Erklärungsmodelle für Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt

Ein kritischer Überblick zum Diskussionsstand

Schon nach kurzer Beschäftigung mit den Theorien über Rechtsextremismus, Rassismus und (Jugend-)Gewalt fällt auf, dass es keinen überzeugenden Erklärungsansatz gibt.

Schon nach kurzer Beschäftigung mit den Theorien über Rechtsextremismus, Rassismus und (Jugend-)Gewalt fällt auf, dass es keinen überzeugenden Erklärungsansatz, sondern eine Vielzahl von Deutungsmustern gibt, die sich zum Teil widersprechen und wechselseitig ausschließen. Dabei korreliert die Beliebtheit der Theorien bzw. Theorieversatzstücke mit ihrer Beliebigkeit. Man spricht über Jugend und Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus, Antisemitismus und National(sozial)ismus, meint aber etwas anderes. Mit wissenschaftlichen Erklärungsmodellen wird Politik gemacht und gesellschaftlicher Richtungsstreit ausgetragen. Weil es nicht um die Wirklichkeit (des Rechtsextremismus) selbst, sondern um deren unterschiedliche Wahrnehmung geht, muss nach den dahinter verborgenen Interessen gefragt werden. Aufgabe der politischen Bildung wäre es, die in vielen Köpfen über Rechtsextremismus, Rassismus und Jugend-, besser: Jungengewalt, vorhandenen Bilder bewusster zu machen und zu hinterfragen, sodass Chancen für eine neue, unbefangenere Sichtweise entstehen.1

1. Rechtsextremismus nach dem Hitlerfaschismus: Die ,,demokratische Mitte" verdrängt Geschichte wie Gegenwart

1.1 Rechtsextremismus als ,,politisch-ideologische Erblast" und ,,historisches Auslaufmodell"

Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die Rechtsextremismusforschung in Deutschland - wie auch der Rechtsextremismus selbst - eine Zeitlang ganz im Bann des Hitlerfaschismus. Sie richtete ihr Hauptaugenmerk auf Entwicklungstendenzen, die eine Fortsetzung oder Wiederbelebung der NS-Aktivitäten darstellten. Begünstigt wurde diese Sichtweise durch Bildung neofaschistischer Parteien, etwa der Sozialistischen Reichspartei (SRP), die 1952 vom Bundesverfassungsgericht verboten wurde, und der Deutschen Reichspartei (DRP), die gleichfalls schon in ihrem Parteinamen zu erkennen gab, dass sie der großdeutschen Reichsidee verpflichtet war.

Die gesellschaftlich und politisch relevanten Kräfte der Bundesrepublik hatten offenbar Angst, das Thema ,,Rechtsextremismus" hochzuspielen. Arno Klönne spricht rückblickend vom ,,Desinteresse" der Fachwissenschaft an diesem Problemkreis.2 Unter diesen Voraussetzungen und den ungünstigen Rahmenbedingungen der Restaurationsperiode fristete die Rechtsextremismusforschung ein Schattendasein in Nischen des etablierten Wissenschaftsbetriebes, was durch Stellungnahmen der DDR-Führung, die Westdeutschland als ,,Hort des Neofaschismus" brandmarkten, noch verstärkt wurde. In dem Bemühen, dem Ausland keinen Vorwand für ,,antideutsche" Propaganda zu liefern, deckte man über fast alle Ereignisse, anhand derer hätte gezeigt werden können, dass ,,der Schoß noch fruchtbar" (Bert Brecht) war, den Mantel des Schweigens. Wenn dies nicht möglich erschien, wie bei der international Aufsehen erregenden Schändung jüdischer Grab- und Gedenkstätten zum Jahreswechsel 1959/60, mussten östliche Geheimdienstagenten und kommunistische Provokateure als Schuldige herhalten, oder man sprach verharmlosend von einer ,,antisemitischen Schmierwelle" bzw. von ,,Flegeleien" der meist jugendlichen Täter (Bundeskanzler Konrad Adenauer).

Rechtsextremismus galt bis 1989/90 im Grunde als ,,Restphänomen", bloße Residualkategorie und unerfreuliche Hinterlassenschaft einer gesellschaftsgeschichtlich abgeschlossenen Epoche: ,,Im Zuge einer Ablösung der noch vom ,Dritten Reich` beeinflußten älteren Generation, so wurde vielfach angenommen, werde sich die ,zivilgesellschaftliche Modernitätslücke` endgültig auf angenehm liberale Weise ausfüllen."3 Besonders konservative Forscher, etwa Hans-Helmuth Knütter, hielten ihn für ein politisch-ideologisches Relikt und Randproblem, das sich in absehbarer Zukunft aus biologischen Gründen quasi von selbst erledigen würde. 4

1.2 Extremismustheoretiker setzen Links- und Rechtsextremismus gleich, leugnen aber die Nähe der ,,bürgerlichen Mitte" zu dessen Ideologie

Diese Prognose erwies sich jedoch schon bald als unhaltbar, sodass andere Deutungsmuster das Fortleben des Rechtsextremismus erklären und seine Bedeutung gleichzeitig relativieren mussten. Während der 50er- und frühen 60er-Jahre, d.h. auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, wurden in der Bundesrepublik alle geistig-politischen Kräfte im Kampf gegen den Kommunismus bzw. den Marxismus-Leninismus mobilisiert. Was lag näher, als diesen unter dem Oberbegriff ,,Totalitarismus" mit dem Nationalsozialismus bzw. Hitlerfaschismus, also Links- und Rechtsextremismus, gleichzusetzen? Es gab keine geeignetere Konzeption, um das Scheitern der Weimarer Republik als das Resultat einer doppelten Frontstellung (gegenüber Rechts- und Linksex-
tremisten) zu entschuldigen, die geistigen Berührungspunkte des Bürgertums mit dem Nationalsozialismus zu verschleiern und die notwendige Aufarbeitung der NS-Zeit durch Neukonturierung des altbekannten Feindbildes (Kom-
munisten/Sozialisten) überflüssig zu machen.

Vor allem die beiden Politikwissenschaftler Uwe Backes und Eckhard Jesse versuchen seit über einem Jahrzehnt, die Extremismustheorie durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen aufzuwerten und ihr ein über den Verfassungsschutz5, Staatsapparat und bürgerliche Parteien hinausreichendes Renommee zu verschaffen. Sie legen ihren Arbeiten die folgende Definition zugrunde: ,,Der Begriff des politischen Extremismus soll als Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen fungieren, die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen, sei es, daß das Prinzip menschlicher Fundamentalgleichheit negiert (Rechtsextremismus), sei es, daß der Gleichheitsgrundsatz auf alle Lebensbereiche ausgedehnt wird und die Idee der individuellen Freiheit überlagert (Kommunismus), sei es, daß jede Form von Staatlichkeit als ,repressiv` gilt (Anarchismus)."6 Wer - wie Backes oder Jesse - die Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates zum (einzigen) Bestimmungsmerkmal des Extremismus erklärt, vernachlässigt die gesellschaftlichen Ursachen seines Untersuchungsgegenstandes. Extremismustheoretiker behandeln den Rechts- ebenso wie den Linksradikalismus primär als einen Gegner der bestehenden politischen bzw. Staatsordnung, nicht als ein soziales Phänomen, das (mitten) in der Gesellschaft wurzelt.

Eckhard Jesse lehnt es strikt ab, die Frage nach den geistigen Hinter- und Beweggründen für Unterdrückungsmaßnahmen eines totalitären Regimes überhaupt zu stellen: ,,Das Opfer totalitärer Mechanismen muß eine solche Differenzierung - Kommunismus als Deformation einer an sich guten Idee - als sophistisch, wenn nicht zynisch empfinden, ganz abgesehen davon, daß Ziele und Mittel vielfach ineinander übergehen."7 Die Opferperspektive ist freilich wenig geeignet, ein qualifiziertes fachliches Urteil zu fällen. Aus guten Gründen lässt man keine Gewaltopfer (bzw. Hinterbliebene), sondern nicht unmittelbar betroffene Geschworene bzw. Schöffen richten. Was aber im Strafprozess selbstverständlich ist, nämlich die Herkunft und Motive des Angeklagten zu würdigen - nicht bloß das Resultat seiner Handlung -, sollte auch eine Grundvoraussetzung für die politikwissenschaftliche Bewertung von Herrschaftssystemen sein.

Sowenig die Extremismustheorie eine Analyse des Rechtsextremismus ermöglicht, sowenig verfügen ihre Vertreter über eine geeignete Strategie, ihn zu bekämpfen. Sie setzen im Wesentlichen auf den Staat, genauer: einen starken Staat in Form einer ,,wehrhaften Demokratie", die Extremisten von links und rechts nicht an ihrem Engagement hindern, aber aus dem politischen Machtzentrum der Gesellschaft heraushalten soll. Hans-Gerd Jaschke weist auf die unterschiedliche Behandlung von Links- und Rechtsextremisten durch die Staatsschutzbehörden hin: Reaktionen gegen ,,Links" sind entschiedener und konsequenter, anarchistische Gewalttaten werden nicht nur schärfer verfolgt, sondern auch stärker politisch ausgeschlachtet, wofür die ,,Sympathisanten"-Hatz auf das angebliche Umfeld des RAF-Terrorismus (Heinrich Böll u.a.) als Paradebeispiel dienen mag.8

1.3 NPD, DVU und REPublikaner: demokratische ,,Normalität" oder Indiz für eine fortschreitende Entdemokratisierung?

Als die im November 1964 gegründete NPD bei Kommunal- und Landtagswahlen der nächsten Jahre mehrfach erfolgreich war, wurde das Problem des Rechtsextremismus wieder akut. Bedingt durch die Rezession 1966/67, in deren Gefolge das westdeutsche Bruttosozialprodukt erstmals zurückging und Massenarbeitslosigkeit um sich griff, sowie die Bildung der Großen Koalition auf Bundesebene im Dezember 1966, fiel es der rechtsextremen Sammlungspartei verhältnismäßig leicht, enttäuschte Kleinbürger und Bauern für sich zu gewinnen.

Erwin K. Scheuch löste sich 1967 in einem Diskussionsbeitrag dadurch aus dem Schatten des deutschen Nationalsozialismus, dass er den Vergleich des rechtsextremen Wählerreservoirs der Bundesrepublik mit demjenigen anderer hoch entwickelter Staaten des Westens, etwa der USA, für aufschlussreicher als den bis dahin generell üblichen historischen Analogieschluss erklärte: ,,In allen westlichen Industriegesellschaften existiert ein Potential für rechtsradikale politische Bewegungen. Rechtsradikalismus ist unter dieser Perspektive eine ,normale` Pathologie von freiheitlichen Industriegesellschaften."9 Zwar wurde der Rechtsextremismus nicht mehr als moderner Ausläufer, bloße Fortsetzung oder Imitat des Nationalsozialismus begriffen, aber zu einem krankhaften Auswuchs des westlichen Staats- und Gesellschaftssystems erklärt, der unvermeidbar und quasi ein leicht zu verschmerzender Preis für demokratische Freiheiten sei. Damit gab Scheuch hinsichtlich des Rechtsextremismus in Westdeutschland (NPD) politische Entwarnung, weil es nach seiner Deutung weder nötig noch möglich war, das Phänomen zu bekämpfen.

Bedingt durch die Schüler- und Studentenbewegung dominierte gegen Ende der 60er-/Anfang der 70er-Jahre fast überall eine kritischere Sichtweise. So führte die ,,Kulturrevolution" des Jahres 1968 zu einer ,,Revolutionierung der Faschismusdiskussion" und zu einer temporären Zurückdrängung der Totalitarismusdoktrin.10 Vor allem verglichen damit hielten sich die aufklärerischen Impulse der Studentenrebellion auf dem Gebiet der Rechtsextremismusforschung allerdings in Grenzen. Damals stand die Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit einschließlich der Verstrickung von Eltern und (Hochschul-)Lehrern eindeutig im Mittelpunkt, weshalb sich das Erkenntnisinteresse erst später der bundesrepublikanischen Gegenwart zuwandte.

Claus Leggewie reformulierte hinsichtlich der REPublikaner, die bei der bayerischen Landtagswahl 1986 drei Prozent der Stimmen errungen hatten, und der DVU, die ihren ersten Abgeordnetensitz einer Besonderheit des Bremer Wahlrechts verdankte, aus politikwissenschaftlicher Perspektive jene These, die Scheuch mit Blick auf die Wahlerfolge der NPD genau 20 Jahre vorher als Resultat seiner soziologischen Analyse präsentiert hatte: Dass die ,,Zwerge am rechten Rand" zwar nicht zu Riesen mutieren, aber bald Mandate in Parlamenten gewinnen würden, sei auf die nachlassende Integrationsfähigkeit von ,,Massenlegitimationsparteien" wie der CDU/CSU zurückzuführen und nicht weiter verwunderlich: ,,Das historische Tabu, das eine Partei rechts von der Union belastet, nämlich der ,Schatten Hitlers`, löst sich allmählich auf, nicht zuletzt dank der Bemühungen, die von seiten der unionsgeführten Bundesregierung im Verein mit ihr nahestehenden Historikern selbst angestellt wurden (,Historikerstreit` 1986). Eine ,Normalisierung` der westdeutschen politischen Verhältnisse auf ein ,europäisches Maß` wird möglich (Normali-
sierungseffekt)."11

Wolfgang Benz hat demgegenüber hervorgehoben, dass es hierzulande aufgrund der besonderen deutschen Geschichte ein ,,schlummerndes", über Randgruppen der Gesellschaft hinausreichendes Potenzial für den Rechtsextremismus gibt: ,,Ohne das Erbe der zwölf Jahre des Dritten Reiches wäre Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik wie auch in anderen Staaten in erster Linie eine statistische Größe des politischen Lebens und vermutlich eine eher harmlose Randerscheinung oder bei entsprechender Größenordnung, bei kriminellem, terroristischem Ausmaß also, ein Problem der inneren Sicherheit. Die historische Hypothek macht aber in Deutschland jede Art von rechtem Extremismus, auch in per se zunächst harmloser Erscheinungsform, zum politischen Problem von unvergleichbarer und einzigartiger Dimension."12 Daher kann in der Bundesrepublik, was in anderen westeuropäischen Demokratien wie ein rechtsextremer Bodensatz erscheinen mag, der kaum der Rede wert und völlig ungefährlich wäre, einfach nicht ,,normal" sein.

2. Rechtsextremismus im vereinten Deutschland: Wie aus den ,,alten Nazis" eine ,,neue APO" wurde

2.1 Jugendgewalt als Desintegrationsphänomen der modernen ,,Risikogesellschaft"?

Viele Sozialwissenschaftler, die sich mit dem Rechtsextremismus beschäftigen, verorten seine Hauptursachen im Prozess der Modernisierung. Vor allem Wilhelm Heitmeyer griff dabei frühzeitig auf die Konzeption des Soziologen Ulrich Beck zurück, der die Bundesrepublik seit Mitte der 80er-Jahre im Übergang von einer Industrie- zur ,,Risikogesellschaft" sah,13 gekennzeichnet durch Individualisierung, ,,Enttraditionalisierung" und eine ,,Pluralisierung der Lebensstile". Diese brächten ein Mehr an Entscheidungsmöglichkeiten mit sich, jedoch auch mehr Unsicherheit, Ungerechtigkeit und Unruhe, denn es handle sich um ,,riskante Freiheiten", deren Wahrnehmung überdies auf wenige Menschen beschränkt sei.

Wilhelm Heitmeyer macht mit der Modernisierung einhergehende Individualisierungsschübe für soziale, berufliche und politische Desintegrationsprozesse verantwortlich, die bei Jugendlichen Vereinzelungserfahrungen, Ohnmachtsgefühle und Handlungsunsicherheiten hervorrufen. Da sich soziokulturelle Milieus wie das konfessionelle oder das proletarische aufgelöst hätten, traditionelle Bindungen, familiäre und Nachbarschaftsbeziehungen zerfielen, fehle den Betroffenen, so lautet das zentrale Argument, ein fester Halt. Handlungsunsicherheit führe zu Gewissheitssuche, an die rechtsextreme Konzepte mit Vorurteilen und Stabilitätsversprechen anknüpften; Ohnmachtsgefühle würden in Gewaltakzeptanz umgeformt, die solche Konzepte über das Postulat ,,Der Stärkere soll sich durchsetzen!" legitimierten; Vereinzelungserfahrungen schließlich mündeten in die Suche nach leistungsunabhängigen Zugehörigkeitskriterien, die rechtsextreme Konzepte vornehmlich durch Betonung der Ethnizität und nationalen Überlegenheitsdünkel böten.

Heitmeyers Untersuchungsansatz liegt ein Rechtsextremismusbegriff zugrunde, der sich sehr leicht operationalisieren lässt, weil er nur aus zwei Elementen besteht: ,,Ideologien der Ungleichheit" bzw. der Ungleichwertigkeit (Sozialdarwinismus, völkischer Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit) paaren sich demnach mit Gewaltbereitschaft. ,,Von rechtsextremistischen Orientierungsmustern kann man (...) vorrangig dann sprechen, wenn beide Grundelemente zusammenfließen, wenn also die strukturell gewaltorientierte Ideologie der Ungleichheit verbunden wird zumindest mit der Akzeptanz von Gewalt als Handlungsform."14

Zwar charakterisieren die genannten Aspekte zweifellos Grundzüge des rechtsextremen Denkens, für eine wissenschaftlich präzise Definition der ganzen politischen Richtung, die sich in verschiedenen Gruppierungen, Organisationen und Parteien formiert, reichen sie gleichwohl nicht aus. Die beiden Definitionsmerkmale stehen unverbunden nebeneinander und sind unabhängig voneinander wirksam. Schon die Verknüpfung eines Ideologieelements mit einer politischen Handlungsform hält Wilfried Breyvogel für problematisch: ,,Denn weder der Ideologie- noch der Gewaltbegriff sind hinreichend präzisiert."15

Schwerer wiegen inhaltliche Bedenken: Weder geht rechtsextremes Denken zwangsläufig mit der Bereitschaft einher, selbst Hand anzulegen, noch vertreten ausschließlich Rechtsextremisten eine Ideologie der Ungleichheit/
Ungleichwertigkeit. Hier besteht vielmehr weitgehend Übereinstimmung mit dem (Liberal-)Konservatismus, der sich ebenfalls gegen die Nivellierung sozialer Unterschiede wendet. Die politische Sozialisation der Jugendlichen begreift Heitmeyer als widersprüchlichen Prozess. Ausgehend von soziokulturellen Veränderungen der Gesellschaft zeichnet er die Transformation von Alltagserfahrungen junger Männer (Frauen und Mädchen kommen entweder gar nicht oder nur am Rande vor) in politische Orientierungs- und Verhaltensmuster nach: ,,Der Weg von Jugendlichen in das fremdenfeindliche oder rechtsextremistische Terrain verläuft (...) nicht in erster Linie über die Attraktivität von Parolen, die eine Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit betonen, um diese mit Gewalt durchzusetzen, sondern über Gewaltakzeptanz, die im Alltag entsteht und dann politisch legitimiert wird." 16

Einige der Kritikpunkte, die vorgetragen wurden, seien im Folgenden ausführlicher dargestellt: Heitmeyers Versuch, die Attraktivität rechtsextremer Orientierungsmuster für Jugendliche aus ihrer Lebenssituation abzuleiten, haftet ein gewisses Maß an Willkür, Unverbindlichkeit und Beliebigkeit an. Denn die sozialen Individualisierungsprozesse, Desintegrationserscheinungen und Tendenzen zur Paralysierung gesellschaftlicher Institutionen, von denen Wilhelm Heitmeyer spricht, werden ganz unterschiedlich verarbeitet und führen - wenn überhaupt - nur selten zur Übernahme rechtsextremer Orientierungsmuster. ,,Polemisch formuliert, könnten Desintegration und ,Paralyse` genausogut zur Erklärung jugendlicher Suizide, des Fahrverhaltens auf deutschen Autobahnen oder des vermehrten Wunsches nach Fernreisen im Urlaub herangezogen werden."17

Birgit Rommelspacher erklärte die Individualisierungsthese für unhaltbar und warf Heitmeyer, aber auch anderen Forschern, die rechte Jugendliche als ,,Opfer der Risikogesellschaft" hinstellen, eine pseudowissenschaftliche ,,Täterentlastung" vor.18 Rudolf Leiprecht warnte vor einer ,,Mythologisierung früherer und traditioneller Lebensweisen", weil in der Rezeption von Heitmeyers Untersuchungen überkommene Werte und Sozialbeziehungen wie die Kleinfamilie, Heimatverbundenheit und enge Nachbarschaft als positiver Gegenentwurf zum Rechtsextremismus erschienen.19 Jürgen R. Winkler weist zudem darauf hin, ,,daß durch die Auflösung tradierter Bindungen im Modernisierungsprozeß der Rechtsextremismus nicht forciert wurde, sondern an Boden verloren hat".20

Roland Eckert unterstellte Heitmeyers Ansatz, implizit konservative Positionen wie etwa die Anomietheorie Emile Durkheims und die Kulturanthropologie Arnold Gehlens aufzugreifen, und konstatierte, dass es keiner Desintegration bedürfe, um menschliche Aggressionen freizusetzen: ,,Gerade traditionelle, hochintegrierte Gesellschaften (...) weisen häufig (insbesondere in ökonomischen Krisen) ein hohes Maß an fremdenfeindlicher Gewalt bis hin zu Pogromen auf."21 Auch neigen durchaus Jugendliche zu rechtsextremer Gewalt, die fest in Familien-, Nachbarschafts- und Freundschaftsbeziehungen eingebunden sind.

Ernsthaft in Frage gestellt wurde Heitmeyers Ansatz durch empirische Untersuchungen, die zu ganz anderen Ergebnissen kamen, als sie sein Konzept hätten vermuten lassen: Beispielsweise ergab die Auswertung mehrerer hundert Ermittlungs- und Gerichtsakten durch eine Forschungsgruppe an der Universität Trier, dass rechtsstehende Gewalttäter vorwiegend aus ganz ,,normalen", keineswegs überdurchschnittlich oft aus zerrütteten Familien stammen. Helmut Willems hält Desintegration zur Erklärung fremdenfeindlicher Gewaltakte daher für nur begrenzt tauglich: ,,So wie die Zuordnung zu aggressiven, zu fremdenfeindlichen und auch zu rechtsradikalen jugendlichen Subkulturen nicht generell als Desintegrationsphänomen beschrieben werden kann, so sind auch nur für einen kleinen Teil der fremdenfeindlichen Gewalttäter persönliche Desintegrationserfahrungen festzustellen: also etwa Schulabbruch, Arbeitslosigkeit, defizitäre Familienstrukturen, Beziehungslosigkeit. Es gibt auch keine Hinweise darauf, daß sie vornehmlich aus sich auflösenden Milieus stammen, die früher durch Gewerkschaften und Kirchen stabilisiert waren."22

1 Weitere Deutungsmuster werden dargestellt und kritisiert bei Christoph Butterwegge, Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt. Erklärungsmodelle in der Diskussion, Darmstadt 1996; ders., Entwicklung, gegenwärtiger Stand und Perspektiven der Rechtsextremismusforschung, in: Christoph Butterwegge u.a., Rechtsextremisten in Parlamenten. Forschungsstand - Fallstudien - Gegenstrategien, Opladen 1997, S. 10 ff.

2 Siehe Arno Klönne, Kein Spuk von gestern oder: Rechtsextremismus und ,,Konservative Revolution", Münster 1996, S. 7

3 Ebd.

4 Vgl. Hans-Helmuth Knütter, Ideologien des Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland. Eine Studie über die Nachwirkungen des Nationalsozialismus, Bonn 1961, S. 208

5 Vgl. dazu: Wolfgang Wippermann, Verfassungsschutz und Extremismusforschung: falsche Perspektiven, in: Jens Mecklenburg (Hrsg.), Braune Gefahr. DVU, NPD, REP - Geschichte und Zukunft, Berlin 1999, S. 268 ff.

6 Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/Frankfurt am Main 1993, S. 40

7 Eckhard Jesse, Der Totalitarismus-Ansatz nach dem Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 11/1991, S. 984

8 Vgl. Hans-Gerd Jaschke, Streitbare Demokratie und Innere Sicherheit. Grundlagen, Praxis und Kritik, Opladen 1991, S. 59 f.

9 Erwin K. Scheuch, Theorie des Rechtsradikalismus in westlichen Industriegesellschaften, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 12 (1967), S. 12 f.

10 Siehe Reinhard Kühnl, Der Weg der Faschismusforschung, in: Das Argument 209 (1995), S. 234

11 Claus Leggewie, Die Zwerge am rechten Rand. Zu den Chancen kleiner neuer Rechtsparteien in der Bundesrepublik Deutschland, in: Politische Vierteljahresschrift 4/1987, S. 363

12 Wolfgang Benz, Die Opfer und die Täter. Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, in: ders. (Hrsg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Voraussetzungen, Zusammenhänge, Wirkungen, Frankfurt am Main 1989, S. 23

13 Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986; ders./Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Zur Individualisierung der Lebensformen in der Moderne, Frankfurt am Main 1994

14 Wilhelm Heitmeyer, Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Empirische Ergebnisse und Erklärungsmuster einer Untersuchung zur politischen Sozialisation, Weinheim/München 1987, S. 16

15 Wilfried Breyvogel, Die neue Gewalt Jugendlicher gegen Fremde 1990-1993. Zur Kritik der Arbeiten des ,,Bielefelder Erklärungsansatzes", in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 29 (1994), S. 16

16 Wilhelm Heitmeyer, Das Desintegrations-Theorem. Ein Erklärungsansatz zu fremdenfeindlich motivierter, rechtsextremistischer Gewalt und zur Lähmung gesellschaftlicher Institutionen, in: ders. (Hrsg.), Das Gewalt-Dilemma. Gesellschaftliche Reaktionen auf fremdenfeindliche Gewalt und Rechtsextremismus, Frankfurt/Main 1994, S. 46

17 Wilfried Breyvogel, Die neue Gewalt Jugendlicher gegen Fremde 1990-1993, a.a.O., S. 24

18 Vgl. Birgit Rommelspacher, Rechtsextremismus und Dominanzkultur, in: Adreas Foitzik u.a. (Hrsg.), ,,Ein Herrenvolk von Untertanen". Rassismus - Nationalismus - Sexismus, Duisburg 1992, S. 85

19 Siehe Rudolf Leiprecht, Das Modell ,,unmittelbare und/oder direkte Konkurrenz": Erklärung von Rechtsextremismus oder Rechtfertigungsangebot?, in: Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz (Hrsg.), Rassismus - Fremdenfeindlichkeit - Rechtsextremismus: Beiträge zu einem gesellschaftlichen Diskurs, a.a.O., S. 69

20 Siehe Jürgen R. Winkler, Bausteine einer allgemeinen Theorie des Rechtsextremismus. Zur Stellung und Integration von Persönlichkeits- und Umweltfaktoren, in: Jürgen W. Falter u.a. (Hrsg.), Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Opladen 1996 (PVS-Sonderheft 27), S. 42

21 Roland Eckert, Gesellschaft und Gewalt - ein Aufriß, in: Soziale Welt 3/1993, S. 358

22 Helmut Willems, Fremdenfeindliche Gewalt. Einstellungen - Täter - Konflikteskalation, Opladen 1993, S. 250

2.2 ,,Protestwähler", ,,Jugendprotest" und ,,Protestbewegung" - Rechtsextremismus als Nebenfolge relativer Deprivation?

Als die NPD in den späten 60er-Jahren, die DVU und die REPublikaner gegen Ende der 80er-/Anfang der 90er-Jahre zum Teil spektakuläre Erfolge bei Kommunal-, Landtags- und Europawahlen feierten, suchte man die (west)deutsche Öffentlichkeit mit einer hypothetischen Figur zu beruhigen, die dafür in den Gazetten verantwortlich gemacht wurde: Als mediales Deutungsmuster, das die Parteien- und Wahlforschung empirisch untermauerte, eignete sich der ,,Protestwähler", ein Mensch, welcher seine Stimme den Rechtsextremisten nicht aus Sympathie für sie und/oder ihr Gedankengut, sondern aus bloßer Unzufriedenheit mit den ,,etablierten" Parteien gibt,1 hervorragend zur Verharmlosung einer Gefahr, die man gar nicht ernst genug nehmen kann.

Aus der ,,Protestwahl" deprivierter Unterschichten als Erklärungsmodell für die Wahlerfolge rechter Parteien ging nach pogromartigen Übergriffen gegen Ausländer in Hoyerswerda (September 1991) und Rostock-Lichtenhagen (August 1992) das Deutungsmuster des Jugendprotests und einer rechten Protestbewegung hervor. Anwendung rassistischer Gewalt durch Jugendliche wurde seither nicht nur als ,,Hilferuf" einer überforderten, verunsicherten Generation, sondern auch als ,,Protestschrei" einer sozialen Bewegung gedeutet, die als Reaktion auf politische Fehlentwicklungen zu begreifen sei. Besonders von liberalkonservativen Politikern und Publizisten wurde die extreme Rechte als ,,APO der 90er Jahre", fremdenfeindliche Gewalt als handfest ausgetragener Generationskonflikt apostrophiert. Bodo Morshäuser sprach von einer ,,antiautoritären Rebellion", die durch ,,subversive Frechheit der Nichtprivilegierten" geprägt sei.2 Als ob es politische Kräfte gäbe, die autoritärer und weniger aufmüpfig gegenüber der Obrigkeit wären als die von ihm charakterisierten!

In den Massenmedien erfolgte die Fehldeutung des Rechtsextremismus als ,,Jugendprotest" im Rahmen einer Berichterstattung über rassistische Gewalttaten, die den Eindruck erweckte, als handle es sich um das Aufbegehren einer ganzen Generation.3 Die in der Tagespublizistik vorherrschende Tendenz zur Vereinfachung eines letztlich unbegriffenen Problems findet sich jedoch auch in seriösen Fachorganen. So diagnostizierte Karl Heinz Roth eine Revolte der ,,Anschluss"-Verlierer in Ost- und Westdeutschland: ,,Diesseits und jenseits der Elbe hat sich eine Jugendbewegung an die Spitze des Aufbegehrens der moralisch, ökonomisch und sozialpolitisch Entwerteten gesetzt. Adressat ihrer Wut aber wurden nicht diejenigen, die mit ihren Entscheidungen und Handlungsrastern die soziale Katastrophe ausgelöst haben und inzwischen verwalten. Die Gewalt der Jugendlichen richtete sich gegen Zuzug von außen, gegen die Asylsuchenden der jüngsten Migrationswelle, die von den Behörden in die Zentralen Anlaufstellen und Sammellager der Trabantenstädte und Depressionszonen gepfercht wurden."4

Hans-Gerd Jaschke glaubte, dass sich der Rechtsextremismus seit 1989/90 als soziale Bewegung konstituiere.5 Daraus ergibt sich die Frage, was man denn mit ,,(Jugend-)Protest" meint. Der Verdacht drängt sich auf, dass mit diesem Begriff zu sorglos umgegangen und darunter bloß eine Missfallensbekundung - gleich welcher Art - verstanden wird.

Werner Bergmann sieht eine ,,Protestmobilisierung von rechts", die seiner Meinung nach in eine soziokulturelle Bewegung mündet, die sich aus der persönlichen ,,Erfahrung von Fremdheit im Zuge massenhafter Migrationsprozesse" speist.6 Der Bewegungsbegriff, den die Neonazis gern für sich reklamieren (z.B. nannte Michael Kühnen seine Gruppen so), wird mittlerweile selbst in Teilen der Fachliteratur derart unscharf gefasst und inflationär benutzt, dass der Politikwissenschaftler Uwe Backes sogar die Deutsche Volksunion (DVU) und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) als ,,Bewegungen" - im Original ohne Anführungszeichen - bezeichnet.7 Wer sich einer solchen Verwässerung des Protest- und Bewegungsbegriffs widersetzt, sucht beide keineswegs ,,gleichsam als Adelsprädikat für politisch genehme Gruppierungen zu reservieren", wie Ruud Koopmans und Dieter Rucht meinen.8 Auch geht es mir nicht darum, die Existenz einer rechtsextremen Bewegung durch eine restriktive Terminologie wegzudefinieren,9 denn das Problem besteht ja unabhängig davon, wie man es nennt. Doch plädiert Norbert F. Schneider zu Recht für eine wissenschaftlich fundierte Begriffswahl: ,,Gerade heute, wo sich der Bewegungsbegriff zu einem politischen Modebegriff entwickelt hat, den sich kleinste Protestgruppen ebenso gerne selbst verleihen wie längst erstarrte Organisationen, die institutionalisierte Konflikte verwalten, kann mit einem vage gehaltenen Bewegungsbegriff nicht zuverlässig analytisch gearbeitet werden."10

Für Jörg Bergmann und Claus Leggewie handelt es sich bei den Skinheads um einen neuen, einen Spezialfall sozialer Bewegung, nämlich um eine Anti-Bewegungs-Bewegung: ,,Sie mobilisiert rechte ,Postmaterialisten`, die von sich meinen, im allgemeinen Gefühl geglückten kulturellen Umbruchs zu kurz gekommen zu sein."11 Uwe Markus moniert, dass Gruppen gewaltbereiter Jugendlicher durch solche Deutungsmuster der Rechtsextremismusforschung die Rolle eines Korrektivs zugesprochen bekommen, das den nötigen ,,Druck der Straße" erzeugt, um die Versäumnisse der etablierten Politik offenzulegen und sinnvolle Veränderungen herbeizuführen: ,,Es hätte allerdings fatale Folgen für einen differenzierenden Umgang mit dem Phänomen, das Selbst- und Fremdbild solcher Gruppen unkritisch zu übernehmen und sie als militanten Kern eines im Grunde sozialemanzipatorischen Protestpotentials zu mißdeuten."12

Inhaltlich analysiert, handelt es sich um eine unsoziale Bewegung, die sich keineswegs für sozial Benachteiligte einsetzt, Asylsuchende, Haftentlassene, Menschen mit Behinderungen, Obdachlose, Homosexuelle und andere ,,Randgruppen" vielmehr ausgrenzt, ihnen sozialstaatliche Leistungen vorenthalten und/oder sie durch Zwangsmaßnahmen disziplinieren will. Es geht also nicht um eine Negation, sondern gerade um die - bis zur letzten Konsequenz getriebene - Realisation gültiger Normen (Beurteilung einer Person nach ihrer Leistungsfähigkeit bzw. ihrer Angepasstheit) und gesellschaftlicher Funktionsmechanismen wie der Konkurrenz.13 Da die Neoliberalen das Elite- und Leistungsdenken in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft rehabilitieren wollen, deckt sich die Rechtsentwicklung partiell durchaus mit ihren Zielsetzungen, auch wenn hier nicht - etwa in Form einer Verschwörungstheorie - unterstellt werden soll, dass diese Interessenkonvergenz von den handelnden Personen intendiert sei.

In jüngster Zeit nahm Armin Pfahl-Traughber die Debatte über den Rechtsextremismus als ,,soziale Bewegung" wieder auf. Seiner Ansicht nach gibt dieser Terminus wichtige Hinweise auf Gründe für die Ende des 20./Anfang des 21. Jahrhunderts steigende Attraktivität des Rechtsextremismus gerade für Jugendliche. Besonders die NPD und die ,,Jungen Nationaldemokraten" (JN) verkörpern für Pfahl-Traughber als Scharnier zwischen Neonazismus und ,,moderatem" Rechtsextremismus mit Massenaufmärschen, die den ,,Kampf um die Straße" vorantreiben sollen, das Bewegungsmoment. Pfahl-Traughber sieht in dem organisatorischen Umstrukturierungsprozess des Rechtsextremismus (von z.T. 1992 ff. verbotenen Kaderorganisationen zu ,,autonomen Kameradschaften") ein Indiz für den Bewegungscharakter dieser Szene. ,,Im Ergebnis kam es dadurch einerseits zu einer engeren Zusammenarbeit früher weniger miteinander kooperierender Rechtsextremisten und zu Aktionen mit relativ spontanen Änderungen und Reaktionen auf das Handeln der Polizeikräfte. Andererseits entwickelten sich nach dem Wegfall fest strukturierter Organisationen aber bislang noch nicht die für die politische Arbeit nötige Kontinuität und Stringenz des Agierens, wobei hier zunehmend die NPD eine initiierend und koordinierend wirkende Rolle zu spielen scheint."14

Rechtsextreme Ideologien/Organisationen haben nur Erfolg, wenn sie die besonders in Krisen- und Umbruchsituationen spürbare Unzufriedenheit der Unter- bzw. der vom sozialen Abstieg bedrohten Mittelschichten aufgreifen, sind daher ohne rebellische Basisimpulse überhaupt nicht denkbar. Ein Pogrom ist jedoch keine Protestaktion und eine jugendliche Provokation keine Rebellion, auch keine ,,konformistische", wie man vielleicht auf den ersten Blick meinen könnte.15

Skinheads, ,,Faschos" und Hooligans haben mit den Hippies und SDS-Anhängern der 60er-Jahre wenig mehr als das jugendliche Alter gemein. Ähnliche Erscheinungs- bzw. Aktionsformen dürfen nicht über die gegensätzlichen Zielsetzungen und Grundwerte solcher Bewegungen hinwegtäuschen. Im Unterschied zu Teilen der APO-Generation sucht der Rechtsextremismus heute nämlich nur mit brutalster Gewalt zu realisieren, was die ,,schweigende Mehrheit" im Land angeblich denkt. ,,In gewissem Sinne handeln ,Rassisten` eher in Einklang mit den herrschenden Verhältnissen denn in Opposition zu diesen; sie unterscheiden sich von der herrschenden Politik vor allem dadurch, daß sie rücksichtsloser durchsetzen, was jene nahelegt: die Reduzierung der Zahl der Fremden in unserem Lande zur Sicherung des eigenen Wohls."16

2.3 Linke Lehrer und rechte Schüler: Gewalt als Produkt fehlender oder falscher Erziehung?

Der Fehldeutung des Rechtsextremismus als ,,Jugendprotest" trat bald ein nicht weniger einflussreiches Interpretationsmodell zur Seite, wonach dieser als Reaktion auf die linke Protestgeneration der 60er-, 70er- oder 80er-Jahre zu begreifen ist: ,,Skinheads sind die Leiche im Keller der Jugendbewegungen der achtziger Jahre."17 Konservative Kreise behaupten, dass die radikale Linke das Wertfundament der parlamentarischen Demokratie systematisch untergraben und mittels ihrer Laisser-faire-Haltung junge ,,Mini-Rambos" bzw. ,,Monster-Kids" herangezüchtet habe. Die ,,Konfliktpädagogik" der ,,`68er"-Lehrergeneration sei, so heißt es, zum Einfallstor für die Aggression von Schülern geworden. Sogar mit dem ,,Duz-Syndrom" linker Lehrer/innen und Professor(inn)en gegenüber Schüler(inne)n und Studierenden wird der Aufschwung des Rechtsextremismus in Verbindung gebracht.18 Am 10. Dezember 1992 stellte der damalige Kanzler Helmut Kohl im Bundestag die rhetorische Frage, ,,ob nicht viele der sogenannten Reformversuche im Bildungswesen an Stelle des erhofften Ziels vielfach das Gegenteil erreicht haben. Statt des ,herrschaftsfreien Diskurses` erleben wir jetzt immer mehr gewalttätige Auseinandersetzungen."19

Denselben Gedanken spitzte Beate Scheffler, damals nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete der GRÜNEN und Lehrerin von Beruf, in einer Broschüre ihrer Fraktion selbstkritisch zu: ,,Wir haben unsere Erziehungsziele nicht erreicht. Statt der mündigen, sozial und ökologisch engagierten Jugend hat unsere Erziehung eine Spezies hervorgebracht, die zum überwiegenden Teil egozentrisch, konsumorientiert und im schlimmsten Falle sogar gewalttätig und fremdenfeindlich ist."20 Claus Leggewie führte die Eskalation der Gewalt auf Defizite der familialen Sozialisation zurück und sprach von einer ,,verlorenen Generation", die sich selbst und dem Fernsehkonsum überlassen bleibe: ,,Die in verdächtiger Eile als ,Nazi-Kids` gebrandmarkten Gewalttäter sind Erziehungswaisen, Angehörige einer neuen vaterlosen und fatal auf die (hilflosen) Mütter fixierten Generation. Aber nicht die Schläge der Väter und die Strenge der Mütter, sondern Abwesenheit und Gleichgültigkeit der Älteren bleuten ihnen das ,autoritäre` Denken und Handeln ein."21 Hier knüpften diejenigen an, die Säuglings- und Kinderkrippen der DDR für Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft von Jugendlichen in den östlichen Bundesländern verantwortlich machen.22

Rassistische Jugendgewalt wird als Resultat fehlender oder falscher Erziehung begriffen, gerade so, als stünde den militanten Skinheads eine gewaltfreie, friedliche Welt wohlerzogener Erwachsener gegenüber.23 Empirisch war die provokative These von den ,,antiautoritär-unerzogenen" Kindern der `68er-Generation freilich nicht lange zu halten.24 Gegen zu große Permissivität und Liberalität in der Erziehung als Ursachen für jugendlichen Rechtsextremismus sprechen Untersuchungen, wonach ,,die Übereinstimmung zwischen der eigenen Ausländerfeindlichkeit (gemessen an verschiedenen Items) und der Grundeinstellung der Familie gegenüber Asylbewerbern viel weiter verbreitet ist als derjenige Fall, wo vom Jugendlichen prinzipielle Unterschiede zwischen der Position der Eltern und der eigenen Einstellung gesehen werden."25

,,Im Einzelfall kann für die ,Rechtswende` eines Jugendlichen die Rebellion gegen ,linke` Eltern oder Pädagogen durchaus eine Bedeutung haben, aber der Trend hin zum Rechtsextremismus insgesamt ist damit nicht erklärbar."26 Wenn die ,,Alt-`68er" überhaupt eine Mitverantwortung für Rechtsentwicklung und Gewalt in der Bundesrepublik tragen, dann deshalb, weil sie als Personen beim ,,Marsch durch die Institutionen" erheblich mehr verändert wurden als diese, also wegen mangelnder Konsequenz, tiefgreifende Gesellschaftsveränderungen auch gegen mächtige Interessengruppen durchzusetzen, nicht aber wegen ihrer teilweise illusionären Forderungen und idealistischen Reformvorstellungen selbst.

Die Renaissance des Elitedenkens, der Leistungsideologie und des Nationalen war nicht das Werk linksoppositioneller bzw. opportunistischer Linksintellektueller, sondern Bestandteil des ,,Wende"-Programms der liberal-konservativen Bundesregierung, die durch Privatisierung, Deregulierung und Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse auch den materiellen Nährboden für die momentane Rechtsentwicklung bereitete. Manneszucht und (soldatische) Disziplin, Ehrbewusstsein, Treue, Pflichterfüllung, Ordnungsliebe, Gehorsam und Opferbereitschaft sind ,,typisch deutsche" bzw. sog. Sekundärtugenden, die ideale Anknüpfungspunkte für Rechtsextremisten/Neofaschisten bieten. Gleiches gilt für eine Glorifizierung der Marktwirtschaft, die sozialdarwinistische Philosophie des Neoliberalismus und den hieraus erwachsenden Standortnationalismus.27 Dagegen bilden Empathie, Kritikfähigkeit, demokratisches Bürgerengagement und Basisinitiativen eine Grundvoraussetzung für die schrittweise Zurückdrängung der extremen Rechten.

1 Vgl. z.B. Franz Urban Pappi, Die Republikaner im Parteiensystem der Bundesrepublik. Protesterscheinung oder politische Alternative?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 21/1990, S. 37 ff.; Klaus Erdmenger, Rep-Wählen als rationaler Protest?, Wer wählt die ,,Republikaner" und warum?, in: Hans-Georg Wehling (Red.), Wahlverhalten, Stuttgart/Berlin/Köln 1991, S. 242 ff.; Dieter Roth/Hartmut Schäfer, Der Erfolg der Rechten. Denkzettel für die etablierten Parteien oder braune Wiedergeburt?, in: Wilhelm Bürklin/Dieter Roth (Hrsg.), Das Superwahljahr. Deutschland vor unkalkulierbaren Regierungsmehrheiten?, Köln 1994, S. 111 ff.

2 Siehe Bodo Morshäuser, Rechtsradikale Jugendliche: ,,Eine antiautoritäre Rebellion", in: Psychologie heute 12/1993, S. 41

3 Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Ethnisierungsprozesse, Mediendiskurse und politische Rechtstendenzen, in: ders. (Hrsg.), NS-Vergangenheit, Antisemitismus und Nationalismus in Deutschland, a.a.O., S. 198 ff.

4 Karl Heinz Roth, Rassismus von oben - Rassismus von unten, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 2/1993, S. 7

5 Vgl. Hans-Gerd Jaschke, Rechtsradikalismus als soziale Bewegung. Was heißt das?, in: Vorgänge 122 (1993), S. 105

6 Siehe Werner Bergmann, Ein Versuch, die extreme Rechte als soziale Bewegung zu beschreiben, in: ders./Rainer Erb (Hrsg.), Neonazismus und rechte Subkultur, Berlin 1994, S. 186/184

7 Vgl. Uwe Backes, Organisierter Rechtsextremismus im westlichen Europa. Eine vergleichende Betrachtung, in: Werner Billing u.a. (Hrsg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1993, S. 61

8 Siehe Ruud Koopmans/Dieter Rucht, Rechtsradikalismus als soziale Bewegung?, in: Jürgen W. Falter u.a. (Hrsg.), Rechtsextremismus, a.a.O., S. 268

9 So Ruud Koopmans, Soziale Bewegung von rechts?, Zur Bewegungsförmigkeit rechtsradikaler und ausländerfeindlicher Mobilisierung in Deutschland, in: Jens Mecklenburg (Hrsg.), Handbuch deutscher Rechtsextremismus, Berlin 1996, S. 780 (Fn. 5)

10 Norbert F. Schneider, Was kann unter einer ,,sozialen Bewegung" verstanden werden?, Entwurf eines analytischen Konzepts, in: Ulrike C. Wasmuht (Hrsg.), Alternativen zur alten Politik?, Neue soziale Bewegungen in der Diskussion, Darmstadt 1989, S. 198

11 Jörg Bergmann/Claus Leggewie, Die Täter sind unter uns. Beobachtungen aus der Mitte Deutschlands, in: Kursbuch 113 (1993), S. 34

12 Uwe Markus, ,,Immer cool bleiben ..." - Jugendgewalt in Ostdeutschland, in: Werner Bergmann/Rainer Erb (Hrsg.), Neonazismus und rechte Subkultur, a.a.O., S. 158 f.

13 Vgl. Dieter Bott, Jugend und Gewalt, in: Deutsche Jugend 2/1993, S. 87

14 Armin Pfahl-Traughber, Noch einmal: Rechtsextremismus als (neue) soziale Bewegung?, Versuch einer Einschätzung vor dem Hintergrund der Situation Ende der 90er Jahre, in: Frieder Dünkel/Bernd Geng (Hrsg.), Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Bestandsaufnahme und Interventionsstrategien, Mönchengladbach 1999, S. 103

15 Vgl. Martin Doehlemann, Langeweile, Moralentwicklung und Gewaltbereitschaft von Jugendlichen in der Konsum- und Konkurrenzgesellschaft, in: Gregor Sauerwald (Hrsg.), Angst, Haß, Gewalt - Fremde in der Zweidrittelgesellschaft. Eine Herausforderung für das Sozialwesen, Münster/Hamburg 1994, S. 43 f.

16 Ute Osterkamp, Antirassismus: weitere Fallstricke und Problematisierungen, in: Das Argument 195 (1992), S. 737

17 Bodo Morshäuser, Hauptsache Deutsch, Frankfurt am Main 1992, S. 112

18 Vgl. Gerhard Amendt, Du oder Sie. 1945 - 1968 - 1995, Bremen 1995, S. 70

19 Helmut Kohl, Erklärung der Bundesregierung zu Extremismus und zunehmender Gewaltbereitschaft in Deutschland, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Bulletin 136/1992, S. 1242 f.

20 Beate Scheffler, ,,Trau keiner/m unter 30". Brauchen wir eine neue Revolte?, in: Die GRÜNEN im Landtag Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Halbzeit. Zweieinhalb Jahre GRÜNE im Landtag NRW, Düsseldorf 1992, S. 48

21 Claus Leggewie, Plädoyer eines Antiautoritären für Autorität, in: Die Zeit v. 5.3.1993

22 Vgl. z.B. Anleitung zum Haß. Der Kriminologe Christian Pfeiffer über das Erziehungssystem der DDR und die Folgen, in: Der Spiegel v. 22.3.1999, S. 60 ff.; zur Kritik: Michael Geyer, Der häßliche Deutsche - ein DDR-Krippenkind?, Pädagogischer Drill bedingt Ausländerhaß - Anmerkungen zu einer These, die heftigen Streit verursacht, in: Die Zeit v. 8.4.1999

23 Vgl. Karl-Otto Richter/Bernhard Schmidtbauer, Zur Akzeptanz von Asylbewerbern in Rostock-Stadt. Empirische Ergebnisse aus dem Frühjahr 1992, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2-3/1993, S. 44

24 Vgl. Roland Eckert u.a., Erklärungsmuster fremdenfeindlicher Gewalt im empirischen Test, in: Jürgen W. Falter u.a. (Hrsg.), Rechtsextremismus, a.a.O., S. 154

25 Siehe Matthias Wellmer, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt ist nicht Protest, sondern Tradition!, in: Neue Praxis 3/1994, S. 283

26 Arno Klönne, Kein Spuk von gestern oder: Rechtsextremismus und ,,Konservative Revolution", a.a.O., S. 12

27 Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Standortnationalismus - eine Herausforderung für die politische Jugendbildung, in: Deutsche Jugend 11/1998, S. 469 ff.