Vom Sponti zum Strategen einer Mittelstandspartei

Das Supplement von Sozialismus 3-2001 erscheint zum Thema "68: Trau keinem?". Hier der Beitrag von Joachim Bischoff

Erneut liefert der moderne Mythos 1968 den Stoff für politische Erzählungen. Soweit Teile des bürgerlichen Lagers mitsamt ihren Intellektuellen und Ideologen alte Rechnungen präsentieren, um "linke Schreibtischtäter" oder "Verharmloser der Gewalt" bloßzustellen, klingt es - was Habermas zurecht konstatiert - wie von einer alten Grammophonplatte, "auf der die Nadel seit Jahrzehnten an der selben Stelle hängen geblieben ist."1 Aber es gibt nicht nur Äußerungen, die man bereits vor dreißig Jahren gelesen zu haben meint. Etliche damalige Akteure fühlen sich heute gedrängt, ihre Version des damaligen politisch-ideologischen Karnevals zu offenbaren. Auffallend an diesen neuen "Erzählungen" über 68 - einem grundlegenden gesellschaftlichen Konflikt in der Geschichte der bundesdeutschen Republik - sind drei Aspekte, auf die kurz eingegangen werden soll:
- die auch unter dem Blickwinkel der Biographie höchst selektiven Darstellungen, die Verschwommenheit der Zeithorizonte;
- die Ignoranz gegenüber der Kapitalismuskritik als Basis der Positionsbestimmungen der alten und der neuen Linken
- die Beschränkung auf die Bundesrepublik und das Schweigen über die Niederschlagung bzw. das Abbügeln poststalinistischer Reformbemühungen;
- die Ausklammerung der Wirkungen dieser "Geschichten" für die politische Linke.

1.

Außenminister Fischer sah sich genötigt, sein Engagement in der Frankfurter Sponti-Bewegung aufzublättern. Selbst wenn ein konservativer investigativer Journalismus den Nachweis erbracht hat, dass der Sponti bereits 1969 an einem Solidaritätskongress der PLO in Algier teilgenommen hat, so spielt doch die entscheidende Sequenz der Biographie in den 70er Jahren. Udo Knapp, Mitglied im letzten Bundesvorstand des SDS vor der Selbstauflösung 1969, bestätigt: "Fischer hat 1969 im SDS überhaupt keine Rolle gespielt. Er war einfach da, einer von denen, die durch die Studentenbewegung für ihr Leben Entfaltungsmöglichkeiten gesehen und genutzt haben."2 Fischer war kein 68er; seine Einordnung in die "Protestbewegung" der 60er wie der frühen 70er Jahre bleibt verschwommen. Ebenso unscharf ist das politische Profil der Fischer-Biographie - kaum jemand fragt heute noch nach dem programmatisch-politischen Selbstverständnis der Spontis in den 70er Jahren.

Wer die jüngsten Selbstdarstellungen der 68er und späteren Parteifunktionäre Semler, Schmierer, Koenen liest, wird außer naiver Apologetik auf die kapitalistische Gesellschaft und deren politische Ordnung wenig finden. Die ja nicht uninteressante Frage, wie und weshalb "68" schließlich in Parteisekten und Spontiauseinandersetzungen mündete, wird verdrängt. Der FAZ bleibt es so überlassen, Erinnerungslücken zu schließen und die Wege einstiger KPD-AO-, KB- und KBW-Funktionäre in herausragende Positionen der politischen Klasse nachzuzeichnen. Dabei wird deutlich: Es geht bei dieser Auseinandersetzung nicht nur um die Frage, wie die Beteiligten zu Gewalt und politischem Terror standen, sondern darum, dass der Kampf gegen die parlamentarische Demokratie als Kardinalfehler eingestuft wird.

Die politische Nutzanwendung für die heutigen Verhältnisse liegt auf der Hand: Ohne die Integration eines beträchtlichen Teils der Linken wäre die gegenwärtige Regierungspolitik nicht mehrheitsfähig. Selbstbewusst charakterisiert der eigentliche Parteichef Fischer die Grünen als "Partei, die machtpolitisch gebündelt hat, was von achtundsechzig bis hin zur Friedensbewegung an Revolten und sozialen Bewegungen jenseits des sehr engen Spektrums der alten Bundesrepublik-West sich entwickelt hat. Von 1990 an kam dann die Tradition der Bürgerbewegungen der DDR mit dem Bündnis 90 hinein. Protestbewegungen in West und Ost haben sich in unserer Partei gefunden. All das haben wir umgesetzt in Programme, deren utopischer Überschuss uns vorangetrieben hat... Und jetzt müssen wir uns neu erfinden. Wir müssen zugleich auch Tradition bilden."3 Die Grünen müssen einen veränderten Platz im Parteiensystem einnehmen; Neuerfindung und Traditionsbildung markiert den Knotenpunkt, an dem 1968 eine Rolle spielen soll.

Es war ein weiter Weg von der Partei der neuen sozialen Bewegungen (Frieden, Ökologie, Feminismus), die viele außerparlamentarische Aktivisten aufgesogen hat, hin zu einer Partei der militärischen NATO-Intervention, des Konsensus mit der Atomindustrie und der Interessenvertretung des kapitalistischen Mittelstandes. Die Anpassungsleistungen von Außenminister Fischer, Umwelt- und Atomminister Trittin, der früheren Gesundheitsministerin Fischer sind Ausdruck der Integration der einstigen grünen Anti-Partei in die gesellschaftliche "Mitte". Dass den konservativen Parteien dieser Opportunismus nicht passt, liegt auf der Hand, zumal sie in Gefahr geraten, durch eine zu starke Öffnung am rechten Rand in eine Position des strukturellen Hegemonieverlustes zu geraten. Wer an der Seite der NATO Krieg führt, kann nicht mehr als Gegner der kapitalistischen Marktwirtschaft und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ausgegrenzt werden.

2.

Professor Lobkowicz, in jenen Zeiten auch als Rektor der Uni München agierend, gesteht heute - überraschend versöhnlich - ein: "Vielleicht hat das Engagement der Achtundsechziger-Generation bewirkt, dass man sich von da an in Deutschland nach und nach ehrlicher mit der grauenhaften Vergangenheit auseinandersetzte."4 Zugleich legt er aber Wert auf das Urteil: "Wie die meisten linken Intellektuellen jener Jahre hasste die Achtundsechziger-Generation die Bundesrepublik Deutschland unter anderem deshalb, weil sie sich nicht hinreichend mit den Jahren 1933 bis 1945 auseinander gesetzt hatte. Doch war es nicht der Holocaust, den diese Generation ihren Eltern vorwarf, sondern was sie ›Faschismus‹ nannte". Was immer Lobkowicz sich unter einer Generation vorstellen mag, richtig ist aus meiner Sicht, dass die Kritik an der verdrängten Vergangenheit, der Umgang mit der DDR und den westdeutschen ›Linken‹, die neokolonialistischen Operationen der kapitalistischen Hauptländer Frankreich, Belgien, USA etc. in Algerien, im Kongo, in Vietnam, im Iran etc. und der schon damals schockierende Bodensatz an rechtsradikalen und antisemitischen Bewusstseinsformen zu einer Kritik an den kapitalistischen Produktionsverhältnissen verdichtet wurde. Man musste nicht Horkheimers "Autoritärer Staat" oder Marcuses "Eindimensionaler Mensch" gelesen haben, man konnte damals auf der Straße hören: "Kapitalismus führt zu Faschismus, Kapitalismus muss weg!" Eine Schicht der Protestbewegung der 60er Jahre bestand darin, nach Antworten auf diese mehr theoretisch-ideologischen Fragen zu suchen. Weil es ein breiteres Bedürfnis gab, konnten längst vergriffene Aufsätze und Bücher nachgedruckt werden (Raubdrucke). Freilich ist dieses Bemühen um eine Erneuerung der Kapitalismuskritik trotz der wichtigen Impulse durch Abendroth, Adorno, Althusser, Horkheimer, Marcuse, Poulantzas u.a. bald wieder versandet.

Nur ein rechtskonservativer Intellektueller wie Lobkovicz kann der kleinen Gruppe von Linksintellektuellen der 60er Jahre unterstellen, sie hassten die Republik. Ich denke, dass Hass in diesem Zusammenhang eine vollständig falsche Kategorie ist. Für die 60er Jahre galt: die sozialistisch-kommunistische Linke war massiv marginalisiert. Mit dem KPD-Verbot und der überall spürbaren Abgrenzungspolitik gegenüber der DDR wurden sozialistische und linkssozialdemokratische Positionen unter Druck gesetzt. In ihrem Hirtenwort zur Bundestagswahl 1961 riefen die katholischen Bischöfe zur Unterstützung der christdemokratischen Kandidaten mit dem Argument auf, es gelte der inneren Bolschewisierung rechtzeitig Einhalt zu gebieten. Der Widerstand gegen die Akzeptanz der kapitalistischen Gesellschaft, gegen die Wiederbewaffnung und Einbeziehung in die atomare Abschreckungslogik sowie gegen die Beschränkung intellektueller und bürgerlicher Freiheitsrechte unter dem Deckmantel der Abwehr der totalitären Gefahr aus dem Osten wurde Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre immer schwieriger.

Es gab nur wenige positive Signale. Eines war, dass sich ein kleiner Teil der sozialdemokratischen Linken in den Auseinandersetzungen über das Godesberger Grundsatzprogramm der SPD (1959) auf einen eigenständigen - sozialistischen - Entwurf verständigen konnte. Ein anderes Signal war der SDS-Förderkreis, der sich nach der Trennung der SPD von seinem Sozialistischen Deutschen Studentenbund auch durch SPD-Ausschlussverfahren nicht spalten ließ. Die kleine sozialistische Linke versuchte in Kooperation mit Gewerkschaften und Teilen der sozialdemokratischen Linken den Bewegungsspielraum für gesellschaftlichen Protest zu erhalten: gegen die Notstandsgesetzgebung und das Unionskonzept der "formierten Demokratie". Ludwig Erhard, der 1963 die Nachfolge von Adenauer angetreten hatte, war nicht mehr von den zivilisatorischen Effekten der "sozialen Marktwirtschaft" überzeugt, sondern wollte über eine Verpflichtung der Interessengruppen auf das Gemeinwohl jene Revitalisierung der kapitalistischen Akkumulation herbeiführen, die später unter der Hegemonie des Neokonservatismus oder Neoliberalismus durchgesetzt wurde. Die Große Koalition von CDU/CSU mit der Sozialdemokratie wurde selbst von einem Großteil der sozialdemokratischen Linken nicht als Durchbruch oder gar als Befreiung interpretiert.

Dass sich in der Bundesrepublik wie in anderen kapitalistischen Hauptländern vor allem im Ausbildungs- und Hochschulbereich ein Protestpotenzial zusammenballte, hat nicht zuletzt innerhalb der sozialistischen Linken - auch im SDS - erheblich überrascht. Selbstverständlich drückte sich hier erstmals der Übergang von einer fordistischen Industriegesellschaft zu Formen der kapitalistisch strukturierten Wissensgesellschaft aus, die die nachfolgenden Jahrzehnte prägen sollte. In Westberlin spielte die sozialdemokratische Linke (Harry Ristock) bei den Ansätzen der Aneignung von kapitalismuskritischem Wissen eine gleichermaßen wichtige Katalysatorrolle wie der Argument-Club. Der Berliner SDS, der sich in kleinen Projektgruppen mit der Hochschulreform, den Nazis in der gesellschaftlichen Elite, Kolonialismus und Kritik der politischen Ökonomie beschäftigte, war auf den Zulauf nach den kleineren Protestdemonstrationen (Kongo, Vietnam, Iran) nicht vorbereitet und konnte diese Ausweitung des Einflusses weder organisatorisch noch ideologisch-strategisch bewältigen. Logischerweise rückte die "Organisationsfrage" nach und nach immer stärker in den Mittelpunkt und wurde mit der Zulassung der DKP und ihren Umfeldorganisationen genauso schlecht gelöst wie durch die vielfältigen "maoistisch" inspirierten Parteigründungen. Es setzte sich innerhalb der sozialistisch-kommunistischen Linken ein Klima durch, in dem Gewissheiten und Dogmatismus die Suche nach kritischem Wissen über Geschichte und Gesellschaft ablösten. Und die Spontis lebten von dieser Spannung zwischen alten und neuen Organisationsansätzen und der Verkümmerung politischer Lernkultur.

3.

Zurecht betont Wallerstein,5 dass die Protestbewegungen Ende der 60er Jahre eine Zäsur in der Entwicklung des Nachkriegskapitalismus darstellen. Zugleich hatte sich aber auch in der CSSR in den 60er Jahren eine gesellschaftskritische Entwicklung angebahnt. Von dem Großteil der sozialistischen Linken in Westdeutschland wurde der Versuch, einen Sozialismus mit menschlichem Antliz zu schaffen, mit viel Sympathie begleitet. Mit einem kleineren Teil der Aktivisten, die nach der Unterdrückung der Reformbewegung ins Exil gezwungen wurden, haben wir in den späteren Jahren im Rahmen der europäischen Linken weiter gekämpft. Die Niederlage in der CSSR war der Beginn einer Kette von Niederlagen in den folgenden Jahrzehnten.

Nimmt man die nach 1968 einsetzenden Auseinandersetzungen über die vermeintliche Konterrevolution in der CSSR mit der frisch legalisierten DKP und anderen Lösungen der Organisationsfrage als Bezugspunkt, dann hätte uns klar sein können, dass wir auch die Auseinandersetzung um den Eurokommunismus nicht gewinnen konnten.

Immerhin: 1968 war in gewisser Weise das Geburtsjahr einer "Neuen Linken", die sich bei allen Unklarheiten und theoretischen Defiziten hinsichtlich der gesellschaftlich-geschichtlichen Konkretion einer Sozialismuskonzeption nicht mehr durch Rücksicht auf die Systemkonfrontation in poststalinistische Strukturen einbinden ließ. Man muss freilich die Berichte von Zdenek Mlynar u.a. über die gesellschaftliche Isolation der 68er nach dem Zusammenbruch der Systemkonfrontation 1989 in Tschechien kennen, um eine Vorstellung von der Tiefe der Niederlage der "Neuen Linken" zu gewinnen.

4.

Was bleibt? Die Auseinandersetzung über die gebrochenen Biographien der geläuterten Protagonisten für die kapitalistische Gesellschaftsordnung und ihre "demokratische Selbstherrschaft" kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung durch erhebliche Widersprüche charakterisiert ist. Es sind nicht erst die "gebrochenen" 68er-Biographien eines Oberlercher, Rabehl oder Mahler, die uns auf das Bedrohungspotenzial durch aggressiven Rechtsradikalismus oder Rechtspopulismus aufmerksam machen. Es ist leider so, dass die Variante vom Kapitalismuskritiker zum demokratischen Staatsmann, der auch die Kriegsführung in den Dienst der Sache stellt, noch nicht einmal die miserabelste Form der Anpassung ausdrückt.

In der Berliner Republik geht es um die Besetzung der Mitte. Klügere Köpfe der christdemokratischen Parteien räumen ein, dass die Union ihre strukturelle Mehrheitsfähigkeit zurückgewinnen muss; neben organisatorischen Veränderungen ist eine Rückbesinnung auf die geistigen Grundlagen und eine inhaltliche Neufundierung der Politik notwendig. Gleichermaßen steht die sozialistische Linke vor ihren unerledigten Hausaufgaben: ohne Verständigung auf eine radikale Reformpolitik für die entwickelten kapitalistischen Gesellschaften und eine "Lösung" der Organisationsfrage in dem Sinne, dass eine sozialistische Partei zum Zentrum einer demokratisch-sozialistischen Lernkultur wird, dürften wir uns aus dem Schlepptau rot-grüner Politik nicht freimachen können. Schon jetzt taucht die Formel wieder auf, dass es zu Rot-Grün keine Alternative gäbe und unter dem Strich - trotz Kosovo-Krieg, unausgewogener Steuerreform (Kapitalbeteiligung, Vermögenssteuer), Rentenkompromiss und "technischem" Ausbau der Betriebsverfassung - die Bilanz nicht schlecht wäre. Wer die Integrationsleistung eines Joseph Fischer für eine wenig zukunftsträchtige Perspektive hält, der muss sich für eine politische Erneuerung links von Rot-Grün einsetzen. Allerdings ist es ein bischen wenig, wenn der langjährige DKP-Funktionär Wolfgang Gehrke (PDS) mit Unterstützung von Gregor Gysi die "heimatlosen 68er und alle nachfolgenden Protestgenerationen" zur Mitarbeit in und an der PDS einlädt;6 mehr an Inhalt dürfte es schon sein, denn die "gebrochene Biographie" von Gehrcke ist auch nicht gerade eine Erfolgsgarantie oder Glücksversprechen.

1 J. Habermas, Es ist kein Halten mehr. Leserbrief in der FAZ vom 13.2.2001, S. 15.
2 U. Knapp, Die Reise nach Algier, in: FAZ vom 15.2.2001, S. 12.
3 J. Fischer, Wer nur den lieben Gott läßt würfeln, FAZ vom 17.2.2001, S. 44.
4 N. Lobkowicz , Die 68er ignorierten den Holocaust, in: SZ vom 13.2.2001, S. 13.
5 I. Wallerstein, 1968 - Revolution im Weltsystem, in: Etienne François, Matthias Midell, Emmanuel Terray, Dorothee Wierling (Hrsg.), 1968 - ein europäisches Jahr? Leipzig 1997.
6 FAZ vom 17.2.2001