Anmerkungen zur Programm-Debatte der PDS

Das Erscheinungsbild der PDS zwischen Münster und Cottbus1 läßt vermuten, daß der Zeitpunkt für eine Programmdebatte äußerst ungünstig ist.

1.

Die ,,Führungskrise" der Partei (d.h. der Rückzug des Vorsitzenden wie des Fraktionsvorsitzenden) wirft unvermeidlich ihre Schatten auf die Programmdebatte. Solange die neue Führung der Partei, ihre Zusammensetzung, das Gewicht der verschiedenen Strömungen nicht klar sind, solange wird der Streit um Programmpositionen notwendig ein Streit um Machtpositionen in der Partei. Auch Kompromisse zwischen den Strömungen, um das jämmerliche Bild von Münster nicht zu wiederholen, sind nicht gerade einer lebendigen Programmdebatte dienlich. Wenn dieser Richtungsstreit zudem durch die Frage der Koalitionsfähigkeit der PDS mit der SPD überlagert wird, dann sind berechtigte Zweifel an der Funktion einer Programmdebatte - nach innen und außen - angebracht.

2.

Die folgenden Anmerkungen zum Programmdokument der Grundsatzkommission beziehen sich allerdings nicht auf die gegenwärtig gewiß schwierige innerparteiliche Situation. Sie fragen vielmehr grundsätzlich nach dem Sinn und dem Stellenwert eines sozialistischen Grundsatzprogramms (bzw. eines ähnlichen Dokumentes) in der gegenwärtigen welthistorischen Konstellation.

Wir leben - darin stimmen fast alle Analysen überein - in einer Zeit gewaltiger Umbrüche und Übergänge, der Neuformierung von Kräfteverhältnissen, von tiefgreifenden Zäsuren. Eric Hobsbawms großartige ,,Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts" endet bekanntlich - schon Anfang der 90er Jahre - mit einer düsteren, eher pessimistischen Zukunftsvision. Es gibt einerseits wenig Anlaß, ,,hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken"; andererseits steht die Menschheit vor der Aufgabe, den destruktiven Kräften einer entfesselten kapitalistischen Ökonomie, die zur Explosion oder zur Implosion führen können, Grenzen zu setzen. Ansonsten heißt der Preis für das Scheitern einer ,,Bändigung" des Kapitalismus: ,,Finsternis". In diesem Satz des kommunistischen Autors klingt - freilich mit dem rückwärtsgewandten Blick auf die Trümmer der realsozialistischen Experimente des 20. Jahrhunderts - die Losung ,,Sozialismus oder Untergang in der Barbarei" nach, mit der Rosa Luxemburg Ende 1918 im Programm des Spartakusbundes an das ,,Kommunistische Manifest" von Marx und Engels aus dem Jahre 1847/48 anknüpft. Eric Hobsbawm, der sonst als Wirtschafts- und Sozialhistoriker Wert auf präzise - empirisch untermauerte - Argumente legt, bleibt allerdings hinsichtlich der Programmatik des Sozialismus für das 21. Jahrhundert sehr unbestimmt.2

Auch der britische Historiker Donald Sassoon hält sich in seiner Jahrhundertbilanz der westeuropäischen Linken, d.h. überwiegend der Sozialdemokratie, bis zum ,,Neuen Revisionismus" von Tony Blair, beim Bilanzieren und Prognostizieren deutlich zurück. Er ist zum einen - wie Hobsbawm - Historiker, gehört also zu denen, die sich als die rückwärtsgewandten Propheten verstehen und mit ihrer ,,Kristallkugel"3, d.h. mit der Wahrsagerei, äußerst sparsam umgehen. Andererseits spürt er, daß die tiefgreifenden Umbrüche am Ende des 20. Jahrhunderts viele alte Gewißheiten, die ihrerseits Grundlage für Programme und Prognosen sein könnten, durcheinander gewirbelt und entwertet haben. Er schreibt: ,,Die Geschichte, die ich skizziert habe, deutet darauf hin, daß das Schicksal und die wahrscheinliche Zukunft des westeuropäischen Sozialismus nicht von der des europäischen Kapitalismus getrennt werden kann. Die Krise der sozialistischen und sozialdemokratischen Traditionen in Europa ist nicht die Krise einer Ideologie, die durch die überlegene politische und organisatorische Stärke ihrer Gegner besiegt worden wäre - wie es beim Kommunismus der Fall war. Sie ist Moment jener Umwälzungen am Ende des Jahrhunderts, die mit gewaltiger Geschwindigkeit unseren Planeten neu gestalten. Es könnte sein, daß das sozialistische Projekt verschwindet, während die sozialistischen Parteien überleben."4

Diese Parteien sind - so Sassoon im letzten Satz - das einzige von der Linken, was übrig geblieben ist. Im vergangenen Jahrhundert mußten sie sich ohnehin immer wieder an die Entwicklungen und Formationsbrüche des Kapitalismus anpassen. Die Dominanz der kapitalistischen Ökonomie und ihrer Entwicklungsgesetze bilden für Sassoon gleichsam die objektive Variable des Geschichtsprozesses. Die dadurch notwendig werdenden Anpassungsprozesse der sozialistischen Bewegungen setzen freilich immer wieder - vermittelt über Konflikte, Kämpfe, soziale Bewegungen - kritische Potentiale frei.

Der Hinweis auf das Überleben der Parteien ist durchaus vieldeutig zu verstehen; denn die meisten dieser Parteien vollziehen schließlich selbst den Abschied vom sozialistischen Projekt. Hier steht der subjektive Faktor im Vordergrund: die Eigenlogik der Reproduktion des Parteiapparates und seiner internen Machtstrukturen, das Bestreben, bei Wahlen Erfolg zu haben (und sich der damit verbundenen Logik der Vermarktung des Politischen zu beugen), in den Medien präsent zu sein und an Regierungskoalitionen beteiligt zu werden etc. pp.). Er kann aber auch so verstanden werden, daß die überlebenden Organisationen - vor allem die Parteien, z.T. aber auch die Gewerkschaften - die politische Form, der politische Raum bleiben, in dem die Reformulierung und Erneuerung des sozialistischen Projektes in den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen möglich bleibt. Hier wird die Partei als die politische Form begriffen, in der sich notwendig auch die gesellschaftlichen und politischen Widersprüche der jeweiligen Herrschaftsprojekte artikulieren, bearbeitet werden und auf die gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse zurückwirken.

Die Schlußfolgerungen von Hobsbawm und Sassoon sind für kontroverse Deutungen und Debatten offen. Ihre Studien zur Geschichte des Sozialismus im 20. Jahrhundert untermauern freilich eindrucksvoll die Ausgangsthese vom Übergangscharakter, von der Offenheit und Kontingenz der gegenwärtigen welthistorischen Konstellation.

3.

Es gibt derzeit - soweit ich dies überschaue - in keiner der links von der Sozialdemokratie stehenden Parteien oder Formationen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union5 eine größere Anstrengung in die Richtung eines neuen Grundsatzprogramms. In allen diesen Formationen gibt es verschiedene Strömungen und Tendenzen, heftige Auseinandersetzungen, Abspaltungen, Rücktritte an der Spitze etc. - es gibt aber auch überall Ansätze einer grundsätzlichen Debatte, die nach der Identität und Spezifik sozialistischen Denkens und Handels im 21. Jahrhundert fragt, ohne schon an eine Fixierung der Antworten in einem Programmdokument zu denken.

Alle diese Formationen sind - so habe ich es in einem Beitrag zur Geschichte der Linken in der Bundesrepublik kürzlich bezeichnet - ,,offene Laboratorien" für die Artikulation eines ,,linken Radikalismus"6. Dieser hat auf der einen Seite nur wenig Probleme, Positionen der Kritik und des Widerstandes gegenüber der herrschenden Ordnung des ,,Transnationalen High-Tech-Kapitalismus" (W. F. Haug) sowie an der daran angepaßten Ideologie und Politik - bis hin zur Rolle und Politik der neuen Sozialdemokratie - zu artikulieren. Auf der anderen Seite ist er jedoch weit davon entfernt, eine gleichsam kohärente programmatische - gar geschichtsphilosophisch ,,unterfütterte" - Konzeption über die Ziele des Sozialismus, über das Programm der Menschheitsbefreiung und über die sozialen und politischen Subjekte, die solches realisieren wollen (gemäß ihren Bedürfnissen und Interessen) und können (gemäß ihrer gesellschaftlichen und politischen Kraft) zu vertreten.

In der Regel ist noch eine Verständigung darüber möglich, daß den sozialistischen Kräften - über die unmittelbare Perspektive der Tagespolitik und der beständig erneuerten Kritik der herrschenden Verhältnisse hinaus - eine wichtige Aufgabe bei der Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für einen perspektivischen gegenhegemonialen Block fortschrittlicher Kräfte der Arbeit, der Kommunikation, der Wissenschaft und der Kultur zukommt. Dabei werden Fragen thematisiert, die auch in den Programmthesen eine wichtige Rolle spielen: ein alternatives Programm der Wirtschafts-, Sozial-, Gesellschafts- und Umweltpolitik, das auf die Schaffung von Arbeitsplätzen zielt (vor allem im ,,dritten Sektor": öffentlich geförderte Beschäftigungsprogramme mit einem Schwerpunkt in den Bereichen der Sozial-, der Bildungs-, Wissenschafts-, Gesundheits-, Kultur- und Umweltpolitik); die Reorganisierung der sozialpolitischen Institutionen durch die Beseitigung von Armut und Arbeitslosigkeit, aber auch durch eine Steuerpolitik der Umverteilung von oben nach unten, eine Neuverteilung und Bestimmung von Arbeitszeit sowie durch eine qualitative Erweiterung basisdemokratischer Institutionen und zivilgesellschaftlicher Autonomie.

Solche Programmpositionen - die gelegentlich als linkssozialdemokratisch bzw. als linkskeynesianisch bezeichnet werden - finden sich in den politischen und programmatischen Positionen der meisten Linksparteien in Europa und auch beim linken Flügel der europäischen Gewerkschaftsbewegung. Es geht dabei zunächst darum, die Hegemonie des Neoliberalismus zu brechen7. In diesem Sinne wird von der Notwendigkeit einer ,,Re-Regulation" (nach der Epoche der Deregulierungen), von der Wiedergewinnung politischer und demokratischer Gestaltungsfähigkeit gegenüber den angeblichen ,,Sachzwängen" einer globalisierten Wirtschaft, als ,,Rebellion der Gesellschaft" gegen die Verselbständigung des Marktes, genauer: der Logik des share-holder-Kapitalismus gesprochen. Elmar Altvater schreibt gerade in einem Beitrag für die Enquete-Kommission ,,Globalisierung", der schon die Botschaften von Seattle8 und Prag reflektiert: ,,Der zivilgesellschaftliche Widerstand gegen furiose, kurzfristige Kapitalbewegungen wächst" - übrigens ebenso wie der Widerstand gegen die zunehmende soziale Polarisierung sowie die kulturelle Barbarisierung im globalen Kapitalismus.

Wenn es freilich für solche Parteien, die in den nationalen Parlamenten vertreten sind, um strategische und taktische Entscheidungen im politischen System geht, dann sind bislang stets harte Kontroversen mit der Folge von Spaltungen, Aus- und Rücktritten an der Tagesordnung. Dabei geht es z.B. um das Verhältnis zur Sozialdemokratie bzw. zu Mitte-Links-Regierungen, deren sozialpolitisches Programm die Linke entschieden ablehnt, die aber ohne die Stimmen der radikalen Linken keine Mehrheit gegen den Block der nationalen Rechten und Neoliberalen hat. Diese Problematik stellt sich immer wieder in der italienischen Innenpolitik der jüngsten Zeit, und sie hat immer wieder zu Zerreißproben innerhalb der Rifondazione Communistà geführt. In Spanien hat die Bedeutung der Beziehungen zwischen der Izquierda Unida und der PSOE (von Felipe Gonzales und Xavier Solana) einen ähnlichen Stellenwert.

Es scheint, daß in Nordeuropa das Verhältnis von Linksparteien zu sozialdemokratisch geführten Regierungen einfacher ist als im Süden Europas, wo es einst starke kommunistische Parteien gab - und wo die radikale Linke ebenso wie die neue Sozialdemokratie ein Verfallsprodukt der alten KP sind. Ein Grund dafür könnte sein, daß erstens die sozialdemokratischen (z.T. auch die liberalen) Parteien in Nordeuropa nach wie vor (auf der Basis eines relativ breiten gesellschaftlichen Konsensus) an Grundbestandteilen des ,,sozialdemokratisch (universalistischen) Wohlfahrtsstaates" (Esping-Anderson) festhalten. Zweitens verfügt die Linke in diesen Ländern (mit kommunistischer, eurokommunistischer, grüner etc. Tradition) schon über eine längere, eigenständige Geschichte, die z.T. bis in die 50er Jahre zurückreicht, als die Sozialistische Volkspartei des Axel Larsen - als Abspaltung von der KP Dänemarks und als Reaktion auf die Ereignisse in Ungarn im Herbst 1956 - gegründet wurde.

Der Hinweis auf das ,,offene Laboratorium" signalisiert jedoch nicht nur die Chance einer offenen Debatte, sondern auch strukturelle Schwächen, die nicht allein historisch bedingt sind. Jede Partei muß auch Entscheidungen treffen, die von Minderheiten als schmerzlich empfunden werden. Dabei verwandelt sich das offene Laboratorium schnell - aus der Perspektive der Kritiker von Mehrheitsbeschlüssen - in ein ,,stählernes Gehäuse" von fraktioneller bzw. partikularer Macht. Dazu kommt, daß mit der Offenheit einer Programmdebatte stets auch eine Verhaltensunsicherheit verbunden ist, die dem Erfolg der Präsentation von Politik in der heutigen Mediendemokratie und ihrer Fixierung auf mediengerechte ,,Führer" nicht unbedingt zuträglich ist.

4.

Eine Grundsatzprogrammdebatte scheint - nach meiner Auffassung - zum gegenwärtigen Zeitpunkt - aus zunächst zwei Gründen - wenig hilfreich. Erstens wird sie zum Terrain der parteiinternen Auseinandersetzung zwischen Strömungen, Tendenzen etc. Das heißt: das Zusammenfallen von Programmdebatte und Neuwahl der Führung blockiert optimale Voraussetzungen für eine Programmdebatte: nämlich ein offenes Klima, in dem unterschiedliche Positionen sich artikulieren können, respektiert werden und doch auch wechselseitig lern- und kommunikationsfähig bleiben. Ein Klima der Denunziation, in dem mit der Verratshypothese gearbeitet wird, ist nicht nur tödlich für die Programmdebatte, sondern für die gesamte politische Kultur einer linken Partei.

Zweitens zeigen auch die vorliegenden Materialien, daß der Berg an ungelösten Grundsatzfragen viel zu hoch ist, um schon jetzt einen Anspruch auf analytische und strategische Kohärenz glaubhaft und nach außen wirksam einzulösen. Das liegt u.a. an der Ungleichzeitigkeit, die durch den Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus - als bestimmendes politisches Merkmal der Übergangsepoche - entstanden ist. Es wird noch lange dauern, bis die theoretische und praktische Aufarbeitung dieser Dialektik von Sieg und Niederlage politisch wirksam werden kann - im Sinne eines massenwirksamen, neuen sozialistischen Projektes. Perry Anderson hatte schon Anfang der 90er Jahre auf diese tiefe Krise hingewiesen: ,,Keine der politischen Strömungen, die in diesem (d. h. dem 20.) Jahrhundert als Herausforderer des Kapitalismus antraten, hat zur Stunde noch Kampfgeist oder eine Massenbasis ... Für den gesunden Menschenverstand unserer Tage sind alle Ideen, die einstmals den Glauben an den Sozialismus ausmachten, bloß noch tote Hunde."9 Diese Feststellung gilt nach wie vor - obwohl der Widerstand gegen die kapitalistische Globalisierung ebenso zugenommen hat wie die Kritik am Neoliberalismus.

5.

Warum machen Parteien Grundsatzprogramme? Wann entsteht das Bedürfnisse, neue Programme zu schreiben, zu debattieren und zu verabschieden? Welche Bedeutung haben sie? Ich habe mich - zusammen mit anderen - in den letzten Jahren z.B. in der gewerkschaftlichen Debatte über ein neues Grundsatzprogramm für den DGB engagiert - und die Konstituierung einer ,,Gewerkschaftslinken" im vergangenen Jahr war u.a. auch ein Ergebnis dieser Debatten. Das Programm sollte - so der Anspruch der Initiatoren - die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften in der ,,neuen Welt" - nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und der Wiedervereinigung - definieren und zugleich die Veränderungen in der Wirtschaft, in der Arbeitswelt, in der Gesellschaft und in der Politik im Hinblick auf die Politik und die Ziele der DGB-Gewerkschaften reflektieren. Unsere Kritik, die teilweise im schließlich verabschiedeten Dokument zur Geltung kam, bezog sich nicht allein auf die Verabschiedung von der Kapitalismuskritik, auf die deutliche Abwertung des Interessengegensatzes von Kapital und Arbeit und - daraus abgeleitet - einer Strategie der gewerkschaftlichen Gegenmachtbildung, sondern vor allem darauf, daß die Analyse des tiefgreifenden sozialökonomischen und politischen Wandels und seiner politischen Konsequenzen völlig unzureichend und oberflächlich geblieben ist. Daher war die Vermutung berechtigt, daß in der Beschreibung des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses sich schließlich der rechte, sozialpartnerschaftlich orientierte Flügel der Gewerkschaften durchzusetzen versuche.

Programmdebatten und neue Parteiprogramme stehen dann auf der Agenda, wenn a) sich aus einer mächtigen Bewegung eine Partei konstitutiert, die ihr Selbstverständnis und ihre Ziele beschreiben will, b) sich gewaltige Veränderungen (in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik) vollzogen haben, die die Partei mit der Herausforderung konfrontieren, ihre Politik und ihre Ziele neu zu definieren oder fortzuschreiben, c) wenn es darum geht (oft in Verbindung mit b), innerparteiliche Machtverschiebungen zwischen den Flügeln durch ein neues programmatisches Verständnis zu sanktionieren und zu fixieren, und d) wenn die Partei mit der Eröffnung einer Grundsatzdebatte Intellektuelle und Künstler gewinnen möchte, die nicht nur Beiträge zum Begriff der Bedingungen und Ziele sozialistischer Politik in Gegenwart und Zukunft leisten können, sondern mit der Beteiligung an einer solchen Debatte zugleich einen möglichen Beitrag zur Veränderung der kulturellen und intellektuellen Hegemomie (z.B. des neoliberalen Denkens in den Hochschulen und der kommerzialisierten, medialen Massenkulturen) leisten können.

Schon Marx wußte, daß ,,jeder Schritt wirklicher Bewegung wichtiger (ist) als ein Dutzend Programme" (MEW 19:13). Das hinderte ihn freilich nicht, diesem Brief an Bracke seine ,,Kritik des Gothaer Programms" hinzuzufügen. Dennoch: es besteht - historisch betrachtet - stets ein negativer Zusammenhang zwischen dem Intensitätsgrad sozialer Bewegung ,,von unten" und dem Sektencharakter von Programmdebatten. Die PDS ist - im historischen Vergleich - natürlich keine ,,normale" Partei. Das ergibt sich aus ihrer ,,Vorgeschichte" in der DDR und der SED sowie aus ihrer ungleichmäßigen Verankerung im Osten und im Westen der Republik. Diese Besonderheit spiegelt sich in den Programmdokumenten dadurch wider, daß der Auseinandersetzung mit dem gescheiterten Sozialismusmodell des sowjetischen Typs sowie mit der Geschichte der DDR und der SED besonderer Raum gewidmet ist. Im Hinblick auf eine Reformulierung des Programms von 1993 wäre allerdings zu fragen, welche neuen Erkenntnisse inzwischen gewonnen wurden. Offenbar spielen die neuen Formulierungen über Sozialismuskonzeption und Bewertung der DDR-Geschichte in den Thesen der Programmkommission in der innerparteilichen Kontroverse eine besonders wichtige Rolle. Es bleibt zu fragen, ob solche Kontroversen auf der Ebene von Programmformulierungen ausgetragen und gelöst werden können. Diese Kontroversen müssen - unvermeidlich über einen längeren Zeitraum - Bestandteil der gesamten politischen Kultur der Partei bleiben.

1 Dieser Beitrag wurde Anfang Juli geschrieben und Anfang Oktober überarbeitet.

2 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998.

3 Mit dem Hinweis auf die ,,Kristallkugel des Historikers" beginnt das prognostische Interview mit Eric Hobsbawm, Das Gesicht des 21. Jahrhunderts, München/Wien 2000.

4 Donald Sassoon, One Hundred Years of Socialism. The West European Left in the Twentieth Century, London 1997, S. 776.

5 Ganz grob können wir dieses Feld als ein ,,10-Prozent-Feld" charakterisieren: in Spanien: Izquierda Unida; Frankreich: KPF und andere Linkskräfte; in Italien: Rifondazione Communistà und die CGIL-Opposizione; in den skandinavischen Ländern Linksparteien mit längerer Tradition (wie z.B. die SVP in Dänemark oder die aus der KP hervorgegangene Linkspartei in Schweden). Diese Formationen, z.T. ,,Restbestände" der einst starken kommunistischen Parteien, erreichen - bei starken Schwankungen - bei den nationalen Wahlen ca. 10 Prozent; in Großbritannien z.B. (mit seinem Mehrheitswahlrecht) ist die Stärke des linken Labour-Flügels und autonomer sozialistischer Kräfte (z.B. der Socialist Workers Party) nicht nach diesem Maßstab zu kalkulieren. Noch schwieriger ist die Einschätzung der Solidität linkssozialistischer Positionen in den Transformationsgesellschaften Ost- und Südosteuropas.

6 Frank Deppe, Die Linke in der Geschichte der Bundesrepublik, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, 1/2000.

7 Der britische Sozialist Peter Gowan vertritt in seinem neuen Buch (The Global Gamble. Washington's Faustian Bid for World Dominance, London/New York 1999, S. 126 ff.) die These, daß der Neoliberalismus als intellektuelle Bewegung spätestens seit den internationalen Finanzkrisen des Jahres 1998 gescheitert ist.

8 Vgl. u.a. Jay Mazur, Der neue Internationalismus der Gewerkschaften, in: Sozialismus, 9/2000, S. 44 ff.

9 Perry Anderson, Zum Ende der Geschichte, Berlin 1993, S. 141 u. S. 143.

6.

Die Thesen der Programmkommission verfehlen analytisch zentrale Elemente der ,,Großen Transformation" (Polanyi) der Gegenwart. Sie sind nicht ,,auf der Höhe der Zeit". Das ist jedoch nicht der Inkompetenz der Autoren geschuldet, sondern reflektiert die objektive Schwierigkeit, die Analyse des Umbruchs mit strategischen Schlußfolgerungen und Zielperspektiven eines sozialistischen Programms zu verbinden.

Welches sind die spezifischen Merkmale und Widerspruchskonstellationen des ,,transnationalen High-Tech-Kapitalismus"? Marxistische Analysen des weltweiten Kapitalismus geben durchaus kontroverse Antworten auf die Frage, ob wir uns bereits mitten in einer Formation des ,,Neoliberalismus"1 oder nach wie vor in einer Erosionskrise der fordistischen Kapitalismusformation2 befinden3. Michel Aglietta, der mit seiner Analyse des US-amerikanischen Kapitalismus in den 70er Jahren die sog. ,,Regulationsschule" mit begründete, geht in einer neueren Arbeit davon aus, daß sich ein relativ kohärentes nachfordistisches Akkumulationsregime herausgebildet hat: ein flexibel-finanzgetriebenes Modell, das den Übergang vom Manager- zum Aktionärskapitalismus (shareholder-value) vollzogen hat4. Daraus folgt z.B., daß für zunehmende Teile der Lohnabhängigen die Lohnfrage (und damit der zentrale Ausgangspunkt für die Notwendigkeit gewerkschaftlicher, kollektiver Interessenvertretung) gegenüber Vermögensbeteiligungen an Bedeutung verliert5, während gleichzeitig - auf der Ebene der Unternehmensführung - der Aktienkurs zum zentralen Parameter für die Politik des Managements wird (was vielfach im Widerspruch zur Logik der Produktion, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit steht).

Es ist selbstverständlich nicht Aufgabe einer Programmdebatte, solche Kontroversen zu ,,entscheiden". Gleichwohl muß sie sich auf dem Terrain dieser Analysen und - wie immer partikularen - Erkenntnisse bewegen. Wenn zuvor von der Offenheit und Kontingenz gesprochen wurde, so war damit nicht ein postmodernes Bekenntnis zur Beliebigkeit gemeint. Es handelt sich vielmehr um bestimmende Merkmale einer welthistorischen Umbruchs- und Übergangskonstellation, deren Ergebnisse (im Sinne z.B. einer neuen Formation, neuer Kräfte- und Mehrheitsverhältnisse, Blockbildungen, neuer Themen, neuer `Widersprüche und neuer Widerstandsformen etc.) ,,in the making", also in einem Prozeß des Werdens, sich befinden, in einem Prozeß, in dem - höchst komplex - objektive und subjektive Prozesse und Akteure zusammenwirken, in einem Prozeß, dessen Ergebnisse wir nicht kennen können, obwohl wir mit unserem Engagement in den Kämpfen der Gegenwart zugleich eine normative Entscheidung treffen, daß wir diese Ergebnisse - theoretisch und praktisch - im Sinne einer sozialistischen Programmatik beeinflussen wollen. Und genau dies sollte uns daran hindern, heute und jetzt Grundsatzprogramme für sozialistische Organisationen beschließen zu wollen.

Jeder Versuch, die Frage nach den spezifischen Merkmalen und Widerspruchskonstellationen des heutigen Kapitalismus - und d.h. auch nach den Möglichkeiten und Potentialen einer sozialistischen Politik und einer progressiven Transformation der Gesellschaft - zu beantworten, führt auf Pfade, die auf den ersten Blick weit von den programmatischen Vorstellungen des traditionellen Sozialismus und Kommunismus entfernt sind. Dies betrifft vor allem

- den Charakter des neuen Akkumulationsregimes, die Veränderungen in der Produktivkraftstruktur, den dominanten Wirtschaftssektoren (,,Wissensökonomie") sowie den darin eingeschlossenen Veränderungen der Arbeitswelt6 - einschließlich von neuen Rationalisierungsstrategien, die die Logik der Kapitalverwertung und der Verfügung über die Arbeitskraft möglichst auf den ,,ganzen Menschen" und seine ganze Lebenszeit ausdehnen;

- die Veränderungen in der Klassenstruktur und den hegemonialen Blockbildungen; Herausbildung einer ,,Underclass", die sich nicht nur sozial und kulturell, sondern auch (infolge der Migration) ethnisch von den abgeschmolzenen Kernen der alten industriellen Arbeiterklasse abgrenzt; Expansion von Milieus der ,,neuen Mittelklassen", deren Angehörige sich vielfach als ,,Arbeitskraftunternehmer" beschreiben und sich als Träger der neuen, kommerzialisierten Alltagskulturen - mit ihren durch die Medien vermittelten Leitbildern von Erfolg, Leistung und Schönheit - verstehen;

- eine veränderte Funktion des kapitalistischen Staates, der - als ,,Wettbewerbsstaat" (Joachim Hirsch) - die Standortbedingungen im internationalen Wettbewerb zu sichern hat, dabei die angeblichen ,,Sachzwänge" der Globalisierung - zu Lasten der Arbeiterklasse und der Subalternen exekutiert, also eindeutig Funktionen von Klassenherrschaft (auch als repressiver Apparat) wahrnimmt - ein Wettbewerbsstaat, der sich von der fordistischen Moderation des wohlfahrtsstaatlichen Klassenkompromisses (in unterschiedlichen Varianten in den einzelnen Ländern) verabschiedet hat und zugleich relevante Bestandteile der klassischen nationalstaatlichen Souveränität - nicht nur in der Europäischen Union (EU) - an internationale Organisationen abgegeben bzw. sich der Logik des internationalen Wettbewerbs - repräsentiert durch die (einheimischen) transnational operierenden Konzerne - unterworfen hat, womit sich die Beziehungen zwischen nationaler und internationaler Politik - auch für die Linke - grundlegend verändert haben;

- eine Krise der demokratischen Systeme, die oberflächlich als Anpassung der großen Parteien an die Anforderungen der weltmarktinduzierten ,,Sachzwang"-Logik, in Korruptionsskandalen, in Kartellbildungen der politischen Klasse bei der Selbstversorgung durch materielle Ressourcen, die der Staatsapparat ihnen zur Verfügung stellt, in der Allmacht der Medien und der medialen Politikinszenierungen, in der sinkenden Wahlbeteiligung und dem gleichzeitigen Aufstieg rechtspopulistischer und neofaschistischer Politiker und Parteien zum Ausdruck kommt, die jedoch a) die fast absolute Dominanz der Kapital- und Profitorientierung der politischen Klasse, und b) eine Erosion der fordistischen Zivilgesellschaft (als den Orten der Kämpfe um Hegemonie in den großen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen) anzeigt;

- eine fast unangefochtene Dominanz der Kultur des Geldes und des Individualismus, die einhergeht mit dem Verfall der politischen und gewerkschaftlichen Linken (aus der Tradition der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung), d.h. der Erschöpfung jener moralischen und kulturellen Ressourcen der Solidarität, aus denen diese Linke - für gut ein Jahrhundert - ihre Kraft geschöpft hatte.

Das sind nur einige der Fragen, die im Zuge einer Programmdebatte sich stellen müßten. Vor allem im Bereich der internationalen Politik gibt es heute mehr offene Fragen als eindeutige Orientierungen. Sie betreffen - nach dem Ende der Systemkonkurrenz und des Kalten Krieges, aber auch nach den gravierenden Veränderungen in der ehemaligen ,,Dritten Welt" - gegenwärtige und zukünftige Hegemonialordnungen (Unilateralismus als USA-Herrschaft oder Triadenkonkurrenz; die Entwicklung der Beziehungen USA-Europa; die zukünftige Rolle der BRD als Führungsmacht usw. usf.); sie betreffen aber auch die Frage nach dem Charakter von internationalen politischen Konflikten, von Krieg und Frieden sowie nach der Rolle der internationalen Organisationen im Hinblick auf die Sicherung von Frieden und die Durchsetzung von Abrüstung etc. Wer so tut, als habe er mit dem Rückgriff auf Lenins ,,Imperialismustheorie" schon den Stein der Weisen wiederentdeckt, der irrt genau so wie diejenigen, die der BRD eine zivilisatorische Mission durch den weltweiten Einsatz der Bundeswehr in Krisenregionen zusprechen möchten.

Natürlich geht es nicht nur darum, die Elemente des Neuen in der Entwicklung des globalen Kapitalismus und seiner Herrschaftsverhältnisse gleichsam zu ,,entdecken" und in die Programmdebatte der PDS umzusetzen. Entscheidend ist, daß sich in der tatsächlichen sozialökonomischen und politischen Entwicklung dessen Widersprüche permanent artikulieren - auch wenn sie auf der Ebene des Kampfes um politische Mehrheiten noch nicht zu einem relevanten Thema geworden sind. Die kritischen Analysen des neuen Akkumulationsregimes und des ,,transnationalen Hig-Tech-Kapitalismus" im 21. Jahrhundert lassen keinen Zweifel daran, daß sich die neue Formation durch soziale Polarisierungen im nationalen und internationalen Maßstab, durch sich häufende Finanz- und Wirtschaftskrisen7, durch die fortschreitende Gefährdung der Natur und der Umwelt, durch wachsende Kriegsgefahr und eine Barbarisierung der Kultur (weil der Logik des Geldes, des Konsums und der Leistungsfähigkeit im Dienste der Kapitalverwertung unterworfen) auszeichnet. Solche Widersprüche erzeugen Widerstand, Konflikte - vor allem (wie Eric Hobsbawm richtig am Ende seines ,,Zeitalters der Extreme" prognostizierte) gewaltige Verteilungskonflikte in globalen Dimensionen. Die Politisierung solcher Konflikte erfolgt nicht naturwüchsig nach links. In einer Epoche, die durch eine tiefe, ja existentielle Niederlage des Sozialismus auf der einen und durch die quasi-unumschränkte Vorherrschaft der Kapitallogik, aber auch durch die Ideologie des Sozialdarwinismus auf der anderen Seite charakterisiert ist und in der gleichzeitig Ängste bei den subalternen Schichten und Klassenfraktionen vor den sozialen Konsequenzen der Kapitallogik weit verbreitet sind, eröffnen sich weite Spielräume für einen rechten Populismus, der Elemente der sozialistischen Kapitalismuskritik aufgreift und sie in die rassistischen und nationalistischen Diskurse der neuen Rechten einschmilzt.

7.

Am Schluß und nur relativ knapp will ich noch auf manche Schieflage in der Argumentation für eine Gesprächs- und Koalitionspolitik mit der SPD hinweisen. Wenn ich Bisky, Gysi und Zimmer richtig verstanden haben, dann verweisen sie a) auf die unselige ,,Sozialfaschismustheorie" der frühen 30er Jahre, mit der die KPD auch eine Schuld am Sieg des Faschismus auf sich geladen habe, und b) auf die Notwendigkeit, daß sich eine linkssozialistische Partei progressiven Gestaltungsoptionen im parlamentarischen System nicht verweigern darf. Der historische Bezug hinkt - wie üblich! Vor 1933 ging es erstens um die Verhinderung des Faschismus; zweitens bestand die Differenz zwischen SPD und KPD (aus der Sicht der KPD) vor allem darin, daß sich diese als ,,revolutionäre" Partei verstand, während die SPD als die revolutionsverhindernde Partei des Reformismus angesehen wurde. Beides paßt überhaupt nicht mehr als Kriterium für die heutige Debatte über die parlamentarische Rolle der PDS. Eine Koalition mit der SPD gegen die CDU ist nun - weiß Gott - keine erfolgreiche Verhinderung des Faschismus! Solche Koalitionen sollten aber im Kampf gegen den aufwuchernden kriminellen Faschismus auf den Straßen gesucht und entwickelt werden.

Was nun die Koalitionsbereitschaft für progressive Optionen (oder auch nur die Verhinderung von Rechtskoalitionen) betrifft, so ist dieses Argument prinzipiell nicht falsch, aber es wundert doch ein wenig die Blauäugigkeit, mit der es vorgetragen wird. Mit diesem Argument haben Reformisten (in der Sozialdemokratie vor 1914) und Realos (bei den Grünen in den 80er Jahren) stets noch ihren Abschied von ihren Grundsatzpositionen (z.B. der Kapitalismuskritik und der Gesellschaftsveränderung) begründet. Die PDS ist hier viel gefährdeter als z.B. das Führungspersonal der Grünen; denn in ihrer Tradition war sie stets weniger antiautoritär und anarchistisch und mehr etatistisch ausgerichtet als die ,,Fischer-Gang" der 70er Jahre. Die Entwicklung der Grünen hat noch einmal vorgeführt, welche Zwänge vom politischen System der repräsentativen Demokratien selbst ausgehen - hinsichtlich der Beteiligung an der Macht. Eine systemkritische Partei - auch als radikal reformorientierte linkssozialistische Partei - steht hier in einem permanenten Dilemma. Sie muß sich dessen bewußt bleiben, sonst wird sie als Juniorpartner der SPD ,,verbraucht" (schon François Mitterand hatte es in den 80er Jahren als seine größte Leistung bezeichnet, daß er durch Koalitionspolitik mit der KPF diese unter 10 Prozent gedrückt und zum Juniorpartner der Sozialisten degradiert habe). Die entscheidende Frage in der gegenwärtigen Situation, in der der Konsolidierungsprozeß hin zu einer authentischen linkssozialistischen (auch im Parlament präsenten) Partei noch längst nicht abgeschlossen ist (vor allem auch aufgrund der gewaltigen Unterschiede ihrer Existenz im Osten und im Westen), besteht daher nicht in der Koalitionsfähigkeit der Partei (und ihrer Akzeptanz durch die neue Sozialdemokratie, vor allem aber durch die Medien), sondern in ihrer Verankerung in den außerparlamentarischen sozialen und politischen Bewegungen sowie in der ,,Zivilgesellschaft". Auch hier muß man sich vor Phrasen hüten; denn die Krise der außerparlamentarischen (und vor allem: der sog. ,,neuen sozialen") Bewegungen muß ja ebenfalls in der strategischen Debatte der Linken ihren Platz haben. Freilich wird auch eine bewußte Linke ihre parlamentarische Tätigkeit immer auf den Primat der außerparlamentarischen - in den gesellschaftlichen Institutionen selbst - verwurzelten Potentiale der Kritik der herrschenden Verhältnisse und des Aufbaus eines gegenhegemonialen Blocks fortschrittlicher Kräfte zu beziehen haben.

1 Vgl. Mario Candeias, Der Neoliberalismus als Entwicklungsweise des Kapitalismus, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus, 5/2000, S. 20 ff.

2 So z.B. Joachim Bischoff, Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, Hamburg 1999, S. 48 ff.

3 Vgl. den Bericht über eine hoch spannende Marburger Tagung zu dieser Frage in: Sozialismus, 11/2000.

4 Michel Aglietta, Ein neues Akkumulationsregime, Hamburg 2000, S. 94: ,,Die Bezeichnung `Regime der Vermögensbesitzer' kennzeichnet die nunmehr ausschlaggebende Rolle der Geld- und Kapitalmärkte, die den Reichtum der Haushalte bei der Bestimmung der makroökonomischen Gleichgewichte ausmachen. Sie kennzeichnet zudem die Ausweitung der Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmerschaft im Zuge der wachsenden Bedeutung der institutionellen Anleger im Finanzsektor und die Unternehmenskontrolle als wesentliche Regulationsinstanz dieses Akkumulationsregimes".

5 Der Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) verkündet als seinen Traum, Deutschland ,,in ein Land von Aktionären zu verwandeln, die so in das Kapital ihrer Unternehmen einbezogen sind, daß sie aufhören, sich selbst als Arbeiter zu sehen und sich - statt dessen - als Quasi-Eigentümer fühlen". Als Aktionäre werden die Arbeitnehmer dann - so die Logik dieser Argumentation - gegen die Gewerkschaften und auch gegen eine konsequente Interessenvertretung durch den Betriebsrat sein; denn dies könnte ja die Position ihres Unternehmens in der internationalen Konkurrenz schwächen und deshalb negativ auf den Kurs ihrer Aktien wirken. Alle pseudo-egalitären Share-Holder-Visionen verschleiern den Sachverhalt, daß mit der breiteren Streuung des Aktienbesitzes zugleich die ökonomische und gesellschaftspolitische Machtposition der transnational organisierten Managerklasse und des Finanzkapitals gestärkt wird. Die Dezentralisierung von Unternehmensstrukturen (,,downsizing") geht mit einer gewaltigen Zentralisierung von Macht und Entscheidungskompetenz an der Spitze der transnational operierenden Wirtschaftsunternehmen einher. Die Klassenstruktur des Shareholder-Kapitalismus ist durch ein höheres Maß an sozialer Ungleichheit und Fragmentierung gekennzeichnet als die des Fordismus. Dort kam dem Wohlfahrtsstaat und den sozialen Bürgerrechten gerade die Funktion zu, soziale Risiken und soziale Polarisierung abzuschwächen.

6 Erst im Gefolge der ,,mikroelektronischen Revolution" kann die kommunistische Perspektive eines ,,Zusammenbruchs" der Tauschwertökonomie, einer Befreiung der Arbeit von Zwang der schweren körperlichen Arbeit, einer drastischen Reduzierung der Arbeitszeit sowie einer Eröffnung von Freiräumen für gesellschaftlich und kulturell nützliche Tätigkeiten objektiv möglich und real werden. Gegenwärtig setzt sie sich - in kapitalistischer Form - freilich in extremen Widersprüchen - d.h. als Freisetzung vom System der Tauschwertökonomie - durch, die das ,,Elend dieser Welt" (Bourdieu) begründen.

7 Peter Gowan hat in einem neuen Buch (vgl. FN 7) nicht nur das Dollar-Wall-Street-Regime, sondern auch - als dessen Konsequenz - die Kette der Krisen seit den frühen 90er Jahren- mit ihren verheerenden Wirkungen für die breite Masse der Bevölkerung u.a. in Ostasien und in Lateinamerika - analysiert. Der amerikanische Gewerkschafter Jay Mazur (vgl. Anm. 8) schreibt: ,,Eine Welt, in der die Vermögenswerte der 200 reichsten Menschen größer sind als das gemeinsame Einkommen vonmehr als zwei Milliarden Menschen am anderen Ende des ökonomischen Spektrums, sollten jeden und jede nachdenklich stimmen. Solche Inseln konzentrierten Reichtums in einem Meer des Elends waren historisch schon immer ein Vorbote des Aufruhrs. ... Millionen ArbeitnehmerInnnen verarmen in einer Weltwirtschaft, die die traditionellen Ökonomien zerstört und die Fähigkeit der Regierungen, ihnen beizustehen, deutlich schwächt. Sie sind sich selber überlassen und müssen gegen Elend, Hungersnöte und Seuchen kämpfen. Sie werden zur Migration gezwungen, müssen ihre Arbeitskraft zu Löhnen verkaufen, die kein Auskommen ermöglichen, ihre Kinder opfern sowie die natürliche Umwelt und oft auch ihre eigene Gesundheit - alles für den verzweifelten Versuch, zu überleben."