit Liquidität verhindert eine massive Krise des japanischen Banken- und Finanzsektors; zugleich wird durch die kreditfinanzierten Sanierungsprogramme die Überschuldung des öffentlichen Sektors gesteigert. Ohne die Politik des "leichten Geldes" wäre zudem die spekulative Überreizung der südostasiatischen Vermögenskonjunktur kaum zustandegekommen.

Die vorläufige Rettung des japanischen Bankensektors und des internationalen Finanzsystems ist teuer erkauft worden. Ein Ende des Sanierungskurses ist zudem nicht absehbar: Von einer Überwindung der chronischen Depression - die mittlerweile seit dem Börsen- und Finanzcrash des Jahres 1990 anhält - kann schon deshalb keine Rede sein, weil der Sanierungsprozeß mit einer - bislang freilich verdeckten - Zerrüttung der öffentlichen Finanzen erkauft worden ist.

Infolge des Rekapitalisierungsprogramms für den Bankensektor ist der Verfall der Vermögenswerte (Aktien, Rentenpapiere und Immobilienpreise) leicht korrigiert worden. Das Ausmaß der chronischen Überakkumulation zeigt sich aber bei der Auslastung des realwirtschaftlichen Kapitalstocks: Der auf Grund von fehlender Nachfrage ungenutzte Kapitalstock (Fabriken, Maschinen, Werkzeuge, Industrieland) hat nach einer Untersuchung des Wirtschaftsplanungsamtes (EPA) im dritten Quartal des Jahres 1998 auf 85 Billionen Yen bzw. rund 17% des jährlichen Bruttoinlandsprodukts zugenommen.4 Selbst wenn man diese Daten nur als eine grobe Schätzung klassifiziert, wird die Größenordnung des Problems sichtbar. Zur Zeit erreicht das Volumen des überakkumulierten Kapitals in etwa die Größenordnung des jährlichen Investitionsvolumens der japanischen Unternehmen auf dem Binnenmarkt. Es steckt zuviel Kapital in unrentablen Projekten, und auch ein nationales Konjunkturprogramm mit extrem niedrigen Zinssätzen und Nachfrageimpulsen in der Größenordnung von rund 8% des BIP reicht nicht aus, eine dauerhafte Trendwende in den Strukturproblemen einzuleiten. Man kommt an der Schlußfolgerung nicht vorbei: Der Übergang in einen neuen Konjunktur- und Wirtschaftszyklus ist sowohl durch eine weitgehende Abkopplung der Ökonomien an der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems gefährdet, als auch durch ein massives Ungleichgewicht in der Triade von Nordamerika, Westeuropa und Japan.

Dauerhafte Prosperität in den USA?

Die USA fungieren derzeit als Konjunkturlokomotive. "In den USA erhöhte sich das reale Bruttoinlandsprodukt 1998 mit 3,9 Prozent ebenso stark wie im Vorjahr, und die Konjunktur blieb bis zuletzt sehr dynamisch... Besonders kräftig wurde dabei der private Konsum ausgeweitet. Die privaten Haushalte verwendeten vor dem Hintergrund der Vermögenszuwächse im Zuge der Aktienhausse ihre verfügbaren Einkommen zunehmend für den Konsum; die Sparquote wurde zeitweise sogar negativ."5 Die Sonnen- und Schattenseite der US-Ökonomie grenzen sich scharf voneinander ab. Die Binnenkonjunktur boomt, die Arbeitslosenquote ist auf ein jahrzehntelanges Tief von 4,3% gefallen. Unbestritten ist aber auch, daß in den letzten beiden Jahrzehnten die Spreizung der Arbeitseinkommen und generell die Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung stark zugenommen hat. Der Preis für das Wirtschaftswachstum und die historisch niedrige Arbeitslosigkeit ist die Verschärfung sozialer Ungleichheit.

Notenbankpräsident Greenspan sieht die hohen Außenhandelsdefizite, die minimale Sparquote und die überzogenen Preissteigerungen der Vermögenswerte mit Sorge. Sollte der "sanfte Übergang" in den neuen Konjunkturzyklus verpatzt werden, wäre eine Korrektur der hohen Steigerungen bei den Vermögenswerten unvermeidlich, und der folgende Rückschlag könnte - angesichts der labilen Verhältnisse in der Globalökonomie - eine weltweite Rezession auslösen.

Eine Abschwungbewegung in Nordamerika droht weniger von einer inflationären Überhitzung der Ökonomie. Nach wie vor ist das Rohstoffpreisniveau angesichts der Rezession in großen Teilen der Peripherie niedrig - die Steigerungen beim Rohöl und damit der Energiepreise in den letzten Monaten können nicht verallgemeinert werden - und von Knappheit auf dem Arbeitsmarkt kann auch in den USA noch keine Rede sein. Ein solcher Rückschlag könnte vielmehr von einer Trendwende bei den Kapitalzinsen ausgelöst werden. Diese bewegten sich in allen kapitalistischen Hauptländern nach unten, was zunächst mit einem reichlichen Angebot an Leihkapital zu tun hat. Zudem verstärkt die Konsolidierungspolitik in nahezu allen kapitalistischen Metropolen das Überangebot an anlagesuchendem Geldkapital. Schließlich hat auch die Umschichtung von Finanzanlagen aus der Peripherie in die sichereren Metropolen die Tendenz zur Verbilligung des Leihkapitals verstärkt. Zwar ist in jüngster Zeit ein leichtes Anziehen der Zinsen erkennbar, aber - zumindest für die kapitalistischen Hauptländer - bleibt das niedrige Niveau der Realzinsen bestimmend.

Es ist durchaus vorstellbar, daß die leichte Abschwächung auch der US-Konjunktur nicht in eine rezessive Entwicklung übergeht. Wird eine solche "sanfte Landung" in den USA begleitet von einer Erholung in Europa sowie einer Stabilisierung in Japan und an der Peripherie (Südostasien, Lateinamerika) könnte der Übergang in den neuen Konjunkturzyklus einigermaßen glatt erfolgen. Doch zumindest bis zum Herbst '99 bleibt es bei der fragilen Übergangssituation. Erst dann kann von einer sich wechselseitig verstärkenden Aufschwungbewegung ausgegangen werden. Allerdings dürfte weder die strukturelle Überakkumulation in Japan noch die Absturzbewegung in einigen Ländern an der Peripherie damit überwunden werden. Können die Wechselkursverhältnisse bis dahin einigermaßen stabil gehalten werden und verzichten die politischen Klassen in Europa auf Austeritätsprogramme, wäre zumindest Zeit gewonnen für Reformprogramme, mit denen der chronischen Überakkumulation zu Leibe gerückt werden könnte.

Joachim Bischoff ist Redakteur von Sozialismus.

1 DIW-Wochenbericht 17/1999, S. 311.
2 FAZ, 27.4.99, S. 17.
3 DIW-Wochenbericht 17/1999, S. 281.
4 NZZ, 23.3.1999, S. 10.
5 DIW-Wochenbericht 17/1999, S. 288.