Die Gerd-Verschiebung

in (23.04.2001)

Normalerweise gehöre ich nicht zu den Leuten, die sich auf dem Pissoir für die Geschlechtsteile links und rechts neben ihnen interessieren. Aber dieser Fall lag anders.

Ich hatte Popcorn und Bacardi-Cola auf die Ablage im Vorraum gestellt, hatte mir die Kinokarte zwischen die Zähne geklemmt und ein Becken halblinks gewählt, als ich von hinten seine Schritte hörte. Er nahm ein Becken rechts außen und starrte geistesabwesend auf die gekachelte Wand. Dann knöpfte er mit der Linken seine Brusttasche auf, fingerte mit der Rechten hinein und fischte etwas heraus, was wie ein langer, dünner, rosafleischiger Schlauch aussah. Er hielt das Ende über das Becken und verharrte noch einen Moment, bevor er mit einem erleichterten Grunzen abstrullte.

Es war glasklar, was hier ablief. Warum hatte ich mich bloß nicht besser auf diesen Fall vorbereitet? Mein Buch war gerade erst erschienen, das die Machenschaften der Aliens auf unserem Planeten aufdeckt, und schon hatten sie einen Agenten auf mich angesetzt. Ich hatte gedacht, sie würden das cooler nehmen. Ich meine, wusste das denn nicht längst jeder: dass wir heutzutage, im demokratischen Zeitalter, von Aliens regiert werden - Wesen, die uns genauso auspressen wie alle Pharaonen und Fürsten vor ihnen, aber aussehen wie du und ich? Die nicht mehr in Pomp und Brokat vom Himmel herabsteigen, sondern in die schlechtgekleideten Gestalt unserer Freunde und Mitstreiter von gestern schlüpfen? Die sich gestern noch gemeinsam mit uns an irgendwelche Schienen gekettet haben, heute mit ihrer Herkunft aus der Mitte des Volkes protzen, und morgen lustig das nächste Land auswürfeln, das sie in Schutt und Asche bomben, bevor sie zum Dessert noch ein kleines Sparpaket verabschieden? Wusste das nicht jeder?

Ich schloss die Augen. Dies war ein bedauerlich unwürdiger Ort zum Sterben, aber ein Autor muss das tragen. Ich sah schon die Schlagzeile vor mir: "Mysteriöser Mord auf dem Kino-Klo". Nun gut, vielleicht war das der Weg, wie mein Buch es in die Bestsellerlisten und in die Supermarktregale schaffen würde, gleich zwischen den neuesten Dean Koontz und das Handbuch zur Eigenharntherapie. Welche Ironie ... Ich hörte, wie er einen Schritt zurücktrat und spürte, wie er sich mir zuwandte. Gleich, gleich würde eine triefend rote dritte Hand aus seinem Jackett hervorschießen und mich packen, und während ich röchelte, würde er sagen ...

"Hallo", sagte er, und streckte mir eine ganz normale Rechte entgegen. Ich war verwirrt. Erst jetzt, als ich die Augen vorsichtig wieder aufschlug, fiel mir diese Ähnlichkeit auf. Das Alien sah genau aus wie Gerhard Schröder. Bloß jünger, drahtiger. Er sah dem Original in etwa der verzerrten Weise ähnlich, wie der heutige Joschka Fischer dem Joschka Fischer von vor fünf Jahren ähnlich sieht.

Ich musste mich jetzt unbedingt zusammenreißen. Vom Autor einer bahnbrechenden Studie über den politischen Alienismus durfte man gerade in einer solchen Situation Haltung erwarten. Was sollte ich tun? Ihm die Hand schütteln? Wo Aliens sich so vor irdischen Bazillen fürchten, dass viele sich heimlich ein Fläschchen Sagrotan mit ins Büro nehmen und manche sich schon in ihren WG-Zeiten dadurch enttarnten, dass sie unbedingt eine Putzfrau engagieren wollten? Er las meine Gedanken und lächelte. "Sie müssen nicht alles glauben, was Sie schreiben", meinte er. "Obwohl ich Ihr Buch mit Vergnügen gelesen habe. Aber das Lokal bestimme ich."

* * *

Das Outer Space lag in einem riesigen Kellergeschoss unter dem Übersee-Café. Mein Begleiter hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass Widerstand zwecklos war, und nachdem wir uns noch die Vorstellung angesehen hatten (Aliens lassen keine Kinokarte verfallen; Aliens verschwenden nichts), waren wir über eine versteckte Treppe hierher gelangt. Hier war man offenbar unter sich. Die ganze Bar war in bürogelbes Neonlicht getaucht. Entlang einer endlosen Seitenwand saßen Gestalten vor modulierbaren Mikrowellenherden und sahen sich Game-Shows aus dem Andromeda-Nebel an. (Mikrowellen sind, da sie die irdische Atmosphäre nahezu ungehindert durchdringen, die einzig brauchbare Form intergalaktischer Kommunikation.) An den runden Tischen überboten sich Schlipsträger und Kreativgekleidete mit der Schilderung ihrer Arbeitstage ("16 Stunden regelmäßig", "seit drei Tagen ohne Schlaf", "2 Wochen nur im Flieger", "habe meine Kinder praktisch nicht wiedererkannt, als ich von der Arbeit heimkam") und aßen aus Pappschachteln mit der Aufschrift "Pizza" jene unförmige Plastikfladen, die den Nahrungsmitteln ihres Heimatplaneten wohl am nächsten kommen. Die Luft enthielt deutlich weniger Sauerstoff als draußen. Aus den diffusen Gesprächswolken flogen immer wieder einzelne Wortfetzen wie Wurfgeschosse durch den Raum: "Verantwortung", "Partizipation", "Mobilisierung", "Verschlankung", "antiquiertes Anspruchsdenken", die alienistischen Lieblingsvokabeln eben.

Mein Gastgeber bugsierte mich an einen Tisch in einer Nische und bestellte Sushi und isotonische Getränke für uns beide. "Sie ... Sie sehen ihm verblüffend ähnlich", brachte ich endlich hervor. Er grinste, aber es lag eine nach innen gekehrte Trauer darin. "Ich sehe ihm nicht ähnlich. Ich bin Schröder. Oder genaugenommen, ich hätte Schröder sein sollen."

* * *

Eine Stunde später hatte er mir alles erzählt. Wie er in einem Gentank herangereift war, Finger für Finger, Floskel für Floskel; Seite an Seite mit den anderen, jeder eine getreue Kopie jedes denkbaren rot-grünen Regierungsmitglieds, alle mit perfekt alienistischer Programmierung. Einige hatte man schon ein paar Jahre vor dem Regierungswechsel ausgetauscht, andere erst danach. Aber Gerd, der geplante Super-Gerd, das moderne Nachfolgemodell für das inzwischen überholte Helmut-Kohl-Alien: Er hatte angefangen, diese hässlichen Gendefekte zu entwickeln. "Das hier", er tippte gegen seine Brusttasche, "das wär's ja nicht gewesen. Aber die anderen Defekte. Totale Alkohol-Unverträglichkeit. Unheilbare Flugangst. Zwanghafte Offenherzigkeit. Aus! Aus und vorbei. Ich meine, irgendwas ist ja immer. Das Joschka-Modell zum Beispiel, das hat diesen irren Lauftrieb, und das Scharping-Modell, das leidet unter interverbaler Narkolepsie ..." "Unter was?", unterbrach ich. "... na, es schläft zwischen den einzelnen Wörtern immer für Sekundenbruchteile ein. Aber sowas stört nicht. Da lässt sich sogar noch ein Markenzeichen draus machen. Für mich dagegen ... " Er zuckte die Achseln. "Für mich war's gelaufen. Also haben wir den echten behalten."

"Halt, halt", warf ich ein. "Soll das heißen, Schröder ist der einzige Mensch unter lauter Aliens in der Regierung?" Er schüttelte ungehalten den Kopf. "So kann mann das nicht nennen. Der ist schon auch hundertprozentig ein Alien. Wir haben ihn bloß nicht gemacht. Er ist ein mutiertes Alien, kein ausgetauschtes. Eine genetische Selbstzündung. Sie haben das alles doch auch beschrieben. Ein Selfmade-Alien, wenn Sie so wollen. Ist nicht selten bei Aufsteigern. Deshalb haben wir die Sache auch erst mal laufen lassen. Aber, um ganz ehrlich zu sein: das Ganze läuft langsam aus dem Ruder."

"Moment, Moment", sagte ich kühl. "Wo läuft hier was aus dem Ruder? Ist doch alles bestens für euch. Mehr Kontrolle, mehr Umverteilung nach oben, freie Bahn für die großen alienistischen Projekte, darum ging's doch. Und? Läuft doch super. Der erste deutsche Angriffskrieg seit 50 Jahren. Progressive Steuern runter, Verbrauchssteuern rauf. Atomkraft jetzt mit garantierter Restverseuchungszeit. Hinten die Leute aus der Arbeitslosenhilfe rauskegeln, und vorne stolz die sinkende Quote präsentieren. Renten, Gesundheit, Transrapid ... soll ich weiterreden?" Er hob abwehrend die Hand: "Also bitte!", dann beugte er sich eindringlich vor: "Ja, sehen Sie denn das Problem überhaupt nicht? Ich dachte, Sie mit Ihrem Buch müssten das eigentlich kapieren. Darf ich Sie mal aus dem Gedächtnis zitieren? Im demokratischen Zeitalter kann keine Herrschaft auf Dauer gegen die gesellschaftlichen Mehrheiten regieren. Und das versteht der nicht! Der glaubt, es ist ein Beweis von Führungsstärke, wenn man die Sachen auf die kaltschnäuzige Art durchzieht. Das ist so'n ganz persönlicher Ego-Trip von dem. Und damit wird er uns das ganze Projekt versauen."

Ich sah ihn stumm über die Brille hinweg an. Er verdrehte die Augen. "Ach, kommen Sie! Sie denken an die Umfrageergebnisse, stimmt's? Was glauben Sie wo die wären, wenn wir nicht rechtzeitig die Kohl-Affaire angeworfen hätten?" "Angeworfen", wiederholte ich ironisch. Er war jetzt wirklich ungeduldig. "Ja, angeworfen! Was dachten Sie denn? Da werden jahrelang Milliarden verschoben, und eines Tages stolpert jemand zufällig über ein paar Quittungen? So wie beim Ostereiersuchen? Wollen Sie mir als Nächstes erzählen, dass Sie an die freie Presse und an die Selbstheilungskräfte der Demokratie glauben?"

Das saß. Er nahm einen tiefen Zug aus seinem Iso-Gesöff und sah mich ärgerlich an. "Also schön", sagte ich, "und Sie, Sie hätten wohl alles besser gemacht?" "Allerdings!" Er zupfte eine Garnele von ihrem Reisbettchen, drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger und blickte träumerisch in die Ferne. "Wir hatten alles ausgearbeitet. Schubladen voller Konzepte, wie man das große neue Durchgreifen wunderschön aus der Sprache der sozialen Bewegungen herleitet. Konsumverzicht, um den Planeten zu retten. Arbeitslosigkeit und Billigjobs als neue Mitmenschlichkeit. Wir hatten ganze Drehbücher vorbereitet: Eine Kampfpilotin, die einer kleinen Kosovarin ihren Stoffhasen rettet. Kinder in Afrika, die sich bei einem deutschen Rentner bedanken, dass seine Rente nicht mehr steigt. Homosexuelle Ehepaare, die den Ertrag ihres Steuersplittings für den Aufbau Ost spenden. Fröhliche Arbeitslose, die von dem Universum an Erfahrungen erzählen, das sich ihnen durch monatlich wechselnde Leiharbeit eröffnet: Entdecke die Möglichkeiten. Wir hätten euch rangenommen und ausgebeutet wie noch nie, und ihr wärt glücklich dabei gewesen."

"Hm", sagte ich. "Und wir hätten dann kein Sparpaket, sondern ..." "Jetzt dämmert's, was? Ein Solidarpaket; die erste Kampagne zur Befreiung vom Konsumterror; ein Umbaupaket für Gerechtigkeit. Und jeden Nachmittag ein kleines Werbefilmchen dazu. So war's gedacht." "Aber der richtige Gerd ..." "... ist ein Spinner. Betreibt Politik als Sado-Maso: Heute schon gelitten? Suhlt sich in der Genugtuung, der unpopuläre Sensenmann zu sein. Die Berliner Republik als politischer Darkroom: keiner weiß, was ihn als Nächstes erwartet. Wer weiß, was wir uns noch alles einfallen lassen müssen, um das auszubügeln. 'Stoiber - jahrelang heimlich mit einem Mann verheiratet' und so'n Quatsch. Und alles bloß, weil ich ..."

Ich nutzte die Woge von Selbstmitleid, die meinen Pseudo-Gerd hier gefangen nahm, um endlich eine Portion Kaffee und was Süßes auf seine Rechnung zu bestellen. Mit jeder Kalorie kam ein Stück meiner Fassung wieder. "Und?" sagte ich, einen großen Brocken Haselnußcremetorte kauend, "was soll ich dabei? Einen Beratervertrag annehmen, weil ihr nicht weiterwisst?" Der Beinahe-Gerd zauberte ein dämonisches Lächeln auf seine Züge und genoss seine Antwort sichtlich. "Das möchten Sie wohl, was? Sie sind wie alle Intellektuellen. Beleidigt, weil sich noch niemand die Mühe gemacht hat, Sie kaufen zu wollen. Aber ich muss Sie enttäuschen", er winkte den Kellner zum Bezahlen heran, "ich bin weder befugt Ihnen ein Angebot zu machen, noch habe ich den Auftrag, Sie in der Kloschüssel zu ertränken. Sie schreiben ganz hübsch, aber so wichtig sind Sie nun wirklich nicht." Er beugte sich über die Rechnung und beobachtete aus den Augenwinkeln meinen Ärger. "Soll ich mich dafür jetzt bedanken?" fragte ich spitz. "Oh, bitte! Wir bringen unsere KritikerInnen nicht um, wir demütigen Sie bloß. Aber das wissen Sie doch alles. Lesen Sie mal Ihr Buch." Er trank aus und hatte plötzlich aus der anderen Brusttasche eine Visitenkarte gezogen, die er mir reichte. "Aber wenn Ihnen was Erhellendes zur Gerd-Verschiebung einfällt, rufen Sie mich an."

"Zur Gerd-Verschiebung? Was soll das nun wieder sein?" "Nun ja", er kratzte sich am Ohr und versuchte möglichst beiläufig zu wirken, "das ist unser eigentliches Problem. Größenwahn scheint ansteckend zu sein, selbst für Aliens. Wir nennen das Gerd-Verschiebung. Also, kaum dass der sich im Kaschmir-Mantel hat ablichten lassen, fing unser Trittin-Modell auch damit an. Wir konnten gerade noch die joggenden Nacktfotos von Joschka für den Playboy stoppen. Unser Lafontaine-Modell hatte einen klaren Auftrag: publikumswirksame Sparrings mit der Bundesbank und dem BDI, unterm Strich eine begrenzte, heimlich Re-Regulierung der Finanzmärkte, damit's mit der Ausbeutung wieder verlässlicher vorangeht. Und was macht er? Fährt nach Hause, lässt sich von frierenden Journalisten auf dem Balkon ablichten, und schreibt erstmal 'n Buch. Das ist Gerd-Verschiebung. Ansteckender Größenwahn. Wie die Grünen: werden staatsmännischer mit jeder Wahl, die sie verlieren." Er machte eine vielsagende Handbewegung. "Totaler Realitätsverlust. Macht uns echt Sorgen. Wir züchten schon wie verrückt Gysis in unseren Tanks, für den Fall, dass uns über Nacht alles um die Ohren fliegt."

"Dann hättet ihr's doch gelassen", sagte ich kauend, nicht gewillt, die Hälfte meiner Haselnusscremetorte unverrichteter Dinge zurückzulassen. "Hättet ihr doch 'ne Große Koalition gemacht, oder den Schäuble genommen." "Das", antwortete er ruhig, während er mich von meinem Teller wegzerrte und hinter sich herzog, "hat nun wieder andere Gründe. Ciao, Wolfi!" Ich konnte gerade noch sehen, wie er mit der freien Hand einem anderen, befreundeten Alien an der Bar in die Hand klatschte. Das Alien sah aus wie Schäuble. Jünger und drahtiger allerdings. Nur da, wo man die Nase vermutet hätte, hing aus seinem Gesicht ein langer, dünner, pinkfarbener Schlauch.