Allgegenwärtig, ungreifbar

Zur Entdeckung ostdeutscher Identitätsbildungen in Befunden der Umfrageforschung

Nicht nur in Mittel-Ost- und Osteuropa, sondern auch in westeuropäischen Ländern haben partikulare Bestrebungen an Gewicht und Einfluß gewonnen und traten in unterschiedlichen Gestalten, Konfliktty

Nicht nur in Mittel-Ost- und Osteuropa, sondern auch in westeuropäischen Ländern haben partikulare Bestrebungen an Gewicht und Einfluß gewonnen und traten in unterschiedlichen Gestalten, Konflikttypen und politischen Szenarios erneut hervor (z.B. in Spanien, Italien, Belgien und Großbritannien). Kulturwissenschaftlerinnen wie Aleida Assmann verweisen darauf, daß immer mehr Staaten derzeit im Begriff sind, ,,ihre Identität aufzurüsten", der Distinktions- und Identitätsbedarf noch nie so groß gewesen sei wie heute.2 In entsprechenden Debatten wird deutend und erklärend darauf hingewiesen, daß neue Schübe der Modernisierung nicht mehr tradierten Mustern der Nachkriegszeit folgen, die im Erfahrungshorizont mehrerer Generationen verankert sind: Da wirtschaftliche Prosperität und soziale Sicherheit in den neunziger Jahren nicht positiv korrelieren, brechen alte soziale Disparitäten auf, verbinden sich mit neuen, führen zu erheblichen Irritationen und sozialen Unsicherheiten. In derartigen Zeiten erscheint es dann naheliegend, auf kulturelle Gewißheiten zurückzugreifen resp. diese zu rekonstruieren. Gerd Mutz zieht aus dieser Gegenwartsdiagnose den Schluß: Die Kulturalisierung sozialer Sachverhalte sei keine ,,Erfindung der Ostdeutschen", sondern kennzeichnend für ein neues Modernisierungsmuster, das - weltweit - nicht primär durch säkularisierende, sondern kulturalisierende Modernisierungsprozesse ausgezeichnet ist.3

Die ausholende Vorbemerkung versteht sich als Versuch, nahezu unvermeidlichen Einwänden vorzugreifen: Zum einen gilt die Rede von Ost-Identität im sozialwissenschaftlichen Kontext noch immer oder in neuer Schärfe als despektierlich, als ewig enervierendes Ärgernis, wegen deren ,,Allgegenwart und Ungreifbarkeit" man schon ,,zornig" werden könne. Denn die ,,unredliche Unart" der Ostdeutschen, ,,sich als Opfer zu stilisieren und gleichzeitig alle Segnungen des geschmähten Kapitalismus in Anspruch zu nehmen und darüber hinaus noch weitere Forderungen zu stellen", dürfe nicht länger mit altväterlichem Verständnisgehabe hingenommen, sondern müsse entschieden zurückgewiesen werden.4

Zum anderen wurden im Transformationsdiskurs auch ernstzunehmende Einwände artikuliert: Die Akzeptanz von ostdeutscher Identität mache jene falschen oder ,,Pseudo-Wir-Gruppen"5 hoffähig, von denen positive Beiträge zur sozialen Integration nicht zu erwarten seien; allenfalls werde diskursiv nur eine deutsch-deutsche Nabelschau erzeugt, die bornierten nationalistischen Diskursen Vorschub leiste.

Zu prüfen wäre jedoch, ob nicht gerade das Gegenteil der Fall sein könnte, ob ein nüchtern-analytischer, vorurteilsloser Blick politischer Akteure auf Ost-West-Disparitäten, Diskriminierungen und ,,kulturelle Unterprivilegierungen" (Dietrich Mühlberg) im eigenen Lande imstande wäre, das Verständnis für Relevanzen und Komplikationen kultureller Konfliktlagen in anderen Teilen der Welt zu schärfen. Handelt es sich doch auch hierzulande (auf der Ost-West-Ebene der Bundesrepublik) nicht bloß um eine ,,folkloristische Possierlichkeit" (Manfred Kuechler) oder um die jämmerliche Selbstinszenierung eines ,,Arme-Schweine-Kults"6 der Ostdeutschen, sondern um eine Facette jenes ambivalenten globalen Zusammenhangs, da die ,,Wahrung der eigenen sozialen und kulturellen Identität für die Lösung von Problemen des Zusammenlebens ethnisch und kulturelle definierter Gruppen an Bedeutung zugenommen hat".7

Es kann immerhin als buchenswertes Faktum gelten, daß ein Phänomen wie die ostdeutschen Identitätsbildungen in sozialwissenschaftlichen Diskursen der Bundesrepublik eine gewisse, wenn auch vergleichsweise späte Konjunktur erfahren hat: In mehreren Publikationen und Übersichten hatte die soziologische Umfrageforschung das Phänomen der ostdeutschen Identität knapp ein Jahrzehnt nach der deutsch-deutschen Vereinigung als eine bedeutsame Entdeckung präsentiert.8

Ex post wurden damit zugleich jene frühen, empirisch gestützten Überlegungen und Hypothesen rehabilitiert und bestätigt, die ostdeutsche Sozialwissenschaftler schon in den ersten Jahren des Transformationsprozesses vorgelegt hatten.9 Sie fanden im Mainstream der Diskurse nur eine marginale Beachtung, wurden als ,,Befindlichkeitssoziologie" diskreditiert und als weitgehend irrelevant abgewiesen. Denn vermeintlich handelte es sich um kurzfristige Friktionen und Irritationen, die komplizierten Anpassungsprozessen an neue institutionelle und Regelsysteme geschuldet seien.

Demgegenüber besteht heute in den Diskursen der Profession, die sich auf Datensätze der Umfrageforschung stützen, weitgehend Konsens darüber, daß sich ,,die Ostdeutschen eine kollektive Identität als Ostdeutsche (auf)bauen".10

Das Argumentationsmuster ist davon geleitet, daß die Wertorientierungen zwar einem Prozeß der Angleichung unterliegen, in gleichem Maße jedoch die Selbstidentifikation der Ostdeutschen und die partielle Distanzierung von den Westdeutschen deutlich angewachsen seien. Die im Transformationsprozeß entstandenen Defizite, Probleme und enttäuschten Erwartungen würden ,,externalisiert", also nicht mehr auf das Scheitern des Staatssozialismus zurückgeführt, sondern dem ,,Partner in der Vereinigung", den Westdeutschen, zugerechnet. Den als ,,Selbstausgrenzung" resp. ,,Abgrenzungsidentität"11 definierten Identifikationsprozessen wird ein begrenztes Verständnis entgegengebracht, allerdings sollten die Ostdeutschen nicht bestärkt werden: Gewarnt wird vor der ,,Falle", in die sie sich begeben, denn Ost-Identität erschwere schließlich ,,Selbsthilfe und Hilfe".

Befunde der Umfrageforschung

Vorauszusetzen ist zunächst, daß das Phänomen ostdeutscher Identitätsbildungen sich als ein konzeptuell nicht gestütztes und nicht erwartetes Resultat der empirischen Umfrageforschung erweist. Die positivistische Umfrageforschung ist auch nicht daran interessiert, den inzwischen attraktiven Gegenstand aus der Hand zu geben oder interdisziplinär zu untersuchen: Sie beharrt darauf, die mit den Mitteln der Umfrageforschung ermittelten Tatsachen auch mit den Mitteln der Umfrageforschung zu untersuchen12

Die meisten der gemessenen Wertunterschiede, genauer: Einstellungen, weisen neben einer relativen Stabilität in den neunziger Jahren signifikant auch jene Regionalspezifik aus, die dazu berechtigt, von Ost-West-Unterschieden zu sprechen. Zweifel an der Regionszugehörigkeit als dem erklärungskräftigsten Einflußfaktor können auf Grund der methodischen Mittel (Kontrollvariablen) weitgehend ausgeschlossen werden. Die Unterschiede im Vergleich zu Einstellungen in Westdeutschland beziehen sich insbesondere auf die folgenden Positionen (Auswahl). Charakteristisch für die ostdeutsche Bevölkerung sind:

- eine geringere Akzeptanz marktwirtschaftlicher Prinzipien;

- die starke Präferenz für staatliche Vorsorge gegen existentielle Risiken;

- eine geringere Akzeptanz sozialer Ungleichheit sowie eine höhere Skepsis gegenüber den geltenden Standards der Verteilungsgerechtigkeit; obwohl gerade diesbezüglich eine beachtliche Annäherung an westdeutsche Einstellungen beobachtet wird;

- eine höhere Wertschätzung wirtschaftlichen Wachstums ebenso wie Arbeit und Leistung im Vergleich zur westdeutschen Population;

- höhere Erwartungen bezüglich der Bürgerbeteiligung (Partizipation) bei politischen Entscheidungen (versus Elitenherrschaft);

- eine andere Motivstruktur, bezogen auf bürgerschaftliches Engagement: eine eher hedonistische Prägung in Ostdeutschland (!) gegenüber einer karitativen in Westdeutschland;

- ein deutlich größerer Technikoptimismus, der die Autoren der Studie zu der Einschätzung veranlaßt, daß jenes im angelsächsischen Sprachraum als ,,German angst" ironisierte Phänomen jedenfalls für die ostdeutsche Bevölkerung nicht zuzutreffen scheint.13

Wie die Auflistung zeigt, lassen die Unterschiede keine generalisierenden Aussagen über einen ,,cultural lag" der ostdeutschen Population zu. In Abhängigkeit von den Präferenzen der Beobachter wird im Hinblick auf zukunftsfähige Profile und Potentiale sogar partiell von ,,Vorsprüngen" (H. Meulemann) der ostdeutschen gegenüber der westdeutschen Bevölkerung gesprochen.

Manche Unterschiede verweisen zwar mit einiger Plausibilität auf sozialisatorische Effekte des Lebens von Generationen unter den Bedingungen des staatssozialistischen Systems (Gleichheitsvorstellungen; staatliche Vorsorge; technikorientierte Ausbildungs- und Berufsstruktur); insgesamt lassen sie jedoch keine definitiven Aussagen über die Erbschaft resp. Hinterlassenschaft des Staatssozialismus zu.

Auffallend ist die heterogene, anscheinend inkonsistente Struktur jener Einstellungsunterschiede, die zwar verschiedene Erklärungshypothesen ermöglichen, aber allein aus den Befragungsdaten sind eigenständige Musterbildungen nicht zu erschließen.

Zum einen unterliegen Einstellungen und Orientierungen im ostdeutschen Transformationsprozeß im Zeitverlauf logischerweise erheblichen Veränderungen und temporären Schwankungen (die relative Stabilität bezieht sich auf Mittelwerte der Jahre 1990-1997 sowie auf relativ deutliche Abstände zu westdeutschen Orientierungen, die gleichfalls in Bewegung sind); zum anderen wäre ein alternatives Datenmaterial ebenso geboten wie spezifische konzeptionelle Ansätze. Darauf jedoch verzichtet die Umfrageforschung bereits aus grundsätzlichen Erwägungen: Die zirkuläre konzeptionelle Struktur - die Befunde der Umfrageforschung mit neuen Daten der Umfrageforschung zu erklären - fungiert als strategisches Handlungsprogramm.

Weder das Problem der ,,inneren Mauer" in Deutschland entlang der alten Ost-West-Demarkation noch die bedeutsamere Frage nach den Kriterien für die erreichte resp. noch herzustellende ,,innere Einheit" kann auf diese Weise hinreichend aufgeklärt werden. Gleiches gilt für die Frage nach den möglichen Einflüssen divergenter Einstellungen und Orientierungen entlang der ,,West-Ost-Achse" auf Veränderungen der politischen Kultur in Deutschland, die nur im Zusammenhang mit anderen Einfluß- und Wirkungsfaktoren untersucht werden kann und mit den vorgelegten Befunden der Umfrageforschung gleichfalls nicht zu beantworten ist.14

Die vorliegende Datenfülle wie auch deren zumeist konzeptionell schwache Fundierung auf Probleme und Theoreme kollektiver Identitätsbildungen begünstigen eine Forschungssituation, die es ermöglicht, nach persönlichen Präferenzen und der Verortung in tradierten Denkschulen und -richtungen jeweils jene Daten zu selektieren, welche die je eigenen Erwartungen und Vorurteilsstrukturen bestätigen und perpetuieren.

Stereotype in der Fremd- und Selbstzuschreibung

Näher heran an das spezifische Problemfeld ostdeutscher Identitätsbildungen führen jedoch Umfragedaten und Fragestellungen, die sich dezidiert auf nationale oder regionale Selbstzuordnungen der ostdeutschen Population beziehen oder auf Stereotype, die der eigenen oder ,,fremden" Guppe mehr oder weniger stabil zugeschrieben werden.

Entsprechende Analysen von J. Doll, R. Mielke und M. Mentz stützten sich auf Theorien sozialer Identität (Tajfel/Turner), denen zufolge Mitglieder einer Gruppe nach positiver sozialer Identität streben, in dem möglichst deutliche Unterscheidungen zu anderen relevanten Gruppen hergestellt werden. Weil die angestrebte soziale Identität nur dann positiv ausfällt, wenn die Vergleichsergebnisse zu ihren Gunsten entschieden werden können, streben Gruppen nach positiver Distinktheit: Diese ist dann gegeben, wenn die Gruppen auf wichtigen Vergleichsdimensionen überlegene Positionen einnehmen können.15

Die Analyse von Daten aus den Jahren 1990-1992 führte zu dem Ergebnis, daß das Urteilsverhalten der Westdeutschen als ,,indirekte Diskriminierung" beschrieben werden kann, da ,,die Grundlagen für eine Gleichstellung von seiten der Westdeutschen in diesem Zeitraum nicht in gleicher Weise hergestellt wurden". Die Ostdeutschen hatten ihre negativen Selbstwertgefühle alsbald abgelegt, sie beanspruchten nun auch jene Merkmale, die ihnen von den Westdeutschen in wachsendem Maße abgesprochen wurden: Flexibilität, Selbstbewußtsein, Entschlossenheit. Der Anspruch auf eine gleichrangige Statusposition der Ostdeutschen stieß bei den Westdeutschen auf Widerspruch: Die Liste der positiv konnotierten Indikatoren, welche die Westdeutschen nur sich selbst zuschrieben, hatte sich im angegebenen Zeitraum verdoppelt.

Im weiteren Verlauf der Transformation zeigte sich zunächst, daß negative, wechselseitige Zuschreibungen der beiden Gruppen abnehmen, um dann jedoch nach 1996 wieder anzusteigen. Die Tendenz der Externalisierung verstetigte sich sowohl bei den Westdeutschen als auch bei den Ostdeutschen. Die negative Kategorisierung des Fremden und die positive Kategorisierung des Eigenen bilden in beiden Landesteilen die stärkste Kombination von Fremd- und Selbstwahrnehmung, die nun bei den Ostdeutschen noch deutlicher ausgeprägt ist als bei Westdeutschen. Die erneut anwachsenden, externalisierenden ,,Anti-West-Aussagen" der Ostdeutschen nach 1995 bezogen sich vorrangig auf wirtschaftliche Faktoren.16

Nationale Identität und,,Bürger zweiter Klasse"

Ein vergleichbares Grundmuster weisen die auf Umfragedaten bezogenen Analysen zu Dimensionen nationaler Identität und zur Selbstverortung der Ostdeutschen als ,,Bürger zweiter Klasse" auf.

Bezogen auf das Problem der nationalen Identifikation ist zunächst voranzustellen, daß die entsprechenden Daten für die Bundesrepublik Deutschland - ungeachtet der deutschen Vereinigung - seit Jahrzehnten regelmäßig sowohl unter den gemessenen Werten für die ,,großen" europäischen Nationen (Frankreich, Großbritannien) als auch unter dem EG-Durchschnitt liegen.

Bei der Frage nach dem nationalen Stolz sind in der betreffenden Analyse (P. Schmidt) keine relevanten Unterschiede zwischen den befragten Westdeutschen und Ostdeutschen festzustellen. Die Erfassung der Items für patriotischen Stolz, die auf die demokratischen Institutionen bezogen sind, zeigt jedoch, daß die Werte der Westdeutschen deutlich über denen der ostdeutschen Probanden liegen.

Die Befunde können damit erklärt werden, daß die ostdeutsche Bevölkerung zwar die Übernahme demokratischer Institutionen aus eigener Kraft erstritten hatte, sich den praktischen Prozeß des Institutionentransfers jedoch nicht selbst zurechnet.17 Denn die neuen Institutionen waren quasi im ,,Blue print"-Verfahren übertragen worden. Als Bestätigung für diese Deutung spricht das geringere Institutionenvertrauen der Ostdeutschen, das allerdings nicht extrem unter den westdeutschen Werten liegt. Zudem ist bemerkenswert, daß sich die Struktur des Vertrauens (Rangfolge der abgefragten Institutionen) bei den 1997 erfolgten Messungen zwischen Ost und West vollständig angeglichen hatte.18

Aufschlußreich ist auch die Gleichheit (zwischen ost- und westdeutscher Bevölkerung) der Bindungen an die regionale Strukturdimension der Bundesländer. War die Form der Strukturierung Ostdeutschlands (der früheren DDR) nach Effizienzkriterien zunächst heftig umstritten, so hatte sich doch jene Variante erfolgreich durchgesetzt, die an frühere Gliederungen (bis 1952) weitgehend anschloß und geschichtlich tradiert ist. Als hochsignifikant erweisen sich lediglich jene Unterschiede der Identifikation, die sich auf Ostdeutschland (Gebiet der früheren DDR) bzw. auf Westdeutschland beziehen.

Ist diese Dimension bei den Westdeutschen seit 1990 rückläufig, so zeigen die Befunde, daß sich die Ostdeutschen seit 1993 in stärkerem Maße auf Ostdeutschland beziehen. Auch die Korrelationsperspektive macht deutlich, daß eine hohe Identifikation der früheren Bürger der DDR mit Ostdeutschland einer eindeutig geringeren Identifikation als Bürger der Bundesrepublik Deutschland entspricht. Insgesamt erweist sich die ,,gemessene" Bindung an Gesamtdeutschland in den neuen Bundesländern zwar als niedriger als in den ,,alten Ländern", zeigt im Zeitverlauf jedoch bereits eine erhebliche Stabilität.19

Breiten Raum im Rahmen der Diskussion um die ,,innere Einheit" innerhalb des vereinigten Deutschlands nimmt noch immer die sogenannte Selbsteinstufung der Ostdeutschen als ,,Bürger zweiter Klasse" ein. Die Befunde der Umfrageforschung hatten zunächst eine deutlich sinkende Tendenz nach 1990 ausgemacht: Bekundeten unmittelbar nach der Proklamation der deutschen Einheit am Ende des Jahres 1990 noch 85 Prozent der Ostdeutschen das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, so sank diese Tendenz bis zum Herbst 1995 auf 69 Prozent ab, um danach wieder deutlich anzusteigen: im Mai 1997 hatten die Werte erneut ein Niveau erreicht, das fast an Aussagen des Jahres 1990 heranreichte: 80 Prozent der befragten Ostdeutschen stuften sich als ,,Bürger zweiter Klasse" ein.

Die Analysen von W. Brunner und D. Walz konnten zeigen, daß die prekäre Selbsteinstufung der Ostdeutschen im Verlaufe des Jahrzehnts offenbar einen Bedeutungswandel erfahren hatte.20 Waren die Ursachen für die Benachteiligung in den ersten Jahren nach der Vereinigung vorrangig dem untergegangenen DDR-Regime zugeschrieben worden, so wurden die anhaltenden Unterschiede in der wirtschaftlichen Situation und in den Lebensverhältnissen zunehmend der Bundesregierung resp. dem ,,Westen" angelastet. In der Begründung für die Selbsteinstufung nannten die Befragten vorrangig wirtschaftliche resp. ökonomische Gründe und Wahrnehmungen, die deutlich vor der Erfahrung rangieren, daß die Westdeutschen den ostdeutschen ,,Brüdern und Schwestern" die soziale Anerkennung versagen.

Datenbasis und Argumentationsmuster der Umfrageforschung tendieren in ihrer Gesamtheit allerdings dazu, das in Rede stehende Problemfeld einzugrenzen, sozusagen auf ,,kleiner Flamme" zu kochen und in einem möglichst provinziellen Format zu belassen. Auf internationale Vergleiche und diskursive Kontexte wird weitgehend verzichtet21; methodische Standards und Instrumentarien der neueren regionalen und kulturellen Identitätsforschung werden schon deshalb ausgeblendet, weil sie mit Ansätzen und Datenmaterial der Umfrageforschung nicht kompatibel sind.

Als ein erheblicher Nachteil erweist sich schließlich, daß weder die systematische Rekonstruktion der Strukturen der DDR-Gesellschaft noch der Biographiemuster und -konzepte ihrer Bewohner, erst recht nicht komplexer angelegte Identitätsstudien Gegenstand der institutionalisierten und öffentlich geförderten Transformationsforschung in Deutschland nach 1989 gewesen sind.22 Diesbezüglich wächst einer sozialhistorisch und kultursoziologisch orientierten Forschung erst ein Aufgabenfeld zu; handelt es sich doch um eine Problematik, die im Zusammenhang mit Prozessen der Globalisierung und Europäisierung eine neue Relevanz und politische Brisanz erfahren hat.

Auf Grund der grob skizzierten, disparaten Forschungslage scheint ein Zeitpunkt erreicht zu sein, auf übergreifende konzeptionelle Ansätze und Erklärungsmodelle zu verweisen, die mittlerweile verfügbar sind und außerhalb der Umfrageforschung zur Interpretation ostdeutscher Identitätsbildungen herangezogen werden.

Verfügbare Erklärungsmodelle

Peripherienbildung und Kolonisierung

Im Anschluß an Richard Münchs Überlegungen zum Prozeß der Nationenbildung (nation building) könnte man davon sprechen, daß der politische Modus von staatlicher Vereinigung und Systemtransformation, insbesondere die Übertragung externer Institutionen sowie die Dominanz ,,fertiger Akteure" (ready made actors) einen geschichtlichen Vorgang in Bewegung setzte, der als Peripherienbildung begriffen und beschrieben werden kann. Zeitlich gerafft, vielfach gebrochen und überlagert vollzieht sich jener Vorgang, der für nation building im westeuropäischen Raum charakteristisch ist: Mit der inneren Homogenisierung (Wohlfahrtspolitik, Institutionentransfers, die Entstehung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes) geht auch die Herstellung neuer Ungleichheiten entlang der früheren territorialen Grenze vonstatten.

Mithin ist die Differenzierung von Zentrum und Peripherie ein komplementärer Prozeß zur (nationalen) Identitätsbildung durch Inklusion. Wie Münch beschrieben hat, brechen in der Peripherie je ältere Lebensformen und soziale Netzwerke zusammen, ohne sofort durch neue, kulturell legitimierte Lebensformen ersetzt zu werden. Der einheimischen Kultur werden neue materielle Existenzweisen nahegelegt, ohne ,,daß deren Institutionen der Demokratie, der sozialen Wohlfahrt, der Bildung und Kultur schon richtig Fuß gefaßt hätten, da diese erst in einem langsameren Entwicklungsprozeß heranreifen können".23

Peripherienbildungen werden in der Literatur auch als innere Kolonisierungen begriffen und beschrieben. Prominente Autoren beziehen sich positiv auf den Modus der inneren Kolonisierung Ostdeutschlands, das, wie Klaus von Beyme ironisch angemerkt hatte, ,,zum funktionalen Äquivalent der früheren, verlorenen Ostgebiete"24 geworden sei.

Der soziologisch relevante Kerngehalt besteht darin, daß Kolonisierung für bestimmte Beziehungsstrukturen und -muster zwischen externen (ortsfremden) und internen (einheimischen) Akteuren oder Personen steht. Nach Wolfgang Ludwig Schneider strukturieren Fremdheitserfahrungen (im eigenen Land) soziale Beziehungen in dem Maße, wie eine asymmetrische Figur entsteht, da die Plätze zwischen den Einheimischen und den Fremden vertauscht wurden und die lokal eingelebte Ordnung ihr Geltungsprivileg an die von Fremden importierte Ordnung abgetreten hat.25

Das vorgestellte Erklärungsmodell vermag eine gewisse Rahmung zu bieten und als historische Vergleichsfolie verwendbar sein, spezifische Entstehungs- und Konstruktionsprozesse ostdeutscher Selbstbeschreibungen und -zuordnungen können auf diese Weise aber nicht erklärt werden.

Figurationstheoretische Deutungen: Außenseiter und Etablierte

In Anlehnung an Theorien von Elias und Simmel hat Sighart Neckel die Figuration von Außenseitern und Etablierten auf die deutsche Vereinigung und den Transformationsprozeß bezogen.26 Ausgangspunkt der Überlegungen bildet das Konzept von Elias, dem zufolge Figurationen als Beziehungsgeflechte zwischen Menschen und sozialen Gruppen vorzustellen sind. Die Mitglieder einer Figuration sind durch viele Abhängigkeiten aneinander gebunden, die Elias als Interdependenzketten bezeichnet hat. Für den Wandel von Figurationen werden längerfristige Zeiträume veranschlagt, Elias spricht von mindestens drei Generationen. Prominent ist das Modell von ,,Außenseitern und Etablierten" geworden, das Elias als eine soziale Grundkonstellation moderner Wandlungsprozesse ausgezeichnet und am empirischen Material analysiert hatte (alteingesessene und zugewanderte englische Arbeiterfamilien am Ende der fünfziger Jahre in der Gemeinde ,,Winston Parva"): Die Rangüberlegenheit der Einheimischen wurde durch die Selbstzuschreibung überlegener Eigenschaften stabilisiert, zugleich wurden die habituellen, sozialkulturellen Merkmale der Neuankömmlinge stigmatisiert. Diese Machtkonstellation äußerte sich darin, daß die Etablierten ein ,,Gruppencharisma" ausbildeten und den Außenseitern eine ,,Gruppenschande" zuschrieben, was in dem moralischen Innenleben der Außenseitergruppe als Problem auf Dauer gestellt worden war.27

Neckel hat nun Elias' Modell mit Bezug auf die Konstellation in Deutschland um die Figur des ,,Dritten" (Simmel) erweitert, der in relativ stabile Außenseiter-Etablierten-Konstellationen dynamische Momente hineinbringe. Mit dieser dynamischen Modellierung gewann Neckel eine komplexe Operationsbasis, die es ihm ermöglicht, historische Prozesse mit aktuellen Phasen und Sequenzen der Systemtransformation vor allem in machttheoretischer Perspektive zu verbinden und damit flexibel zu hantieren. Als jeweils Dritte der deutsch-deutschen Figuration fungieren die Hauptverbündeten, die USA und die UdSSR. Sodann verwandelte sich die BRD (alt) in einen, wie Neckel schreibt, überlegenen und ,,lachenden Dritten", der die paralysierte Machtsituation in der bisherigen DDR zwischen Etablierten und Außenseitern zu einem Mittel für seine Zwecke machen konnte.

Mit dem Fortgang des Transformationsprozesses würden innerhalb Ostdeutschlands vielfältige Etablierten-Außenseiter-Figurationen fortbestehen, die in der Zwischenzeit wiederum mehrfach Wandlungen erfahren hätten. Es stellte sich eine neue ,,klassische" Etablierten-Außenseiter-Konfiguration zwischen den westdeutschen Alteingesessenen und den ostdeutschen Neuankömmlingen ein, die sich verstetigt, weil die Westdeutschen das Gruppencharisma aktualisieren und die Ostdeutschen mit der Gruppenschande belegen.

Neckel räumt ein, daß der politische Umbruch figurativ an jene gesellschaftlichen Verhältnisse anschloß, die er zu überwinden unternahm: Für nicht wenige Ostdeutsche repräsentiere die Geschichte der deutschen Vereinigung deshalb eine Kontinuitätserfahrung politischer Abhängigkeit.

Das Modell der Außenseiter-Etablierten-Konfiguration ermöglicht es, zumindest eine wichtige Dimension des Phänomens ostdeutscher Identitäten zu erfassen, nämlich auf der Ebene von Abhängigkeitsverhältnissen und den damit verbundenen wechselseitigen Zuschreibungen. Offen bleibt jedoch, wie der ,,schnelle" und mehrfache Wechsel der Figurationen (innerhalb nur eines Jahrzehnts) mit den Vorstellungen von Elias über längerfristige figurative Stabilitäten und historische Wandlungsprozesse zur Deckung zu bringen ist. Ferner wird der Vorteil der Komplexität und Attraktivität des Modells zugleich mit einem erheblichen Nachteil erkauft: Die anhaltende Dramatik des Machtgefälles und der Fremdheitsverhältnisse auf der Ost-West-Ebene wird durch die zahlreichen Wechsel der Konstellationen und die gleichsam spielerisch-ironische Einfügung von ,,Dritten" erheblich relativiert und entschärft.

Der konstruktivistische Diskurs

Der konstruktivistische Diskurs stützt sich auf die zeitgenössische Diagnose, daß in Gesellschaften mit hoher Mobilität, starker Außenlenkung oder unter dem Eindruck von Umbruchsituationen, die mit sozialer Desintegration verbunden sind, die Suche nach identitätsstiftenden Momenten des kollektiven Lebenshaushalts anwächst. In Anlehnung an Konzepte der interaktionistischen Soziologie (Mead; Goffman) stellte Robert Hettlage folgende strukturierende Gesichtspunkte besonders heraus:

- Kollektive Identitäten sind Selbstbildnisse, welche Mitglieder einer Gruppe/eines Gebiets von sich selbst entworfen haben;

- sie erweisen sich als Antwortmuster auf historisch wechselnde Umstände; auf materielle Bedingungen, Machtbeziehungen und auf die Veränderung von Zeichensystemen und Diskursen in der gesellschaftlichen Kommunikation;

- ihr Baumaterial sind Normen, Modelle, Symbole; für verbindlich gehaltene Werte.28

Kollektive Identitäten sind nach Hettlage kein soziales Datum im Sinne eines meßtechnisch erfaßbaren, stabilen, sich selbst gleichbleibenden, kategorialen Systems, wie es die positivistische Umfrageforschung nahelegt, sondern ein gesellschaftlicher Definititons- und Konstruktionsvorgang. Selbstkonzepte der Mitglieder einer Gruppe werden transparent, indem bestimmte gemeinsame Gruppenmerkmale ausgewählt werden, um sich selbst abzugrenzen und nach außen darzustellen.

Charakteristisch ist der symbolische Rekurs auf Gegenstände, Codes und Zeichen, die Verbindendes stiften, sich auf eine gemeinsame Lebensgeschichte beziehen und ein exklusives Wissen der (ostdeutschen) Minderheit erzeugen, das die strukturelle Unterlegenheit in eine virtuelle Überlegenheit verwandelt: die Präferenz für Ostprodukte; das Beharren auf tradierten sprachlichen Formen und Fügungen, der körperliche Gestus; der Rekurs auf alte Filme, Stars, literarische und musikalische Titel; der ironisch-spielerische, gleichwohl rituelle Umgang mit den Symbolen und Emblemen der untergegangenen Macht.

Das im Zusammenhang mit symbolischen Rekursen kreierte Kunstwort ,,Ostalgie" hatte Thomas Ahbe aufgegriffen und konstruktiv gewendet, um jene ,,symbolischen Laienpraxen" zu thematisieren, in denen eine Identitätsarbeit stattfindet, die sich auf Produkte und Parolen, Slogans, Zeichen, Symbole und bestimmte Wertperspektiven der DDR in der alltäglichen Kommunikation bezieht. Ostalgie sei ,,eine kommunikative Praxis, in der mit den Erinnerungen umgegangen wird, in der die Vergangenheit bearbeitet - nicht verdrängt, verleugnet oder beschwiegen - wird".

Jener indirekte symbolische Laiendiskurs - flüchtig und bodenständig zugleich, kaum dokumentiert - nähre sich gerade von der Lücke zwischen dem hegemonialen professionellen Diskurs zur DDR einerseits, der den Lebensalltag von Mehrheiten zumeist ausblendet, und den Erfahrungen und Erinnerungen der Ostdeutschen andererseits.29 Die von Ahbe sensibel beobachtete und plausibel beschriebene Laienpraxis erinnert an Michel de Certeaus phänomenologisches Konzept einer (plebejischen) ,,Kunst des Handelns", in der die ,,ortlosen Praktiken" den Texten immer vorausgehen und eine ,,zersplitterte, taktisch bastelnde Kreativität" hervorbringen, deren Gewebe aus gelungenen Streichen, schönen Kunstgriffen, vielfältigen Simulationen und glücklichen Einfällen besteht, die gegen die Macht herrschender Strategien und Deutungskartelle gerichtet sind und diese fintenreich unterlaufen.30

Folgt man derartigen Deutungen, dann erweist sich der harsch artikulierte Unmut über die ,,Allgegenwart" und ,,Ungreifbarkeit" dieser Phänomene als triftige Beobachtung, gewinnt der Zorn seine Logik, denn die Phänomene neigen dazu, sich den Mitteln der Umfrageforschung permanent zu verweigern.

Als Konstrukteure distinkter ostdeutscher ,,Abgrenzungsidentitäten" treten nicht nur ostdeutsche Akteure, Gruppen und Verbraucher hervor: Entziehen sich Identitätsbildungen immer wieder den Instrumenten der Umfrageforschung, so sind die Agenten selbst wie deren populäre, medial vermittelte Produkte maßgeblich an der Erzeugung ostdeutscher Identitäten beteiligt. - Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bieten Genese und fortlaufende Tradierung der Semantik vom ,,Bürger zweiter Klasse":

Die von der Umfrageforschung eingeführte Wendung erweist sich als ein Effekt der ,,Echo-Demoskopie". Die breite medienwirksame Resonanz ist das Resultat einer ,,self-fulfilling prophecy" und wird selbst als Faktor der Diskriminierung wirksam. Denn in einer demokratisch verfaßten Wettbewerbsgesellschaft, in der die Performanz von Akteuren und sozialen Gruppen essentiell mitentscheidet über deren allgemeine Wertschätzung und mithin den Zugang zu knappen Gütern und Ressourcen maßgeblich beeinflußt, können Einstufungen wie jene vom ,,Bürger zweiter Klasse" folgenreich sein. Sie generieren eine Eigenlogik nämlich auch dann, wenn die rationale Absicht von Akteuren darauf gerichtet ist, die Zweit-Rangigkeit der Ostdeutschen abzuwenden: Wer (vermeintlich) selbst fortdauernd seine Zweitklassigkeit herauskehrt, dem kann und soll wohl geholfen werden, sofern die Nöte rational erkennbar und definierbar sind, ob aber ,,Erstklassigkeit" möglich ist und eine gleichrangige Statusposition gewährt werden soll, muß dann wohl doch bezweifelt werden ...

Methodisch ist die Frage nach der Zuordnung als ,,Bürger zweiter Klasse" immer eine Alternativfrage geblieben, welche die Selbstzuschreibung nachgerade suggestiv herausfordern muß.31 Zwar sind in entsprechenden Analysen die Beweggründe für die Selbsteinstufung geprüft worden, doch wurden keine Tests bekannt, in denen die Wertigkeit des Topos geprüft wird, indem zum Beispiel eine dritte Antwortalternative (Benachteiligung auf Zeit) eingefügt wird. In Diskursen, die sich auf innerstaatliche, affektiv gespannte, asymmetrische Identitäten beziehen, ist eine medienwirksame, deutungsmächtige Echo-Demoskopie offenbar immer auch ,,Partei": Sie webt und wirkt nach Kräften mit, erfindet Topoi, die Diskurse auf Jahre vorstrukturieren.

Vergleichende Analysen ebenso wie aktuelle Diskurse veranlassen zu der Annahme, daß ostdeutsche Selbstbilder und -zuschreibungen als symbolische Konstruktionen kultureller Identität vorgestellt werden können32:

- Symbolisch konstruierte Identitäten können gerade deshalb sozialintegrativ wirksam werden (klassen- schichtenübergreifend), weil mitgeführte Symbole, die als Zeichen für Verbindendes stehen, mit unterschiedlichem Sinn aufgeladen und verschieden ausgelegt werden können - je nach der Interessenlage der jeweiligen Interpretationsgemeinschaft. ,,Kulturelle Symbole integrieren nicht, weil sie einen allen gemeinsamen Sinn beinhalten, sondern weil man glaubt, daß sie es tun".33

- Demzufolge schließen Konstruktionen kultureller Identität immer auch Erfindungen, kreative Umformungen ebenso ein wie Legenden und Nostalgien, also retrospektive Idealisierungen, die empirischer Überprüfung nicht standhalten. Wiewohl nach Datenlage von Erhebungen und deskriptiven Feldstudien eine sozial relevante DDR-Nostalgie nicht nachweisbar ist, sind auch in Ostdeutschland wie für alle partikularen Selbstbindungen neben Vorurteilsstrukturen auch Anhänglichkeiten an frühere Lebensformen und Alltagspraktiken, Symbolfiguren der Kultur und Erlebnisse der Vergangenheit charakteristisch und beobachtbar. Selbst ,,Nostalgie" ist ein ambivalentes Phänomen. So hatte Jean Baudrillard daran erinnert, daß Nostalgie ja immer auch ,,das Vorgefühl für das bewahrt, was schon einmal geschehen ist und erneut stattfinden könnte". Denn sie sei ,,der umgekehrte Spiegel der Utopie, die niemals gestillt wird".34

Eigensinn lebensweltlicher Basierungen

Zeitgeschichtlicher Hintergrund

Zunächst wären auf der zeitgeschichtlichen Ebene jene tradierten und ambivalenten Bindungen an übergeordnete Großgruppen und Gemeinschaften genauer zu erfassen und zu rekonstruieren, die sich innerhalb der geteilten Gesellschaften im Verlaufe der vergangenen Jahrzehnte formierten, verschoben oder stabilisiert hatten, da sie Lebenspläne, Selbstverortungen und Selbstverständnisse, Deutungsmuster und Weltbilder entscheidend beeinflußt hatten. Schließlich ist der zeitgeschichtliche Hintergrund als Interpretationsfolie und Horizont aktueller Daten unverzichtbar.

So hatten tiefer lotende Längsschnittanalysen mehrerer Datensätze gezeigt, daß die Westdeutschen keineswegs so distinktiv auf die ,,Brüder und Schwestern" im Osten fixiert sind, wie manche Deutungen nahelegen. Auch Mitte der neunziger Jahre sind westdeutsche Mehrheiten in der ,,postnationalen" Gesellschaft viel stärker auf westeuropäische, nordamerikanische sowie auf Lebensformen in Entwicklungsländern orientiert als auf ostdeutsche Personen, Probleme und Lebensverhältnisse, wie die Ergebnisse Forschungsgruppe um G. Haeger und A. Mummendey ausweisen.35 Eine ,,nachträgliche Abstandnahme" der Westdeutschen gegenüber den Landsleuten nach der Euphorie des Mauerfalls, wie sie Wolfgang Zapf36 diagnostiziert hatte, läßt sich in zeitgeschichtlicher Perspektive nicht aufrechterhalten. Exemplarisch:

1984 hatte das Forschungsinstitut EMNID eine Frage wiederholt, die bereits 1974 gestellt worden war: ,,Stellen die Bundesrepublik und DDR eine Nation dar?" Hatten 1974 noch 70 Prozent der Befragten mit Ja geantwortet, so waren es 1984 nur noch 42 Prozent. (Für Nein entschieden sich 1974 nur 29 Prozent, zehn Jahre später waren es bereits 53 Prozent.)37

In den neueren Debatten über Identitäten in Deutschland werden nun auch, zunächst überraschend, diese und analoge Befragungsdaten herangezogen. Wie Heiner Meulemann konzedierte, seien die Sozialverfassungen der beiden deutschen Staaten so konträr gewesen, ,,daß sie auch in der Meinung der Bevölkerungen etwa ab 1970 zwei deutsche Nationen darstellten".38 Ähnlich gelagert ist die These des Nestors der ostdeutschen Kulturwissenschaften Dietrich Mühlberg, dem zufolge die Zweistaatlichkeit ,,zwei deutsche Kulturen" erzeugt habe.39

Mithin muß auch nach der ambivalenten, eigentlich dreistufigen Bindung der ostdeutschen Bürger, nämlich an ,,Deutschland", an die BRD und die DDR vor der Vereinigung gefragt werden, wenn aktuale ostdeutsche Identitätsbildungen zur Diskussion stehen. Zwar ist die Datenlage diesbezüglich problematisch und derzeit eher dürftig, dennoch ergeben sich Anhaltspunkte, die belegen, daß gegenwärtig beobachtbare Konstruktionsprozesse einen spezifischen historischen Hintergrund haben.

Den Umfragen des Zentralinstituts für Jugendforschung Leipzig kann entnommen werden, daß sich noch 1985 eine knappe Mehrheit der befragten Lehrlinge (Auszubildende), nämlich 51 Prozent, für eine starke Identifikation mit der DDR aussprach. Im September 1989 war dieses Votum auf 16 Prozent abgesunken; 58 Prozent identifizierten sich mit ,,Einschränkungen", 26 Prozent überhaupt nicht.40

In der Literatur wird von einer ,,diffusen Unterstützung" (diffuse support) des DDR-Systems seit Beginn der siebziger Jahre gesprochen, das sich auf eine forcierte Sozialstaatspolitik unter dem Regime von Erich Honecker gründete. Die ,,partielle Loyalität" wurde dem System sukzessive in dem Maße entzogen, wie der Output dieser Politik zu Beginn der achtziger Jahre nachließ41; ,,alte" Probleme wie etwa die unzureichende Versorgung der Bevölkerung erneut hervortraten und die Reisemöglichkeiten nicht wie erwartet erweitert, sondern begrenzt wurden. In den ,,Wendemonaten" des Herbstes 1989, als bereits unzensierte Erhebungen möglich waren, artikulierte sich die ,,doppelte nationale Identität"42 der Ostdeutschen deutlicher: Ende November 1989 fühlten sich 76 Prozent der Befragten als ,,Deutsche", die gleiche Zahl der Probanden bestimmte sich als ,,DDR-Bürger" (Doppelnennungen waren möglich). Zwar änderte sich das Bild im Februar 1990: 80 Prozent fühlten sich als Deutsche, aber noch 53 Prozent bestimmten sich sowohl als Deutsche wie auch als Bürger der DDR.43

Die Erinnerung an derartige Daten, die in den ersten Jahren der Vereinigung der Vergessenheit anheimfielen, impliziert die Aufforderung, die Geschichtsvergessenheit aufzugeben und die 40jährige deutsche Zweistaatlichkeit in unterschiedlichen Systemen auch konzeptionell in den Blick zu rücken, wenn im deutschen Identitätsdiskurs Fragen nach Qualität und Reichweite aktueller Distinktionen und Praktiken sowie wechselseitiger Abgrenzungen nachgegangen wird.

,,Gelebte" Identitäten in Ostdeutschland

Im Kontrast zum westeuropäischen Diskurs um neue partikulare Identitätsbildungen ist eine weitere, wichtige Unterscheidung zu beachten: Während sich regionale Identitätsprozesse im westeuropäischen Raum einem vergleichsweise langsamen strukturellen und sozialen Wandel verdanken, handelt es sich in Ostdeutschland um einen gleichsam eruptiven systemischen Transformationsprozeß, der mit der Vereinigung zweier im Nachkrieg entstandener Staaten verbunden ist.

Folglich verdient die Ebene lebensweltlicher, soziokultureller Basierungen ostdeutscher Identitätsbildungen und -konstrukte eine besondere Gewichtung. Erst wenn der zumeist ,,strukturelle Blick der Sozialwissenschaften"44 geöffnet wird und in ethnographischen und sozialphänomenologisch intendierten Fallstudien gelebte Identitäten, alltägliche Handlungswelten empirisch sichtbar gemacht werden, kann gezeigt werden kann, wie der Modus des Umbruchs (Unsicherheiten, Anomien) zu einer Stabilisierung eingelebter Beziehungsmuster geführt hat.

Eigensinnige und oftmals verquere Identitätsbildungen lassen sich besser erschließen, wenn ein Verständnis zugrunde liegt, dem zufolge Individuen und Gruppen auf radikale systemische Diskontinuitäten mit lebensweltlichen Kontinuitäten, mit der Restabilisierung tradierter Lebensmuster antworten, auch dann, wenn diese Umbrüche demokratisch legitimiert sind. Anthony Giddens hatte darauf aufmerksam gemacht, daß ,,Kontinuität auch während der radikalsten Phasen der Transformation (besteht) - außer dem Grenzfall, daß alle Mitglieder einer Gesellschaft physisch ausgerottet werden".45

In der Prozeßstruktur der Systemtransformation korrespondierte das Phänomen ostdeutscher Identitätsbildungen mit dem Übergang zu einer neuen Phase des Wandels. Nachdem die Transition, die Übertragung des neuen Institutionensystems, formal weitgehend abgeschlossen war, setzte ein Abschnitt ein, der in der Literatur als längerfristige Strukturierungsphase charakterisiert worden war. Diese war nun auf die komplexe Umbildung der gesamten Gesellschaft zu demokratisch-marktwirtschaftlichen Reproduktionsweisen gerichtet, sie umfaßte das koordinierte Zusammenwirken der neu institutionalisierten gesellschaftlichen Bereiche (Politik, Recht, Wirtschaft).

In dieser Phase traten tradierte soziale Strukturen, Netzwerke, alltägliche Gewohnheiten und Orientierungsmuster erneut hervor. Sie machten sich vielfach konfliktiv und problemhaft geltend, da ihre Differenz oder ,,Kontextdiskrepanz" erst sichtbar und bearbeitet werden konnte, nachdem das neue Institutionensystem übertragen worden war. Die ,,adaptive Rückkehr kultureller Traditionsbestände" verweist in der Transformationspraxis nicht nur auf die Langwierigkeit des Wandels, sondern darauf, daß Innovationen auch Rekombinationen darstellen können, ein ,,wirkliches Vergessen, Entsorgen der Vergangenheit"46 unmöglich ist (R. Kollmorgen).

Insbesondere in den soziokulturellen Alltagspraxen und Orientierungen zeigte sich, daß Transformation in ihrem weiteren Verlauf immer auch als Vermittlungsprozeß zwischen Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft zu verstehen ist. Die ,,Entdeckung" ostdeutscher Identitäten in den Medien wie in der Umfrageforschung korrespondiert gerade mit dieser Phase des Wandels, in der auch neue Selbstbilder und -zuschreibungen in Ostdeutschland entworfen und strukturiert worden sind.

Am Beispiel von Familienstudien ebenso wie an Milieustudien in industriellen und Arbeitermilieus, an Studien zur beruflichen Mobilität und zum Wandel von Erwerbsmustern u.ä. war im Rahmen der Transformationsforschung zunächst gezeigt worden, welche Anstrengungen und Leistungen aufgebracht werden mußten, um das Alltagsleben zu sichern und in Gang zu halten; wie dabei tradierte Deutungs- und Beziehungsmuster aus der sozialen Erlebnis- und Erfahrungswelt eingesetzt und aktiviert worden sind.

- So war aus einer komplex angelegten Familienstudie im Bundesland Brandenburg hervorgegangen, daß die in den achtziger Jahren ausgebildeten Öffnungen und ,,kreativen Anspruchsbestände" vielfach zurückgestellt oder ausgesetzt worden sind.47 Als nahezu einziges soziales Netz, das den Umbruch überstanden hatte, verstanden sich ostdeutsche Familien vorrangig als Sozial- und Zweckgemeinschaften, deren Bestandserhaltung (weniger Geburten, Eheschließungen und -scheidungen) im Vordergrund stand. Nach einer kurzen Phase experimenteller Öffnungen waren die Familien alsbald (seit 1993) zu tradierten Gewohnheiten und Gepflogenheiten zurückgekehrt. Die für die DDR typische Vernetzung von Erwerbsarbeit und Familienleben in ihrer Wertdimension blieb nicht nur erhalten, sondern hatte sogar noch zugenommen (75 Prozent der Frauen, 78 Prozent der Männer plädieren für Vereinbarkeit). Im Unterschied zu den achtziger Jahre nahm der Grundwert der Erwerbsarbeit eine Schlüsselrolle ein, demgegenüber verloren die Lebensorientierungen ,,Freude" und Freizeit, Politik und Kultur erheblich an Gewicht; der Trend zur Verhäuslichung schien sich zu verstetigen. In der Brandenburger Familienstudie heißt es: ,,Die Familien sind weit davon entfernt, die Parameter einer westlichen ,Freizeitgesellschaft` zu leben. Sie sind auffällig immobil geworden und verbringen einen Großteil ihrer freien Zeit in den eigenen vier Wänden".48

- Auch Untersuchungen in ländlichen oder Industriearbeitermilieus belegen, daß tradierte Orientierungsmuster und Identitäten gerade dort stabilisierend wirkten, wo Deindustrialisierungen mit dem Verlust wichtiger Formen von Gesellschaftlichkeit verbunden waren. Der ,,Kampf um die Festung Alltag" war zur wichtigsten Aufgabe geworden. Die paradoxe Figur des Rückzuges auf tradierte Muster als einzig möglicher Form der Integration erwies sich besonders in Arbeitermilieus, wie die Studien belegen, als ein ,,Konglomerat aus eigensinniger Interessenartikulation, egalitärem Gemeinsinn, passiver Stärke und Konformität".49

- Analysen zur beruflichen Mobilität und zum Wandel von biographischen und Erwerbsmustern in Ostdeutschland gelangten übereinstimmend zu dem zunächst überraschenden Befund, daß jenes Anspruchsniveau reproduziert worden war, das bereits in den Handlungsfeldern der Herkunftsgesellschaft erworben wurde.50 Die Gesamtbilanz wies aus, daß der Systemwechsel nicht zu einer generellen Neugewichtung und Neuverteilung von Chancen und Potentialen geführt hatte. Die Krisenhaftigkeit der Transformation sowie Erscheinungen sozialer Desintegration bewirkten, daß viele Menschen auf ,,alte Wahrnehmungs- und Orientierungsmuster unter veränderten Vorzeichen"51 zurückgegriffen haben.

- Schließlich verweisen biographisch orientierten Analysen darauf, daß von einer Koinzidenz systemischer und biographischer Transformation nicht die Rede sein kann. Ist doch der Wandel individueller Strukturen nicht - wie häufig deterministisch unterstellt wird - ,,als abhängige Variable äußerer Stimulationen"52 zu begreifen. Die radikale systemische Diskontinuität des ostdeutschen Umbruchs scheint die Kontinuierung individueller biographischer Muster bewirkt zu haben. Eine Wahrnehmungsform ist die auffallende ,,biographische Schwere", die ostdeutschen Menschen nachgesagt wird. Auch diesbezüglich gilt, daß Personen ihre Biographien vorrangig nicht deshalb ,,hartnäckig verteidigen", weil ihnen die Anerkennung der Lebensleistung versagt wird, sondern schlicht deshalb, weil ein anderes als das gelebte Orientierungsmuster in der Regel nicht verfügbar ist. Für fundamentale Umbrüche, in denen die Sinnhaftigkeit individuellen Daseins ,,dramatisiert" wird, kann dieser Zusammenhang offenbar allgemeine Geltung beanspruchen. So hatte Alois Hahn, bezogen auf die Geschichte der Neuzeit, nachgewiesen, daß Biographie als Selbstidentifikation immer dann eine besondere Dringlichkeit gewinnt, wenn ,,bisher tragende Ordnungen erschüttert sind".53

Zusammenfassung, Ausblick

1. Thesen über eine geschwinde Anpassung ostdeutscher an westdeutsche Lebensstile und -praktiken mußten verworfen werden, da private Lebensformen, also gelebte Identitäten und alltägliche Sozialbeziehungen, sich stärker aus unmittelbaren Lebenserfahrungen und der je eigenen Sozialisationsgeschichte speisen als aus politischen Systementscheidungen. Wie der Jugend- und Familiensoziologe Hans Bertram resümierend formuliert hatte, ,,sind bestimmte Anpassungsleistungen, die in Theorien über die Transformation in bezug auf die Betroffenen artikuliert werden, von den Individuen nicht nachvollzogen worden, denn diese hatten ihre Lebensentwürfe beibehalten".54

2. Die Bundesrepublik Deutschland bleibt im Ergebnis der Vereinigung und der weitergehenden Wandlungsprozesse in Ostdeutschland eine dualistische Gesellschaft, in der gravierende wirtschaftliche und soziale, kulturelle und politische (z.B. im Parteiensystem) Unterschiede entlang jener territorialen Achse verlaufen, die zuvor die vierzigjährige Zweistaatlichkeit Deutschlands in unterschiedlichen Systemen und Blockbindungen markiert hatte.55 Der Dualismus, der durch die bestehende föderative Struktur nicht aufgehoben wird, bezieht sich auf die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen, die soziale Struktur der Bevölkerung, die Infrastruktur, den wirtschaftlichen Output sowie die Leistungsfähigkeit der Industrie (Dependenzökonomie Ostdeutschlands). Damit sind Rahmenbedingungen skizziert, welche zwar Vermutungen über die Fortdauer ostdeutscher Identitätsbildungen zulassen; deren künftige Existenzweisen, Ausdrucksformen und interne Wandlungsprozesse müssen aber als relativ offen angesehen werden.56

3. Die Konstruktion ostdeutscher Identität ist nicht mit der Reproduktion alter Formen und Muster der untergegangenen DDR gleichzusetzen. Es handelt sich um Transformationsgestalten, die sich aus neuen Lern- und Erfahrungsprozessen ebenso speisen wie aus den Desideraten sozialer Integration: ,,Die ostdeutsche Identität ist möglich geworden, weil die DDR gescheitert ist".57

Die asymmetrische Struktur von Vereinigung und Transformation, die Fortdauer des innerdeutschen Dualismus auf der West-Ost-Achse könnte jedoch eine Pfadlogik generiert haben, die zu einer ethnizitätsförmigen Identitätsformation58 der Ostdeutschen führte, die sich auch dann verstetigt, wenn sozialstrukturelle Wandlungen und Differenzierungen fortschreiten und die kulturellen Gehalte ostdeutscher Identität weiteren Veränderungen unterliegen.

4. Unter den konkreten Transformationsbedingungen war die entstandene Differenz zwischen dem etablierten institutionellen Kultursystem der ,,Alteingesessenen" und dem soziokulturellen Interaktionsgefüge der ostdeutschen ,,Neuankömmlinge" nur unzureichend durch die ,,knappe Ressource" der nationalen Solidarität bearbeitbar. Denn das Selbstverständnis der Bundesrepublik war im Verlauf ihrer Geschichte auf den singulären Sonderweg einer ,,postnationalen" Gesellschaft, eines verkürzten Verfassungspatriotismus fixiert worden, der sich von den ursprünglichen Intentionen seines Begründers (Dolf Sternberger) zunehmend entfernte.59 Denn das Fehlen eines republikanisch begründeten Staatsverständnisses der westdeutschen Eliten brachte einen ,,negativen Nationalismus" hervor, der Demokratie und gemeinschaftlich bekundete Wertbindungen nicht miteinander vermitteln konnte. Richard Schröder: ,,Wo die Perspektive Gesellschaft allein herrschend wird, besteht die Gefahr einer mechanistischen und technizistischen Außenperspektive des Gesellschaftsingenieurs auf das menschliche Zusammenleben, der Tilgung der Dimension der intersubjektiven Verständigung, die sich ja nur in einem ,Wir` vollziehen kann".60

Nicht die ,,Abgrenzungsidentität" der Ostdeutschen, sondern die dem republikanischen Defizit geschuldete ,,Kommunikationsverweigerung des Westens" (Lothar Probst), dessen Unverständnis für die geschichtliche Leistung der Ostdeutschen, erstmalig staatliche Einheit in Freiheit und friedlicher Aktion erzwungen zu haben, erweist sich als normative Grundlage für anhaltende Mißverständnisse und kulturelle Diskriminierung.

5. Systemintegration konnte demzufolge nicht hinreichend mit der Sozialintegration verschränkt werden: Die ,,halbierte Transformation" erzeugte die dualistische Gesellschaft in Deutschland, mithin entstanden strukturelle Bedingungen für polarisierende Wahrnehmungen auf der Ost-West-Ebene, die sich derzeit nicht verflüssigen, sondern tendenziell verfestigen. Wenn die Stärkung von Demokratie und politischer Kultur zu Recht als entscheidende (aber nicht als einzig) progressive Bearbeitungsformen an der Schnittstelle von Systemintegration und Sozialintegration favorisiert werden61, dann ist zugleich die Frage nach spezifischen, situativ anschlußfähigen, also der besonderen Situation adäquaten und vermittelnden Institutionalisierungen zu stellen, um eine nachhaltige Prozeßdynamik der Integration zu initiieren.

Da für eine gelingende sozial-kulturelle Angleichung (Akkulturation) erfahrungsgemäß das Medium der eigenen Kultur unverzichtbar ist, wären eigenständige Formen, Foren oder Medien herzustellen und zuzuerkennen, in denen Selbstkontrolle und Selbstverständigung der Ostdeutschen erst ermöglicht werden. Deren demokratischer Gehalt vorausgesetzt, könnte lebensweltlicher Eigensinn reflexiv gewendet und die Deutungshoheit über das eigene Leben zurückgewonnen werden; nicht als separates und separierendes Sonderinteresse, sondern als notwendige Bedingung sozial-kultureller Integration in das Kultursystem der Bundesrepublik.62

Anmerkungen

1 Bei dem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Schriftfassung des Referates ,,East Germany Identity: Between Symbolic Construction and Societal Stubborness", das der Autor auf der Konferenz ,,The German Road from Socialism to Capitalism: Eastern Germany Ten Years after the Collaps of the GDR", am Center for European Studies der Harvard University am 8. Juni 1999 vorgetragen hatte.

2 Aleida Assmann: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht, in: Rolf Lindner (Hg.), Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität, Frankfurt a.M./New York 1994, S. 31/32.

3 Vgl. Gerd Mutz: Biographische Phasen im Transformationsprozeß. Von der Neuen Zeit zur Zeit des neuen Fundamentalismus, in: Gesellschaften im Umbruch. Verhandlungen des 27. Kongresses der Deutschen Gesellschaft Soziologentages in Halle an der Saale 1995, Frankfurt a.M./New York 1996, S. 252/253.

4 Detlef Pollack/Gert Pickel: Die ostdeutsche Identität - Erbe des DDR-Sozialismus oder Produkt der Wiedervereinigung? In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 41-42/1998, S. 9.

5 Vgl. Reinhart Kreckel: Soziale Integration und nationale Identität, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 1/1994, S. 16.

6 Vgl. Volker Zastrow: Faule Bilanzen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.5.1998, S. 1.

7 Manfred Kuechler: Vereint und doch getrennt? In: Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland, Opladen 1998, S. 292.

8 Vgl. Heiner Meulemann: Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wieder vereinten Nation, Weinheim 1996; Ders. (Hg.): Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland, Opladen 1998.

9 Vgl. u.a. Jürgen Hofmann u.a.: Zwischen Anschluß und Ankunft. Identitätskonflikte und Identitätssuche der Ostdeutschen auf dem Weg zum Bundesbürger, 1992; Thomas Koch: Von der Renaissance ostdeutschen Wir- und Selbstbewußtseins, in: Die real-existierende postsozialistische Gesellschaft, Berlin 1994; Rudolf Woderich: Peripherienbildung und kulturelle Identität, in: Raj Kollmorgen/Rolf Reißig/Johannes Weiß (Hg.), Sozialer Wandel und Akteure in Ostdeutschland, Opladen 1996.

10 Heiner Meulemann: Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland (Anm. 8), S. 17.

11 Vgl. Detlef Pollack: Ostdeutsche Identität - ein multidimensionales Phänomen, in: Ebenda, S. 301-318.

12 Vgl. Heiner Meulemann, ebenda, S. 7.

13 Vgl. Kai Arzheimer/Markus Klein: Die friedliche und die stille Revolution, in: Oscar W. Gabriel (Hg.), Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinigten Deutschland, Opladen 1997, S. 57.

14 Max Kaase/Petra Bauer-Kaase: Deutsche Vereinigung und innere Einheit 1990-1997, in: Heiner Meulemann (Hg.), Werte und nationale Identität im vereinigten Deutschland (Anm. 8), S. 251-268.

15 J. Doll/R. Mielke/M. Mentz: Formen und Veränderungen wechselseitiger ost-westdeutscher Stereotypisierungen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46 (3), S. 501-514.

16 Max Kaase/Petra Bauer-Kaase (Anm. 14), S. 258.

17 Vgl. Peter Schmidt: Nationale Identität, Nationalismus und Patriotismus in einer Panelstudie 1993, 1995 und 1996, in: Heiner Meulemann (Hg.): Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland (Anm. 8), S. 269-281.

18 Vgl. Thomas Gensicke: Deutschland am Ausgang der neunziger Jahre. Lebensgefühl und Werte, in: Deutschland Archiv 31 (1998) 1, S. 34.

19 Vgl. Peter Schmidt (Anm. 17), S. 280.

20 Vgl. Wolfram Brunner/Dieter Walz: Selbstidentifikation der Ostdeutschen 1990-1997, in: Heiner Meulemann (Hg.) Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland (Anm. 8), S. 240ff.

21 Selbst in dem von Robert Hettlage herausgegebenen, sehr informativen und innovativen Band ,,Kollektive Identität in Krisen" (Opladen 1997), in dem west- und osteuropäische wie nordamerikanische Identitätsprozesse behandelt werden und auch die bayrische Ethnizität zur Sprache kommt, bleiben ostdeutsche Identitäten außen vor.

22 Erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, nach Abschluß der Sonderprogramme der Transformationsforschung, wurden komplexer angelegte universitäre Projekte installiert, die sich mit Problemen kollektiver Identitäten in Gegenwart und Geschichte befassen: ein Sonderforschungsbereich an der Universität Leipzig zu Identitäten in Sachsen, ein Graduiertenkolleg an der Universität Halle.

23 Richard Münch: Das Projekt Europa. Zwischen Nationalstaat, regionaler Autonomie und Weltgesellschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 23.

24 Klaus von Beyme: Die Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen Systeme, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 3/1996, S. 295-297.

25 Wolfgang Ludwig Schneider: Überhebliche Wessis - (n)ostalgische Ossis, in: Heinz Sahner (Hg.), Gesellschaften im Umbruch, 27. Kongreß der DGS, Halle an der Saale, Kongreßband II, Opladen 1995, S. 544-547.

26 Vgl. Sighart Neckel: Etablierte und Außenseiter und das vereinigte Deutschland, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 2/1997, S. 205-215.

27 Vgl. Norbert Elias/John Scotson: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a.M. 1990.

28 Vgl. Robert Hettlage: Identitätsmanagement. Soziale Konstruktionsvorgänge zwischen Rahmung und Brechung, in: WeltTrends, Nr. 15, Sommer 1997, S. 7-23.

29 Vgl. Thomas Ahbe: Ostalgie als Laienpraxis, in: Berliner Debatte INITIAL 10 (1999) 3, S. 87-97; Zitat S. 93 (Hervorh. im Orig.).

30 Vgl. Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 16 u. 24.

31 Frageformulierung von EMNID seit 1990: ,,Was trifft wohl auf die Bürger der neuen Bundesländer zu? Die einen sagen: Wir fühlen uns durch die Vereinigung als gleichberechtigte Bürger. Die anderen sagen: Wir werden auf längere Zeit ,Bürger zweiter Klasse` bleiben. Welcher Meinung stimmen Sie zu?" Vgl. Wolfgang Brunner/Dieter Walz: Selbstidentifikation der Ostdeutschen (Anm. 20), S. 230.

32 Vgl. Rudolf Woderich: Peripherienbildung und kulturelle Identität, in: Kollmorgen/Reißig/Weiß (Hg.) Sozialer Wandel und Akteure in Ostdeutschland (Anm. 9), S. 81-99.

33 Josef Bleicher: Die kulturelle Konstruktion sozialer Identität am Beispiel Schottlands, in: Hans Haferkamp (Hg.), Sozialstruktur und Kultur, Frankfurt a.M., S. 328-346.

34 Jean Baudrillard: Die Illusion des Endes oder der Streik der Ereignisse, Berlin 1994, S. 186.

35 G. Hager, A. Mummendey u.a.: Zum Zusammenhang von negativer sozialer Identität und vergleichen zwischen Personen und Gruppen, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie 27, S. 259-277.

36 Wolfgang Zapf: Die Transformation der ehemaligen DDR und die soziologische Theorie der Modernisieung, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 3/1994, S. 295-305.

37 Vgl. Barbara Hille/Walter Jaide: Einstellungen Jugendlicher zur nationalen Frage. Im Spiegel sozialwissenschaftlicher Forschung, in: Die Frage nach der deutschen Identität, Bundeszentrale für politische Bildung, Band 221, Bonn 1985, S. 23-44.

38 Heiner Meulemann: Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland (Anm. 8), S. 16.

39 Vgl. Dietrich Mühlberg: Nachrichten über die kulturelle Verfassung der Ostdeutschen, in: Berliner Debatte INITIAL 10 (1999) 2, S. 4/5.

40 Vgl. Peter Förster/Günter Roski: DDR zwischen Wende und Wahl. Meinungsforscher analysieren den Umbruch, Berlin 1990, S. 39.

41 Vgl. Wolfgang Bergem: Einflußmöglichkeiten staatlich motivierter Sozialisation. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Kultur in Deutschland. Inaugural-Dissertation, München 1992.

42 Dieter Segert: Politische Kultur der DDR/Ostdeutschlands -ein postkommunistisches Phänomen? Manuskript 1995.

43 Peter Förster/Günter Roski (Anm. 40), S. 94.

44 Helmut Berking: Politik und Alltag in einem ostdeutschen Dorf, Manuskript 1995.

45 Anthony Giddens. Strukturation und sozialer Wandel, in: Hans-Peter Müller/Michael Schmid (Hg.), Sozialer Wandel, Frankfurt a.M. 1995, S. 173.

46 Raj Kollmorgen: Schöne Aussichten? Eine Kritik integrativer Transformationstheorien, in: Kollmorgen/Reißig/Weiß (Hg.): Sozialer Wandel und Akteure in Ostdeutschland (Anm. 9), S. 281-331.

47 Jutta Gysi/Günter Kapelle/Dagmar Meyer: ,,Wandel in den Lebensweisen von Familien - Veränderungen in den Einstellungen und familialen Verhaltensweisen von Frauen und Männern, Eltern und Jugendlichen". Kurzfassung der Ergebnisse eines DFG-Projekts, 1994, Manuskript im Archiv des Brandenburg-Berliner Instituts für Sozialwissenschaftliche Studien (BISS).

48 Ebd., S. 9.

49 Regina Bittner: Rückzug als Integration? Umbrucherfahrungen in einer ehemaligen Industrieregion. Dokumentation zum Seminar der Akademie Stiftung Bauhaus Dessau, Dessau 1997, S. 12-22.

50 Gabriele Andretta/Martin Bethke: Zwischen den Welten: Berufliche Transformationsbiographien in den neuen Bundesländern, in: Gesellschaften im Umbruch. Verhandlungen des 27. Deutschen Soziologentages in Halle an der Saale 1995, Frankfurt a.M./New York 1996, S. 706-721.

51 Gerd Mutz: Institutionalisierung reflexiver Erwerbsbiographien in West- und Ostdeutschland, in: Erika M. Hoerning/Michael Corsten (Hg.): Institution und Biographie. Die Ordnung des Lebens, Pfaffenweiler 1995, S. 131-146; Zitat S. 142.

52 Heinz Bude: Zum Problem der Selbsttransformation, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Sozialstruktur und soziale Typik, Frankfurt a.M./New York 1986, S. 84-111; Zitat S. 94.

53 Alois Hahn: Biographie und Lebenslauf, in: Hans-Georg Brose/Bruno Hildenbrand (Hg.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen 1988, S. 91-105; Zitat S. 102.

54 Hans Bertram: Familienentwicklung und Haushaltsstrukturen, in: Wendelin Strubelt u.a. (Hg.), Städte und Regionen - Räumliche Folgen des Transformationsprozesses, Opladen 1996, S. 183-215; Zitat S. 213.

55 Vgl. Alessandro Cavalli: Die deutsche Gesellschaft nach der Vereinigung aus der Sicht eines Europäers, in: Gesellschaften im Umbruch (Anm. 50), S. 556.

56 Vgl. auch Thomas Koch: Ostdeutsche Identitätsbildungen in der dualistischen Gesellschaft, in: Berliner Debatte INITIAL 8 (1997) 3, S. 100/101. Koch stützt sich auf Cavallis These von der dualistischen Gesellschaft und projiziert sie als Struktureffekt der Transformation und im Sinne einer bereits generierten Pfadlogik auf den Zeitraum der nächsten Jahrzehnte.

57 Heiner Meulemann: Werte und Wertewandel (Anm. 8), S. 18.

58 Vgl. Marc Howard: Die Ostdeutschen als ethnische Gruppe? Zum Verständnis der neuen Teilung des geeinten Deutschlands, in: Berliner Debatte INITIAL 6 (1995) 4/5, S. 119-131.

59 Vgl. Lothar Probst: Ost-West-Differenzen und das republikanische Defizit der deutschen Einheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 41-42/1998, S. 5.

60 Richard Schröder: Warum sollten wir eine Nation sein? In: DIE ZEIT Nr. 18 vom 25. April 1997, S. 3.

61 Vgl. Reinhard Kreckel: Soziale Integration und nationale Identität, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 1/1994, 13-30.

62 Vgl. Dietrich Mühlberg: Kulturelle Differenz als Voraussetzung innerer Stabilität der deutschen Gesellschaft? In: Berliner Debatte INITIAL 11 (2000) 2, S. 47-58.

Rudolf Woderich, Dr., Sozialwissenschaftler, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)