Bemerkungen zur Nähe von Neoliberalismus und Rechtsextremismus

Die Grundlagen der Politik offizieller RepräsentInnen der Berliner Republik und des organisierten Rechtsextremismus liegen nicht weit auseinander - Schnittstelle beider Entwürfe der Neoliberalismus.

Der moderne Rechtsextremismus kann, zumindest, was die bedeutenderen Parteien angeht, als der politische Arm des Neoliberalismus gesehen werden, die Bewegung sozusagen, der sich offenbar selbst die Sozialdemokratie und bestimmte Modernisiererfraktionen in den Gewerkschaften nicht entziehen können. Mit dem Begriff der "Bewegung" ist die Frage nach dem Zusammenhang von Neoliberalismus und Faschismus angedeutet, ein Zusammenhang, der sich nicht einfach auf der Oberfläche erschließen läßt, denn Führerkult etwa oder Völkisches läßt sich in der neoliberalen Theorie so recht nicht nachweisen. Doch die modernen rechtsextremen Parteien benutzen als theoretische Basis ausdrücklich den Neoliberalismus - besonders F. von Hayek wird oft und positiv zitiert. - und distanzieren sich oft nur unter Druck vom historischen Faschismus, so Haider von der Waffen-SS oder Le Pen von seinen abwiegelnden Aussagen zur Shoa, oder sie bewerten die Ära des Faschismus rundheraus positiv - so Gianfranco Fini.
All das scheint widersprüchlich und veranlaßt beispielsweise den Kommandanten Marcos aus Chiapas in einem Aufsatz in Le Monde Diplomatique, vom modernen "liberalen Faschismus" als einem Oxymoron zu sprechen, also eine Analogie zur Figur des "dunklen Lichtes" - wie Marcos seinen Beitrag mit einem Zitat von Jorge Luis Borges einleitet. Ohne Zweifel kann die lyrische Figur des Oxymorons beim Erahnen des Zusammenhangs von Rechtsextremismus und Neoliberalismus weiterhelfen. Zu erinnern ist Trakls Metapher von "Engeln, von deren Flügel Würmer tropfen" oder an Lorcas Zeilen aus Este es el prólogo: "Der Dichter versteht alles Unverstehbare. Und Dinge, die sich hassen: Er erklärt sie zu Freunden." Die Freundschaft zwischen Neoliberalismus und Rechtsextremismus ist jedoch bei näherem Hinsehen so obskur nicht, dass sie nicht intellektuell - außerhalb der Lyrik - erfaßt werden könnte. Wir haben es beim liberalen Faschismus durchaus nicht mit einem Oxymoron, einer contradictio in adjectu zu tun, sondern mit einem geschlossenen Entwurf.
Der Hinweis ist trivial, aber dennoch wesentlich: Um eine einigermaßen klare Vorstellung von Neoliberalismus zu gewinnen, ist dessen Entwurf der Gesellschaft zu bestimmen. Wie eigentlich sieht eine neoliberale Gesellschaft aus, wenn man etwa Hayek, Friedman, Buchanan, Becker zu Wort kommen läßt?
Auf welcher Grundlage nach neoliberalem Verständnis eine "freie" Gesellschaft funktioniert, haben Alchian und Allen in lehrbuchhafter Akkuratesse in ihrer Einführung "Exchange and Production, Theory in Use" dargestellt: Die Menschen leben (und verhalten sich) ihrer Ansicht nach unter der Bedingung der Knappheit von Gütern. Die Analyse ihres Verhaltens hat geht aus von der Setzung von zwei "Beobachtungen" und fünf "Postulaten": Die "Beobachtungen" lauten:
1) Die Einheit der Analyse ist das Individuum. (Im Gegensatz zur klassischen politischen Ökonomie ist demnach nicht die gesellschaftliche Klasse methodischer Bezugspunkt);
2) niemand kann die Zukunft vollständig voraussehen.
Die "Postulate", die als "Haupteigenschaften der menschlichen Natur" verstanden werden,sind:
ï‚· Jede Person strebt eine Vielzahl von Gütern an. Gut bedeutet hier jedes gewünschte Dasein (entity) oder Ziel;
ï‚· für jede Person sind einige Güter knapp;
ï‚· eine Person ist bereit, einige ihrer Güter zu opfern, um mehr von den anderen Gütern zu erhalten (Substitution);
ï‚· die persönliche Bewertung jedes Gutes durch ein Individuum hängt davon ab, wieviel es von dem betreffenden Gut besitzt; je mehr es davon besitzt, um so geringer bewertet es das Gut (fallender Grenznutzen);
ï‚· nicht alle Leute haben identische Präferenz-Schemata.
Leben ist Kapitalismus
Wichtig im weiterführenden Raisonnement ist, dass alles, auch menschliche Eigenschaften, als "Güter" gelten und einen Preis haben, so nicht nur materielle Güter, sondern auch psychische, moralische, geistige, intellektuelle, dass diese Güter unterschiedliche Wertschätzungen erfahren, so dass sich menschliches Verhalten durch ein umfassendes System relativer Preise beschreiben läßt. Beckers "Economics of Suicide" ist hierfür ein besonders gelungenes Beispiel: Der Mensch begeht Selbstmord, wenn der (subjektiv eingeschätzte) Schrecken des Lebens den des Todes überwiegt. Güterabwägung und der so motivierte Austausch der Güter ist das grundlegende und einzige Bewegungsmoment der Individuen und, indem diese auf dem Markt durch den Wettbewerb koordiniert sind, der Gesellschaft. Diese Gesellschaft wird als "acquisitive", d.h. als auf Erwerb ausgerichtet und gewinnsüchtig, in diesem Sinn auch als (lern)begierig gekennzeichnet. "Der Überlebenswert dieses Charakterzuges für das Individuum und für die Spezies im evolutionären Selektionsprozeß kann ein Faktor gewesen sein für die nachfolgende Dominanz der "aquisitiven" Spezies."
Das Verhalten der Menschen zueinander wird als ein reines Benutzungsverhältnis aufgefaßt. Nichts entgeht diesem definitorischen Zugriff: Alles Verhalten ist rechenhafter Tausch. Die genannten fünf Postulate als "Haupteigenschaften der menschlichen Natur" sind so festgelegt, dass jede menschliche Handlung und Empfindung darunter subsumiert werden kann. Für eine ernst zu nehmende Psychologie oder Sozialpsychologie (so in der Tradition von Freud) oder für eine Geschichtswissenschaft, die diese Bezeichnung verdient, sind diese "Grundvoraussetzungen" für menschlichen Verhalten nicht haltbar. Sie sind allenfalls als Symptome (massenhafter) psychischer Deformation zu begreifen.
Wichtig ist ebenfalls der Hinweis auf den evolutionären Selektionsprozeß. Damit wird bereits suggeriert, dass einzig die gewinnsüchtige, die - in diesem Rahmen - (lern)begierige Gesellschaft eine Überlebenschance im "Kampf ums Dasein" hat. Im Sinne des Überlebens wird damit der Kapitalismus in der neoliberalen Weltsicht zur Vervollkommnung der Menschheit: Leben ist Kapitalismus.
In seinen "Grundsätzen einer liberalen Gesellschaftsordnung" nennt Hayek seine "große", seine "offene" neoliberale Gesellschaft "Katallaxie". Damit soll, so Hayek, deutlich werden, dass Handel treiben das Wesen der Gesellschaft ist, eben weil das griechische Verb "katallaktein" mit seinen beiden Bedeutungen "Handel treiben" und "in die Gesellschaft aufnehmen" dies angemessen anspreche. Welche Gesellschaft die in dieser Weise Sozialisierten herausbilden werden, davon entwickeln Nozick (Anarchie, Staat, Utopie) und Buchanan (Die Grenzen der Freiheit) eine umfassende Vorstellung. Ihrer Auffassung nach verfügen die Individuen in jedem Zeitpunkt über eine bestimmte Ausstattung mit Gütern in der bereits genannten, umfassenden Definition, so Arbeitskraft, Schönheit, Produktionsmittel, Güte. Jeder möchte im Sinne der zwei Beobachtungen und fünf Postulate seinen individuellen Nutzen maximieren, und so wird er das, wovon er relativ reichlich hat, eintauschen gegen das, was ihm fehlt. Das besondere an einer entwickelten Marktwirtschaft ist nun, dass die oder der Schöne (Arbeitsfähige, Gütige) sich als Person nicht ganz verkaufen muß, sondern Leistungen, die sich auf diese Ausstattung gründen, zum Markt getragen werden. Im Falle des Realkapitals (der Produktionsmittel) bereitet dies möglicherweise einiges Kopfzerbrechen, aber die moderne Wirtschaftstheorie kann auch diese Frage lösen: Die Arbeitskraft heuert die Dienste des Kapitals, um produktiv zu werden und teilt mit diesem das Produktionsergebnis. Die Freiheit, die das System gewährt, besteht darin, dass jeder seine eigennützigen Ziele (die Maximierung des Nutzens) am Markt verfolgen kann.
Die Aufgabe des Staates ist, diese Lizenz umfassend zu schützen. Er muß das Privateigentum gewährleisten (also das Eigentum an der jeweiligen persönlichen Ausstattung), die Vertragsfreiheit und Vertragsvollstreckung, den freien Zutritt zum Markt, den Wettbewerb. Würde all dies nicht garantiert, wäre ein geregelter Tausch nicht möglich. Dass sich die Individuen in ihrem eigenen Interesse auf einen solchen Staat stillschweigend einigen können, liegt auf der Hand: Denn gäbe es dieses Arrangement nicht (Buchanan usurpiert hier den klassischen Begriff des "Gesellschaftsvertrages"), müßten die Individuen erhebliche Ressourcen aufwenden, um ihr Eigentum zu schützen, im Tausch die Gegenleistung zu erzwingen, eine Gelegenheit zum Tausch zu erkämpfen. Davon, dass der Tausch höchst ungleich sein kann, weil Macht und Eigentum recht ungleich verteilt sind, ist in dieser Gesellschaftsvertragstheorie nicht die Rede. "Freiheit" ist anders zu verstehen "Auch wenn ihn selbst (ein beliebiges Individuum, H.S.) und vielleicht seine Familie die Gefahr des Hungers bedroht und ihn zwingt, eine ihm widerwärtige Beschäftigung für einen sehr geringen Lohn anzunehmen und er der Gnade es einzigen Menschen ausgeliefert ist, der bereit ist, ihn zu beschäftigen, so ist er doch weder von diesem noch von irgend jemand anderem in unserem Sinne gezwungen. Solange die Handlung, die seine Schwierigkeiten verursacht hat, nicht bezweckte, ihn zu bestimmten Handlungen und Unterlassungen zu zwingen, solange die Absicht der Handlung, die ihn schädigt, nicht die ist, ihn in den Dienst der Ziele eines anderen zu stellen, ist ihre Wirkung auf seine Freiheit keine andere als die einer Naturkatastrophe - eines Feuers oder einer Überschwemmung, die sein Heim zerstört, oder eines Unfalles, die seine Gesundheit schädigt."
Nun ist unmittelbar einleuchtend, dass nicht nur der Begriff der Freiheit diesem Tauschwesen angepaßt werden muß: Die Gerechtigkeit ist ähnlich zu verballhornen. Sie existiert nur noch in der Form "prozeduraler Gerechtigkeit" (Nozick), d.h. gegeben die Ausstattung der Individuen und der besonderen Freiheitsbegriff, kann sich Gerechtigkeit nur noch auf den Tauschvorgang im engeren Sinne beziehen. Gerecht ist die Prozedur dann, wenn niemand beim Tausch (etwa durch Zwang) Nutzen einbüßt, sondern wenn beide Tauschpartner Nutzen dazu gewinnen: Massenarbeitslosigkeit oder miserable Arbeitsbedingungen sind offenbar mit diesem Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit vereinbar.
Auslese und Unterwerfung
Was hat eine solche Marktgesellschaft nun mit dem Rechtsextremismus oder dem traditionellen Faschismus zu tun? Zwei Dinge sind hier besonders wichtig, nämlich die Bestimmungsgründe für die Entwicklung der Gesellschaft und die Frage danach, wie verhindert werden kann, dass sich benachteiligte Individuen zu Kollektiven zusammenfinden und gegen die Regeln dieser Gesellschaft angehen.
Der ausdrückliche Vorsatz der Neoklassik bestand darin, in Gegnerschaft zur Klassik den Entwicklungsgedanken aus den Wirtschaftswissenschaften heraus zu halten. Die Perspektiven des Systems sollten weder revolutionär gedeutet werden (Marx) noch pessimistisch, wie dies etwa Malthus mit seinem Bevölkerungsgesetz nahelegte. Diese Enthaltsamkeit findet mit dem Neoliberalismus sein Ende. Vielmehr ist die gesellschaftliche Entwicklung nun, wie Hayek dies nennt, durch einen "Siebungsvorgang" bestimmt. Dieser Vorgang ist eng mit Lernen verknüpft - oder anders, der Gesichtspunkt des Lernens bei diesem Siebungsvorgang kann am leichtesten deutlich machen, was die Entwicklung treibt. Der Mensch lernt, so Hayek, durch die Enttäuschung von Erwartungen. Dies ist Lernen durch Versuch und Irrtum, d.h. durch Dressur und Konditionierung. Dies hat nichts zu tun mit einsichtigem Lernen, bei dem die Struktur der Sache bewußt und evident wird. Was nun wird durch Dressur in dieser aquisitiven, der (lern)begierigen Tauschgesellschaft erlernt, und wer lernt von wem? Gelernt wird von den Erfolgreichen, und da alles auf individuelle Nutzenmaximierung zugeschnitten ist, können nur individuellen Überlebens- und Bereicherungspraktiken erlernt werden - nicht aber etwa, wie Wirtschaft und Gesellschaft politisch bewußt gesteuert werden könnten. Vielmehr wird das individuell Ineffiziente, wird das, was versagt, herausgesiebt. Ein eigentliches, konkretes Entwicklungsziel kennt diese Gesellschaft (außer der Maximierung der Überlebenswahrscheinlichkeit) nicht. Sie ist, wie Popper dies genannt hat, "offen" in dem Sinne, dass, gegeben das Lernen und die Lizenz, sein Glück am Markt zu versuchen (die individuelle Freiheit in der Hayekschen Definition), es völlig unbestimmt ist, wie hoch beispielsweise der Output ausfällt oder der Massenwohlstand. Hier ist das Glücksversprechen der Moderne umgedeutet: Nicht mehr der Wohlstand der Nationen ist der Zweck des Kapitalismus, sondern einzig die Freiheit der individuellen Entfaltung im Marktkontext.
Entscheidend für den Zusammenhang dieser neoliberalen Entwicklungsvorstellung mit dem Rechtsextremismus ist die Idee der Aussiebung und Auslese. Wie nah das beim traditionellen Faschismus liegt, können zwei Hitler-Zitate verdeutlichen: "Das hohe Maß an persönlicher Freiheit, das ihnen (Unternehmern und Arbeitern, H.S.) in ihrem Wirken dabei zugebilligt wird, ist durch die Tatsache zu erklären, dass erfahrungsgemäß die Leistungsfähigkeit des einzelnen durch weitgehende Freiheitsgewährung mehr gesteigert wird als durch Zwang von oben, und es weiter geeignet ist zu verhindern, dass der natürliche Ausleseprozeß, der den Tüchtigsten, Fähigsten und Fleißigsten befördern soll, etwa unterbunden wird." Diesen Vorstellungen aus "Mein Kampf" bleibt Hitler nach 1933 treu, und auch dann, wenn Wirtschaftsplanung zur Produktions- und Effizienzsteigerung der deutschen Wirtschaft einstweilen unumgänglich erscheinen. Planmäßige Leitung sei ein "gefährliches Unternehmen, weil jeder Planwirtschaft nur zu leicht die Verbürokratisierung und damit die Erstickung der ewig schöpferischen privaten Einzelinitiative folgt". "Diese Gefahr wird noch erhöht durch die Tatsache, dass jede Planwirtschaft nur zu leicht die harten Gesetze der wirtschaftlichen Auslese der Besseren und der Vernichtung der Schwächeren aufhebt oder zumindest einschränkt zugunsten einer Garantierung der Erhaltung auch des minderwertigen Durchschnitts (...)."
Es ist dieser Auslesegedanke, der auch wesentlicher Bestandteil der neoliberalen Evolutionstheorie ist. Hayek sagt in einem Interview mit der Wirtschaftswoche: "Gegen die Überbevölkerung gibt es nur die eine Bremse, nämlich dass sich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können." Das sei - so Hayek - kein Sozialdarwinismus, sondern "bei mir geht es um einen gesellschaftlichen Evolutionsprozeß".
Soll eine solche Gesellschaft, die ihre Fortentwicklung auf Auslese gründet (ohne aber ein genaues Ziel ihrer Entwicklung angeben zu können), Bestand haben, dann ist es wichtig, dass alle, und besonders die Ausgesiebten, das System bejahen. Die Alternative wäre ja, durch kollektive Willensbildung (die Herausbildung einer sozialen Präferenzfunktion) die Lage für die große Mehrheit der Bevölkerung zu verbessern, für die Marginalisierten und auch für die, die systematisch mit kapitalistischen - wie Hayek sie versteht - "natürlichen" Katastrophen zu kämpfen haben. Dafür, dass dies nicht sein soll und darf, mobilisiert der Neoliberalismus nicht wenig an Einwänden. Zunächst versucht die Theorie der kollektiven Entscheidungen nachzuweisen, dass eine optimale demokratische Willensbildungen unmöglich sei. Stichworte sind hier das Wahlparadox (Arrow) oder die Mehrheit, die nur durch Unterstützung der "Schlechtesten" zustande komme (Hayek) - auch hier in klarer Übereinstimmung mit den Theoretikern der "Konservativen Revolution", denen das Mehrheitsprinzip des Parlamentarismus als "Herrschaft der Minderwertigen" galt und die so nicht wenig dem deutschen Faschimus den Weg bereitet haben.
Weiter seien die Machtmittel des Staates auf die genannten Garantien (Privateigentum usw.) zu begrenzen, weil sie sonst von einer tyrannischen Bürokratie usurpiert oder die Beute wohlorganisierter Interessen (besonders der Gewerkschaften) würden. Damit wird behauptet, dass alle bisher ausprobierten Mittel für kollektive Willensbildung unbrauchbar seien. Des weiteren: Selbst wenn eine solche Willensbildung zustande käme, so wäre diese darauf gerichtet, der Gesellschaft ein Ziel vorzugeben. Dies aber wäre nicht vereinbar mit der "offenen" Gesellschaft und folgerichtig auch nicht mit der individuellen Freiheit, sein Interesse ungehindert am Markt verfolgen zu dürfen. Vielmehr liefe alles darauf hinaus, dass sich die Unfähigen (die Schlechtesten) mit politischen Mitteln das anzueignen versuchen, was ihnen wegen ihrer Leistung nicht zustünde. Damit müßte das Lernen und folglich die Evolution zum Stillstand kommen. Der "Weg zur Knechtschaft" wäre vorgezeichnet. Denn der Rationalismus und Konstruktivismus der europäischen Aufklärung - so Hayek - zielt im Rahmen eines gesellschaftlichen Entwurfes darauf ab, "die Kräfte der Gesellschaft in derselben Weise zu beherrschen, wie dies bei der Beherrschung der Kräfte der Natur gelungen ist. (...). Dieser Weg führt nicht nur zum Totalitarismus, sondern auch zur Vernichtung unserer Kultur und mit Sicherheit zur Verhinderung des Fortschritts in der Zukunft."
Der totale Markt
Die Menschheit soll also nicht den Mut aufbringen, sich ihres Verstandes zu bedienen, sie soll auch nicht den Markt dort bewußt nutzen, wo dies für die Wohlfahrt zweckmäßig erscheint (ein Anliegen mancher NeoklassikerInnen), vielmehr soll sie sich dem von ihr bewußt- und willenlos herbeigeführten Stand der Evolution anvertrauen. "Gerade dadurch, dass die Menschen sich früher den unpersönlichen Kräften des Marktes unterworfen haben, ist die Entwicklung der Kultur möglich gewesen (...). Der springende Punkt ist , dass es unendlich viel schwerer ist, logisch zu erfassen, warum wir uns Kräften, deren Wirkungen wir nicht im einzelnen verfolgen können, unterwerfen müssen, als dies zu tun aus demütiger Ehrfurcht, die die Religion oder auch nur die Achtung vor den Lehren der Nationalökonomie einflößt."
Was, in einem Satz, hält der Neoliberalismus für die Menschen bereit? Auslese und Unterwerfung - all dies ausstaffiert mit Hinweisen auf persönliche Freiheit, Überlebenschancen, drohende Knechtschaft. Es ist, kurz und gut, die Selbstverwirklichung eines solchen Menschen, der durch Alchians "Beobachtungen" und "Postulate" zutreffend charakterisiert ist, d.h. eines durch kapitalistische Sozialisation deformierten Menschen. Dies gilt für den Theoretiker und sein Objekt gleichermaßen. Damit läßt sich ein Anhaltspunkt für die Antwort auf die Frage finden, was denn die Attraktivität des Neoliberalismus ausmacht. Je deformierter der Mensch, um so einleuchtender erscheint ihm der Neoliberalismus: Er erkennt sich in dessen grundlegenden Annahmen zum Individuum wieder.
Wenn Umberto Eco (Marcos zitiert ihn wiederholt in seinem Artikel) damit recht hat, dass die Ablehnung der Zunahme von Wissen (damit ist nicht das Ergebnis des Lernens durch Dressur gemeint), Rassismus, aristokratischer Elitismus und Ähnliches mehr allgemeine Merkmale des Faschismus sind , dann steht diesem der Neoliberalismus nahe. Auslese und Unterwerfung unter die Gesetze einer "natürlichen Ungleichheit" sind die Tugenden, die der Faschismus traditionell eingefordert hat. Auch der Neoliberalismus ist damit militante Gegenaufklärung: Die Menschen sollen ihre Lage nicht durch vermehrtes Wissen in einer kollektiven bewußten Anstrengung in den Griff bekommen. Denn dies würde mit der Herrschaft aufräumen müssen, die der Neoliberalismus mit all seinen Kunstgriffen zu legitimieren sucht.
Nun fehlt, wenn es um die Nähe des Neoliberalismus zum Faschismus geht, in der neoliberalen Theorie die Figur des Führers: Buchanans Tauschgesellschaft funktioniert ohne die Befehle eines Diktators. Dies mit Vorbedacht: Aus der Logik der neoliberalen Theorie der kollektiven Entscheidung folgt, dass der Kapitalismus dem Politischen stets mißtrauen muß. Mag der Führer dem Kapitalismus auch noch so ergeben sein, er selbst oder die "Bewegung", auf die er sich stützt, bergen stets die Gefahr in sich, aus dem Ruder zu gehen. Denn es ist ein politisches Kollektiv und nicht ein Ensemble von Individuen. Da es aber darum geht, den Kapitalismus endgültig zu bewahren, ist der totale Markt der persönlichen Diktatur vorzuziehen.
Was ist geeignet, die Sozialisation des totalen Marktes, das System allumfassender Benutzungsverhältnisse und die priesterliche Rolle der Wirtschaftswissenschaften und des Fernsehens zu durchbrechen? Die Antwort hierauf ist die wesentliche intellektuelle und politische Herausforderung der Gegenwart.
Prof. Dr. Herbert Schui lehrt an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg

(Forum Wissenschaft 4/2000)

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