Der real existierende Atomstaat

Kontinuität undemokratischer Politik und systematischen Missbrauchs der Polizei im März 2001

Eine Enquete-Kommission des Bundestages untersucht gegenwärtig die Frage, wie die BürgerInnen für Politik aktiviert werden können. Wehe aber, diese sind schon aktiv...

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie beobachtet seit 20 Jahren große, umstrittene Demonstrationen. Es tut dies um des demokratisch wichtigen Grundrechts auf Demonstration willen. Es tut dies, weil die meisten Berichte über Demonstrationen, wenn nicht polizeilastig, so doch - angesichts der schweren Überschaubarkeit großer Demonstrationen - punktuell und einseitig ausfallen. Darum ist das Komitee mit oft bis zu 30 erfahrenen BeobachterInnen bei Demonstrationen dabei. Von Brokdorf im Februar 1981 bis Lüneburg, Dannenberg, Gorleben im März 2001. Es gibt keine Institution in der Bundesrepublik, die über mehr Erfahrungen mit Demonstrationen, ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede verfügte; und die sich also gleicherweise mit dichtem und vielfachem Beobachtungsfundament ein dem Grundgesetz verpflichtetes angemessenes Urteil zu bilden vermöchte.

In der Regel beschränken wir uns darauf, detailliert und genau unsere Beobachtungen zusammenzufassen und auszuwerten. Wir lassen uns zur strittigen Sache nicht ein. Auch in unseren grundsätzlichen Bemerkungen zum hohen Stellenwert des Grundrechts auf Demonstration beschränken wir uns auf das im Rahmen des jeweiligen Demonstrationsgeschehens Nötige. Der hohe Stellenwert dieses Grundrechts gilt gerade im Rahmen einer prinzipiell repräsentativen Demokratie, die BürgerInnen außerhalb der Wahlen nur vermittelt beteiligt.

Der Konflikt über die Atomenergie im allgemeinen, der sich nun über Jahrzehnte erstreckt, der Konflikt über die Zwischen- und Endlagerung abgebrannter Brennstäbe insbesondere in der Region rund um Gorleben machen ein anderes, ein erweitertes Verfahren unserer Berichterstattung erforderlich. Dieses Erfordernis ergibt sich aus der noch darzulegenden Eigenart des demonstrativen Geschehens. Dessen Eigenart kann nicht verstanden werden, wenn die strittige Sache und wie damit verfahren wird, außer Acht gelassen werden. Also werden wir, so knapp wie möglich - der im Mai vorgelegte umfänglichere Beobachtungsbericht wird auch hier dokumentatorisch argumentativ etwas angereichert werden -, einige grundsätzliche politische Dimensionen des Konflikts profilieren. Danach werden wir die Eigenart der Demonstration herausarbeiten, bevor wir aus der Fülle des von 30 Beobachterinnen und Beobachtern über 6 Tage hinweg Gesammelten einige Ereignisse illustrativ auswählen (wie gesagt: der ausführliche Beobachtungsbericht wird ab Anfang Mai beim Komitee bestellt werden können).

Unverhältnismäßigkeiten

Eine Fülle von Demonstrationen fanden, vom Magnet des Castortransportes räumlich und zeitlich zusammengehalten, zwischen dem 24.3. und dem 29.3.2001 statt. Alle wurden vorweg durch eine Allgemeinverfügung der Bezirksregierung als Äußerungen des Grundrechts auf Demonstration verboten, gewaltverdächtigt und, wo immer möglich und angeblich nötig, polizeigewaltverhangen. Die politische Aufgabe, strittige lebenswichtige Entscheidungen, soweit irgend möglich, mit den demokratieseidank besorgten BürgerInnen auszudiskutieren, bleibt unerledigt. Statt dessen wird in repräsentativem Absolutismus fernab von allen BürgerInnen ein sogenannter Energiekonsens vorab entschieden. Was für ein "Konsens", an dem nur abgehobene Exekutive und einseitig interessierte Energieunternehmen in herrschaftsvollem Korporativismus teilhaben.

Statt repräsentativ demokratisch getroffene Entscheidungen dort, wo sie BürgerInnen und die gemeinsame Zukunft derart angehen, vom repräsentativen Olymp herabsteigend den BürgerInnen wenigstens zu erläutern und mit ihnen zu diskutieren, wird die Polizei massenhaft, helmbewehrt, schlagstockstark, wasserwerfer- und hubschrauberarmiert vorgeschoben. Die als repräsentative Demokraten feigen PolitikerInnen entsagen ihrer zentralen politischen Aufgabe: Demokratie zu vergegenwärtigen.

Gewalt soll vermieden werden. Als (potentiell) gewalttätig erscheinen engagierte BürgerInnen, die sich gegen den Transport ins demonstrative Zeug legen. Verloren geht die Einsicht, dass der massenhafte Polizeieinsatz dauernd legitimationspflichtige Gewalt darstellt. Ebenso, dass von Bezirksregierung und Lüneburger Landrat, mit Hilfe fragwürdig ausgelegter und angewandter Versammlungsparagraphen und Gefahrenabwehrgesetze, Gesetze interpretatorisch gegen das Engagement der BürgerInnen gebogen und Gewalt nur ihnen in die Schuhe geschoben wird. Die Polizei ist auf "Dialog" angelegt. Anders gekleidete, mit eigens beschrifteten Polizeiautos versehene "Konfliktmanager" und Pressesprecher bevölkern die Szene. Doch sobald es darauf ankäme, sich mit Demonstrierenden anders auseinanderzusetzen denn verhindernd und - sind sie nicht polizeiwillig - gewalthaft, wird die Dialogattitüde zum polizeigewaltigen Monolog: zum Wegdrücken, Wegschlagen, Wegspritzen, zum Einkesseln, Fahnden, erkenntnisdienstlich Aufnehmen und Verhaften.

Auch im Nachhinein setzen sich all diese und andere Unverhältnismäßigkeiten fort. In kontroverser Interpretation: Die einen, die als Politiker zugunsten der Polizei zeitweilig abgedankt haben, wollen das bürgerliche Urrecht auf Demonstration möglichst noch privatrechtlich aushebeln. Die anderen sinnen darauf, wie die Demonstrationen fortgesetzt werden könnten, damit diese trotz ihrer prinzipiellen Ohnmacht angesichts der übermächtigen Polizei und der Aushebelung des Demonstrationsrechts viel Polizeiaufwand verlangen. Dann könnte derselbe finanziell und legitimatorisch unverhältnismäßig werden.

Der Castor ist und bleibt eine Zwischenlagerungsaktion atomaren Mülls als Bündel bleibender Unverhältnismäßigkeiten.

Der sogenannte Energiekompromiss

Die Geschichte der Atomenergie in der Bundesrepublik Deutschland ist eine Geschichte staatlicher Förderung der sogenannten "friedlichen Nutzung" der Atomenergie und ihrer Erzeugung. Über Jahrzehnte hinweg erfolgte diese exklusiv, diskussionslos, meist klandestin. Eine Serie von über hundert Atomkraftwerken quer über die Bundesrepublik mit verschiedenen Schwerpunkten war bis in die 70er Jahre hinein geplant (die aller Wahrscheinlichkeit ursprünglich mitgedachte militärische Nutzung im Sinne der bundesdeutschen Fähigkeit, eigene atomare Waffen zu produzieren, kann an dieser Stelle unerörtert bleiben). Diese Geschichte der Atomenergie ist geprägt von der engen Zusammenarbeit zwischen dafür zuständigen staatlichen Instanzen und ihren politischen VertreterInnen, auf Atomforschung konzentrierten, in der Regel staatlich finanzierten WissenschaftlerInnen und ihren Großforschungseinrichtungen und den formell privaten großen Energieunternehmen. Erst erste Versuche, AKW zu errichten und die damit zusammenhängenden BürgerInnenproteste (Stichwort Wyhl) haben seit Anfang der 1970er Jahre den seinerzeitigen "Energiekonsens" infrage gestellt und zum Teil zerbrechen lassen.

Seitdem gibt es "Stunk". Seitdem wurde und wird die sogenannte "friedliche Nutzung" der Atomenergie auch von vielen WissenschaftlerInnen, von Unfällen und Katastophen wie Tschernobyl in ihrer friedlichen Rationalität bezweifelt. Der Ausstieg aus den schon errichteten AKW und der nicht weitere Einstieg in die Atomenergie wurden zu einem politischen Hauptthema der Republik. Dass es soweit kam, ist jedoch weniger vernünftiger Selbsteinsicht positionell verantwortlicher PolitikerInnen, als vor allem den "Neuen Sozialen Bewegungen" zu verdanken, bürgerlichem Engagement, das die 70er und 80er Jahre bestimmte. Demonstrationen, nicht zuletzt rund um Gorleben, dessen Salzstöcke als sicherer Ort für die Endlagerung des energetisch unbrauchbaren, jedoch bleibend gefährlichen Atommülls bestimmt worden waren (und es noch sind), trieben die politische Diskussion bis hin zur Entscheidung, dass die friedliche Nutzung der Atomenergie zu beenden und andere energetische Möglichkeiten zu nutzen seien (vom immer noch unzureichend genutzten Energiesparen bis zu regenerativen Energien).

Festzuhalten ist, dass die Auseinandersetzungen staatlicherseits, von den einfluss-mächtigen Interessen nicht nur der Energiekonzerne gestützt und getrieben, durch einen enormen Gewaltaufwand gekennzeichnet gewesen sind; dass außerdem Milliardenbeträge um der bornierten Fixierung auf die Atomenergie willen verschleudert worden sind. Kein Politiker, etwa der mächtig entscheidende damalige bayerische Ministerpräsident, wurde dafür zur Rechenschaft gezogen (oder wenigstens symbolisch zur Kasse gebeten). Hinzu kommt, dass schon vorweg die Umwelt massiv beeinträchtigt worden ist. Man denke z.B. nur an Wackersdorf und seinen ihn umgebenden Taxölder Forst. Letzterer ist sinnlos atomkahlgeschlagen worden. Auch hier war das Komitee beobachtend dabei (s. seine seinerzeitigen Berichte). Zu dieser staatlichen Ersatzpolitik, in der langfristig politische Überzeugungsarbeit und durchsichtige Entscheidungsprozesse durch Missbrauch polizeilicher Gewalt ersetzt worden sind, gehörte auch die Diskriminierung und Kriminalisierung ganzer Gruppen von angeblichen "Gewalttätern". Wer, so fragt man sich immer erneut, übte hier unzulässige Gewalt?

Das ist der Hintergrund, vor dem der sogenannte "Energiekompromiss" (genauer: die "Vereinbarung zwischen Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000") zu verstehen ist. Auf ihn ist die rot-grüne Koalition besonders stolz. Er bildet die Basis des guten demokratisch rechtsstaatlichen Gewissens der Regierung und ihrer Parteispitzen, den Transport vom März dieses Jahres und die weiteren Transporte prinzipiell rücksichtslos durchzusetzen. Er stellt den Grund dar, warum manche Kommentatoren, offenkundig ahnungslos, d.h. bar einer genauen sachkundigen Lektüre dieses "Kompromisses", behaupten, alles sei doch nun bestens im Sinne des Ausstiegs aus der Atomenergie gelöst. Den AKW-Gegnern könne man es auch gar nicht recht machen: sie seien offenkundig aus prinzipiellen Systemgegnern zusammengesetzt. Diese motiviere nicht der Ausstieg aus der Atomenergie, sondern ihre Staatsfeindschaft. Zu denen, die sich "quer" legten, gehörten Leute, die nicht begriffen, dass der vorhandene Atommüll nun einmal nicht nach dem St. Florians-Prinzip entsorgt werden könne. Nur wenige Schlaglichter auf die "Vereinbarung" mögen deutlich machen, dass die besorgten BürgerInnen, die aus guten Gründen endlich ein klar und eindeutig datiertes Ende der Atomkraftwerke und ihrer gefährlichen Produktion wollen, diesem "Kompromiss" nicht trauen können, ja diesem nur törichterweise, an der rot-grünen Nase herumgeführt, trauen dürften. Manche Kommentatoren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Frankfurter Rundschau und der Süddeutschen haben wenigstens eingeräumt, dass der "Kompromiss", wie das Kompromisse so an sich haben, weithin einen Formelkompromiss darstellt, sprich entscheidende Fragen sind in den schön abgehobenen Formulierungen offen gelassen worden.

Versagen der Politik

Zum ersten: Dem Kompromiss mangelt es an demokratischer Qualität. Nach jahrzehntelangen Kontroversen hätte man von jeder Regierung, die Art. 20 Abs. 2 GG ("Alle Gewalt geht vom Volke aus.") unbeschadet der repräsentativen Vermittlung der Demokratie ernst nimmt, erwarten müssen, dass wenigstens VertreterInnen der Bürgerinitiativen, hochgradig sachkundig wie sie sind, an den Diskussionen beteiligt worden wären. Ohne diese Beteiligung ist der Kompromiss demokratisch kompromittiert. Also ist er auch rechtsstaatlich fragwürdig. Hinzu kommt, dass das vorgesehene "Monitoring", die Kontrolle der korrekten Umsetzung der Vereinbarung, nur von den beiden im "Kompromiss" vereinten Korporationen, je 3 Vertretern der "beteiligten Unternehmen und der Bundesregierung", geleistet werden soll.

Zum zweiten: Nicht nur werden unbegründet lange Ausstiegszeiten vorgesehen, ohne eindeutige Daten festzulegen - der Schlüsselsatz lautet reichlich vage: "Unbeschadet der nach wie vor unterschiedlichen Haltungen zur Nutzung der Kernenergie respektieren die EVU die Entscheidung der Bundesregierung, die Stromerzeugung aus Kernenergie geordnet zu beenden." - vielmehr bleiben eine Fülle von unklaren Ausdrücken. Was heißt beispielsweise "geordnet"? Was bedeutet, dass Forschung weitergehen dürfe? Eine solche kann bekanntlich nicht nur am Schreibtisch erfolgen. Was meint die Forderung, die Bundesrepublik und "ihre" EVU müssten in Sachen Energie wettbewerbsfähig bleiben? Vor allem müssten Arbeitsplätze gesichert werden? Wie sieht der "umfassende Energiekonsens" aus, als dessen Teil die Junivereinbarung verstanden werden soll? Was meint die Ankündigung: "Die EVU nehmen zur Kenntnis, dass die Bundesregierung die Einführung eines gesetzlichen Neubauverbots für KKW sowie einer gesetzlichen Verpflichtung zur Einrichtung und Nutzung von standortnahen Zwischenlagern beabsichtigt"? Beabsichtigt? Irgendwann? Und was, wenn etwas dazwischenkommt, mächtige Interessen beispielsweise? Hinzugefügt wird zur nicht terminierten und offenen Novelle des Atomgesetzes, dass über die "Umsetzung" derselben in bewährter Interessenherrschaftspartnerschaft "auf der Grundlage des Regierungsentwurfs vor der Kabinettbefassung zwischen den Verhandlungspartnern beraten" werden solle. Die BürgerInnen bleiben draußen vor der Tür. Wehe, sie demonstrieren. Dann werden die Demonstrationen als dringend gewaltverdächtig verboten.

Zum dritten: Weitere ausschlaggebende Fragen bleiben offen. Das gesamte Lagerungsproblem wird nur ungefähr behandelt, was, wann, wo und warum mit welchen Laufzeiten und Kontrollen im europäischen Verbund zwischengelagert werden soll. Vor allem bleibt offen, wie es mit der Endlagerung ab wann und wo aussehen soll. Wie und wann die Frage des wo entschieden wird, welche Prozeduren dabei angewandt werden.

Solcherlei - bei weitem nicht vollständig aufgeführte - Vagheiten kennzeichnen den hoch notierten "Kompromiss". Wie könnten sich sachkundige und also besorgte Bürgerinnen mit einem solchen Vagheitshaufen zufriedengeben? Für Vertrauen besteht angesichts der oben berührten Geschichte und des exklusiven Interessenkartells kein Anlass.

Was heißt "demokratischer Rechtsstaat"? Jedenfalls nicht das, was die Bundesregierung darunter versteht. Es reicht nicht aus, exekutivisch formierten privatwirtschaftlichen Interessen die Form eines Gesetzes zu geben und dieses Gesetz dann "mit aller Härte" der diversen Gefahrenabwehrgesetze durchzupauken. Das mag dem vordemokratischen Rechtsstaat des zweiten deutschen Kaiserreichs entsprechen. Und manche gegenwärtigen PolitikerInnen möchten mit ganzer Sohle autoritär auftreten wie weiland Bismarck oder Wilhelm II. Wenn jedoch das Rechtsstaatsverständnis auf dem Boden des Grundgesetzes stehen soll, dann muss es zuallererst den unmittelbar geltenden Grund- und Menschenrechten entsprechen. Das bedeutet auch, dass die demokratische Qualität in solch tief angelegten, geradezu existentiellen Streitfragen besonders beachtet werden muss. Dazu reicht das übliche abgehobene repräsentativ demokratische Spiel nicht aus.

Da wird neuerdings bis tief in die Regierungskoalition hinein von zusätzlichen plebiszitären Verfahren geredet, die so abgehoben, wie sie geplant sind, bestenfalls ambivalente symbolische Zugaben bedeuteten - wenn sie denn bundesweit eingeführt würden. Dort jedoch, wo sich die sonst so "volkstrunkenen" PolitikerInnen besorgten Gruppen aus der Bevölkerung auch nur stellen und mit ihnen reden müssten, verbergen sie sich jämmerlich hinter der Polizei. Man muss nicht mit allem, was die Demonstrierenden jeweils tun und verlangen, einig sein, um festzustellen, dass die negative politisch demokratische Wirkung kaum zu überschätzen ist, die der allein polizeistaatlich durchführende Umgang mit den Demonstrierenden zuletzt Ende März zwischen Lüneburg, Dannenberg und Gorleben bedeutet. Hier lernen die Jugendlichen, die am meisten präsent sind, dass nicht bürgerliches Engagement die erste BürgerInnenpflicht ist, sondern Gehorsam. Hier lernen sie in der Tat bestenfalls Politikverdrossenheit, schlimmerenfalls Zynismus, schlimmstenfalls gewaltbesetzten Opportunismus. Das ist es, wofür die Herren und Damen der Regierung und der Regierungsparteien verantwortlich sind. Als für die Qualität bundesdeutscher Demokratie mitverantwortliche PolitikerInnen haben sie Ende März ein weiteres Mal versagt.

Repräsentativer Absolutismus

Das allgemeine BürgerInnenrecht, zu demonstrieren, variiert notwendig je nach Kontext und Ziel der Demonstration. Demonstrationen haben als kollektive Wortmeldungen der BürgerInnen viele Funktionen. Diese wechseln. Sie sind symbolisch. Sie wollen eine Meinung nachdrücklich ausdrücken. Sie sollen auf eine noch nicht getroffene Entscheidung Einfluss nehmen. Sie lassen gegen Sachverhalte protestieren, auf Probleme aufmerksam machen, die Zusammengehörigkeit von Gruppen öffentlich zeigen und so weiter und so fort. Insgesamt sind Demonstrationen die einzige eigenständige, selbstbestimmte, grundgesetzlich zugelassene politische Äußerungsform der Bevölkerung. Und Politik fängt mit der Mehrzahl an. Darum sind sie so entscheidend wichtig. Demonstrationen dieser Variantenfülle sind in der Regel durch die Einheit des Orts (an einem ausgewählten Platz, einer prinzipiell selbstbestimmten Route) und die Einheit der Zeit gekennzeichnet (sie finden an einem Tag mehrere Stunden lang statt); oft auch durch die Einheit einer bestimmten Gruppe. Darum müssen sie auch meist nicht lange vorbereitet werden. Man kann sich mehr oder minder spontan entschließen, mitzudemonstrieren.

Auch wenn diese "Einheiten" gegeben sind, unterscheiden sich Demonstrationen qualitativ, quantitativ, im Zweck und durch den Kontext, für den und in dem sie stattfinden. Diese große Skala der Demonstrationsformen verlangt immer eine neue und eigene Beurteilung. Diese wechselnden Umstände und Eigenarten versäumen Behörden und auch die meisten Verwaltungsgerichte wahr- und ernstzunehmen, die insbesondere neuerdings allzu rasch darauf ausgehen, angeblich erfahrungsbegründet und gefahrengewahr, Demonstrationen durch "Allgemeinverfügungen" zu verbieten und diese Verbote justiziell zu bestätigen.

Die Demonstrationen rund um Gorleben sind seit längerem durch ungewöhnliche Eigenarten charakterisiert. Diese sind zur Kenntnis zu nehmen, will man ihnen grundrechtsgemäß gerecht werden.

- Die Demonstrationen kehren sich gegen eine schon getroffene Entscheidung der Bundesregierung, an der die BürgerInnen in keiner durchaus möglichen Weise zuvor beteiligt worden sind. Darum der Ausdruck: "repräsentativer Absolutismus". Diejenigen, die sich an den Demonstrationen beteiligen, wollen ausdrücken, dass sie mit der getroffenen und während der Demonstrationstage sichtbar durchgesetzten Entscheidung nicht einverstanden sind.

- Dieses unvermeidliche "Zu-Spät" der Demonstrationen, das die nicht verantwortlich handelnden PolitikerInnen - die Regierung an erster Stelle - zu rechtfertigen haben, kennzeichnet die eingebaute Frustration und auch die Gefahr der Aggression dieser Demonstrationen. Ihr Zweck besteht auch darin, die Entscheidungen, um des Durchsetzungsaufwands der Entscheidungen willen, wieder revidieren zu lassen.

- Infolge der schon entschiedenen Sache wird die Polizei, die verfassungsgemäß primär Grundrechte schützen soll und Staatssicherheit primär als BürgerInnensicherheit verstehen müsste, zuallererst dafür eingesetzt, die bürgerlose Entscheidung gegen die BürgerInnen durchzusetzen. Und das tut sie denn auch ungeheuer gewaltaufwendig. Vielfach geht sie mit "aller Härte des Gesetzes", mit unmittelbarem Zwang und Inhaftierung vor. Die dafür gebrauchten Gesetze der Gefahrenabwehr sind ihrerseits schon grundrechtlich höchst fragwürdig. Das niedersächsische Gefahrenabwehrgesetz (NGefAG) ist eine Art "lex specialis Gorleben". Erst mit langem Abstand und in zweiter Linie geht es der ersatzpolitisch vorgeschalteten Polizei auch darum, den BürgerInnen trotz allem keinen Harm anzutun. Deren Grundrechte werden freilich kräftig zum Zwecke der Durchsetzung riskiert.

- Hinzu kommt, dass sich die Demonstrationen, die gegen die Durchführung schon getroffener Entscheidung angesetzt sind, über Tage hinwegziehen und durch ihren weiträumigen Charakter gekennzeichnet sind. Anderfalls gingen die Demonstrierenden in ihrer Ohnmacht angesichts der übergewaltigen Polizei vollends selbst öffentlichkeitswirksam unter. Die üblichen Einheiten von Ort, Zeit, ja auch der Zusammensetzung der Demonstrierenden ist also nicht gegeben. Das aber bedeutet, dass diejenigen, die an den Demonstrationen teilnehmen wollen, sich mehrtägig in der Region aufhalten müssen. Sprich: Camps und dergleichen sind unabdingbar, soll rund um Gorleben das Recht auf Demonstration gewährleistet werden.

- All diese Merkmale machen einsichtig, dass die ohnehin strukturell nicht gegebene "Waffengleichheit" zwischen politisch aktiven Bürgerinnen und abgehobener, entscheidungsmächtiger Exekutive - um einen Ausdruck aus dem Umkreis des Strafprozessrechts zu gebrauchen, der dort die (auch nicht bestehende) Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung betrifft - zusätzlich extrem zugunsten der polizeigewaltig bewehrten Exekutive verzerrt ist. Darum müsste aus politisch-demokratischen und dem Grundrecht auf Demonstration geltenden Gründen alles Erdenkliche getan werden, Demonstrationen in ihren Bedingungen als friedlichen Protest möglich zu machen.

Das genaue Gegenteil wird jedoch regierungsamtlich getan. Gerade dieses Mal. Die ohnehin strukturell und aktuell in jeder Hinsicht benachteiligten BürgerInnen, die demonstrieren wollen, wurden vorweg mit zwei Allgemeinverfügungen überzogen. Die eine vom 10. März 2001, von der Bezirksregierung zu Lüneburg erlassen, hatte ein großflächiges Verbot aller Demonstrationen im Zeitgroßraum vom 24. bzw. 27.3. bis zum 8.4. am vorgesehenen Castor-Transportweg entlang erlassen. Der Landrat des Landkreises Lüneburg hat analog dazu am 16.3.2001 präventiv auf die Fülle angeblich hier einschlägiger Gesetze hingewiesen, die ihn dazu veranlassen würden, gegen Camps im Rahmen des Demonstrationsgeschehens "bauaufsichtlich" einzuschreiten. In der Verhinderung und Auflösung von Camps mit Hilfe fadenscheinig pauschaler Behauptungen bestand zwischen dem 24. und 28. März auch ein Gutteil polizeilicher Tätigkeit. Zur allgemeinen Illegalisierung demonstrativen Verhaltens kamen pauschale Verdächtigungen des immer erneut geschaffenen "Subjekts" hinzu, das seit Jahrzehnten die hier allein phantasievolle offiziöse Bundesrepublik verunsichert: "die Autonomen". Wer immer, oft aus Angst und Unsicherheit, zuweilen gemischt mit etwas Abenteuerlust, zwischen 14 und 22 Jahren ein meist schwarzkariertes Schaltuch bis zur Nase hochzieht, ist "vermummt" und riecht geradezu nach Gewalt. Er oder sie gehören damit auch automatisch der nahezu terroristischen Vereinigung "die Autonomen" an, einer ebenso schemenhaften wie projektionsmachtvollen, vor Gewalt strotzenden Organisation, gegen die und deren Angehörige fast alle Mittel erlaubt sind. Man darf sie auch pauschal verdächtigen. Diese überall und nirgends, wo immer demonstriert wird anwesende machtumfassende Organisation müsste erfunden werden, wenn es sie nicht als Konstrukt längst gäbe. Sonst kämen gar die Demonstrations- und Campverbieter darauf, dass die Art einseitig und außeröffentlich getroffener regierungsamtlicher Entscheidungen, die Art der Allgemeinverbote, die Art der Polizei missbrauchenden Politik und dann eine ihre Mittel ihrerseits missbrauchenden Polizei zuweilen exklusiv schuld sind, wenn Gewalt geübt wird. Um den unverhältnismäßigen Verbots- und Polizeiaufwand zu rechtfertigen, werden deshalb auch flugs Ordnungswidrigkeiten und gewaltfreie Sitzblockaden zu Gewaltakten aufgepumpt.

"Ordnung" vor Grundgesetz

Eine Woche hat die Polizei im Landkreis zwischen Lüneburg und Gorleben die Herrschaft übernommen. Mit übermächtiger Präsenz versuchte sie, jedweden Protestausdruck zu kontrollieren und den Zusammenschluss von BürgerInnen zu verhindern. Sie beherrschte die Region, verbot oder erlaubte ein Gutteil der Lebensäußerungen von BürgerInnen.

Erster Splitter: Die Allgemeinverfügung der Bezirksregierung Lüneburg vom 10.3.2001, die verfassungsgerichtlich primär aus formalen, dennoch unzureichenden Gründen bestätigt worden ist, schränkte das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit in unzulässiger Weise und ohne ausreichenden Nachweis einer unmittelbaren Gefahr ein.

Insbesondere die Versammlung von x-tausendmal-quer bei Wendisch-Evern hätte nicht von diesem Versammlungsverbot erfasst werden dürfen. Bei konkreter, an Art. 8 GG orientierter Betrachtung der Gleisbesetzung vom 26.3.01 ist festzustellen, dass kein Schaden zu befürchten war. Der vom Komitee beobachtete Ablauf der Demonstration zeigte, dass allenfalls Ordnungswidrigkeiten geschahen: Einmal ein Verstoß gegen die BahnbetriebsOrdnung (Ordnungswidrigkeit) und zum andern ein Verstoß gegen das zuvor selbst geschaffene Demonstrationsverbot (§ 29 VersG). Letzteres Verbot gewährte die Handhabe, um gegen die Demonstranten gemäß § 15 VersG per Auflösung vorzugehen. Die Schiene wurde zur Tabu-Zone erklärt, die Spontandemonstration nicht noch einmal einer neuen Prüfung unterzogen. Eine Abwägung mit Art. 8 GG fand nicht statt. Der Bußgeldtatbestand (!) des § 29 VersG wurde dazu benutzt, das Grundrecht des Art. 8 GG zu beschneiden. Die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten wurde höhergestellt als die Grundrechte (Art. 5, 8 GG); "Sicherheit und Ordnung" wurden schwerer gewichtet als das Grundgesetz.

Die in diesem Zusammenhang bemühten Strafgesetze (§ 315 StGB und § 240 StGB) sind nicht einschlägig. Die Schienenstrecke sollte ausschließlich und nur vom Castor-Zug befahren werden, der sich noch in Frankreich/Süddeutschland befand. Es konnte also niemand "genötigt" werden (§ 240). Ein konkret-gefährlicher Eingriff in den Schienenverkehr schied aus. Hindernisse vorzubereiten ist allein noch nicht strafbar, sondern erst die damit verbundene konkrete Gefährdung von Leib und Leben bzw. vergleichbar wichtiger Rechtsgüter. Derartiges lag nicht vor.

Unverhältnismäßig war es, dass die (friedfertigen) Demonstranten von Wendisch-Evern am 26.3.01 abends nicht nur per Zug nach Lüneburg gebracht wurden, sondern sogar noch mit Bussen nach Soltau, Munster und Schneverdingen, wo sie gegen 23.30 / 24.00 Uhr ausgesetzt wurden. Die Entfernung der Orte von Lüneburg und die Zeit sprechen eindeutig gegen eine Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. Welche Gefahr wurde hier bekämpft? Die einer erneuten friedlichen Demonstration? Es handelte sich um eine Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 GG) und es könnte sich um eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit handeln, wenn man bedenkt, dass diese Demonstranten bei Minustemperaturen in einer fremden Gegend ausgesetzt wurden. Hinzu kommt, dass die betroffenen Menschen von der Polizei belogen worden sind: Vor der Räumung der Blockade war den Demonstrierenden die "Ingewahrsamnahme" angekündigt worden. Menschen mitten in der Nacht auszusetzen, hat damit nichts zu tun. Gedeckt durch das grundrechtlich nicht haltbare Gefahrenabwehrgesetz setzte die Polizei auch die bei einer "Ingewahrsamnahme" noch vorhandenen Rechte außer Kraft: vor allem das Recht, eine richterliche Überprüfung der Freiheitsberaubung zu verlangen.

Zweiter Splitter: Das Versammlungsverbot wurde weitgehend als Betretungsverbot gehandhabt. Jeder Bürger stand ständig unter dem Verdacht (!) demonstrieren zu wollen und somit unter dem Verdacht der Begehung eines Rechtsbruchs. Wo zwei oder mehr Bürger zusammenkamen, galt dies schon als unzulässige Versammlung. Am Sonntag, den 25.3.2001, fuhr ein Traktor mit einer Gulaschkanone, begleitet von circa 20 Leuten auf ein Feld in der Nähe von Splietau. Sie markierten ein Viereck mit gelbem Plastikband weitab von der Straße. Sofort kamen Polizeikräfte, rannten über das Feld und umstellten die Gruppe. Der Einsatzleiter vor Ort verlangte die sofortige Abfahrt. Die Demonstrierenden wiesen darauf hin, dass sie sich mit Genehmigung des Eigentümers auf einem Privatgrundstück befänden. Die Polizei habe kein Recht, dies zu verbieten. Der Einsatzleiter bestand jedoch auf einer Räumung des Feldes. Die Polizei könne nichts zulassen, was als Beginn eines Camps gelten könne. Inzwischen kreiste auch ein Hubschrauber über der Stelle, berittene Polizei eilte hinzu. Ein älterer Mann bot an, dass die Gulaschkanone auf dem Hof eines Bauern aufgebaut werden könne. Während der "Konfliktmanager" auch dazu erst die Zustimmung des Einsatzleiters einholen wollte, verwiesen die anwesenden BürgerInnen darauf, dass sie keine polizeiliche Erlaubnis bräuchten, um von einem Bauern zum Essen eingeladen zu werden.

Dritter Splitter: Der Aufbau von Camps wurde weit über den räumlichen Bereich hinaus verboten, in dem per Allgemeinverfügung jede Demonstration untersagt war. Am Freitag, dem 23. März 2001, wurde der Aufbau von Camps auf Privatgelände bei Tollendorf und Govelin verboten. Die Camps wurden geräumt aus Resignation angesichts einer Übermacht der Staatsgewalt. Letztere interpretierte das als freiwillige Räumung. Bei Schmessau und Köhling entstanden daraufhin zwar neue Camps. Die standen unter der Drohung, geräumt zu werden, wenn sie zu groß würden. Das Camp bei Nahrendorf wurde Montag abend, den 26.3.2001, geräumt. Auch bei Wendisch-Evern durfte lediglich eine mehrtägige Mahnwache stattfinden, nichts aber aufgebaut werden, was einer "Campstruktur" gedient hätte. Immer wieder wurden Autos und Personen daraufhin durchsucht, ob sie Materialien dabei hätten, die dem Aufbau einer Campstruktur dienen könnten. Samstag abend, den 24.3.2001, begegneten BeobachterInnen im sogenannten Kindercamp bei Hitzacker einem jungen Mann, der mit seinem PKW im Verlauf des Tages dreimal kontrolliert worden war. Bei der letzten Kontrolle hatte er schließlich ein mehrtägiges Aufenthaltsverbot für die gesamte Region erhalten. Er hatte Musik-CD´s bei sich, mit denen er zur Unterhaltung auf einem Camp beitragen wollte - folglich hätte er zur Campstruktur beigetragen.

Allenthalben Staats-Gewalt

Vierter Splitter: Immer wieder ging die Polizei in unverhältnismäßiger Weise gegen friedliche BürgerInnen vor. Hervorzuheben ist die Festnahme von Jochen Stay, dem Mit-organisator der explizit gewaltfreien Sitzblockade von X-tausendmal-quer. Wegen der "Hartnäckigkeit", mit der er seit Jahren dieses Ziel verfolgt (vgl. Presseerklärung von BGS und Polizei vom 26.3.2001) wurde er mit der Begründung, er sei der "Rädelsführer", überfallartig während eines Gesprächs mit dem Einsatzleiter vor Ort von einem Sondereinsatzkommando festgenommen. Bis zum Abschluss des Transportes, fast drei Tage, wurde er festgesetzt. Die Sitzblockaden fanden trotzdem statt.

Die Sitzblockade bei Wendisch-Evern am Montag, 26.3.01, an der fast 600 Personen beteiligt waren, wurde mit zum Teil körperverletzenden Eingriffen geräumt. Während die niedersächsischen Einheiten generell die Menschen vom Blockadeort wegtrugen, wandten die gleichzeitig eingesetzten Leipziger Polizeibeamten personenverletzende Griffe an. Beobachtet wurde u.a. ins-Gesicht-drücken, die Nase hochdrücken, an den Haaren ziehen, Handumknicken, Leute auf den Boden drücken.

Am Dienstag, dem 27.3.2001, wurde eine Sitzblockade bei Wendisch-Evern von einer sächsischen Polizeieinheit mit Hilfe eines brutalen Schlagstockeinsatzes geräumt. Zuvor war nicht dazu aufgefordert worden, die Schienen zu räumen, wie im NGefAG vorgesehen. Auch das eingesetzte Zwangsmittel, also der Schlagstock, ist vorher nicht angekündigt worden. Sieben Demonstranten erlitten Platzwunden, ein Schwerverletzter mußte von Sanitätern mit Gehirnerschütterung ins Krankenhaus abtransportiert werden.

Fünfter Splitter: Versammlungen, die polizeilich unter Auflagen "genehmigt" worden waren, wurden unverhältnismäßig unter Druck gesetzt. So verlangte die Polizei von jedem Treckerfahrer bei der "Stunkparade" der Bäuerlichen Notgemeinschaft eine schriftliche Erklärung, dass er die genehmigte Stecke nicht verlässt, keine unerlaubten Aktionen vornimmt und ohne Aufenthalte bis zum Endpunkt fährt. Susanne Kamin von der Bäuerlichen Notgemeinschaft musste als Organisatorin eine gesonderte Erklärung über die "ordnungsgemäße" Abwicklung und pünktliche Beendigung um 17.00 Uhr unterschreiben.

Sechster Splitter: Bei der Auflösung der Versammlung auf der "Esso-Wiese" in Dannenberg am Mittwochabend, dem 28.3.2001, wurde das Versammlungsrecht ausgehebelt. Die Begründung hierfür - Gewalt seitens der Demonstrierenden - greift nicht. Die Polizeiaktion richtete sich eindeutig gegen sich friedlich verhaltende Demonstrierende auf der Wiese. Diese wurden dadurch für das nicht erwiesene Verhalten Dritter bestraft.

Siebter Splitter: Ohne Augenmaß wurde Polizei gegen spontane Versammlungen in der Nähe der Straßentransportstrecke lange vor Beginn des Straßentransportes eingesetzt. Dienstag nachmittag ab 17.00 Uhr wollten - dies war öffentlich angekündigt - Demonstrierende mit Sand gefüllte Säcke auf einem Bauernhof in Splietau abholen. Die Traktoren, die kamen, um die auf Anhängern lagernden Säcke zur "Esso-Wiese" zu transportieren, wurden von der Polizei angehalten und blockierten dadurch die Straße. Andere Demonstrierende holten währenddessen zu Fuß Säcke ab und legten sie auf der Straße nach Splietau ab. Stroh kam hinzu. Demonstrierende ließen sich auf der Straße nieder. Wenige weitere Traktoren fuhren über ein Feld hinzu und wurden sofort von der Polizei umstellt. Die Polizei fuhr von allen Seiten mit Dutzenden von Mannschaftswagen heran. Zwei Wasserwerfer wurden in Position gebracht. Schließlich wurde der Abtransport der Sandsäcke mit den Traktoren "genehmigt". Die querstehenden Traktoren wurden freiwillig zurückgestellt. Nur die auf der Straße Stehenden und Sitzenden mochten nicht freiwillig-gezwungen weichen. Nachdem die Trecker mit den Sandsack-Anhängern an der Seite vorbeigefahren waren, wurde die Versammlung aufgelöst und die Anwendung von 1) "einfacher körperlicher Gewalt", 2) Wasserwerfern, 3) Schlagstock-einsatz in dieser Reihenfolge angedroht. Während die Polizeikette vordrang, wichen die Demonstrierenden auf das Feld zurück.

Auch Dienstag Abend wurde der Spontandemonstration in "sicherer" Ferne vom Verladekran mit nicht begründbarer Härte begegnet. Obwohl der überwiegende Teil der Demonstrierenden sich friedlich verhielt und nur dorthin zog, wo der Transportzug zu erwarten war, wurden gegen die Demonstrierenden Wasserwerfer eingesetzt. Ein Teil dieser Versammlung wurde später eingekesselt. Von wenigen Demonstrierenden sind Leuchtraketen in die Luft geschossen worden, auch Gegenstände waren in Richtung Polizei geflogen. Auf der Wiese hinter dem Wall und südlich auf der Straße nach Nebenstedt kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden. Mit Schlagstock ging die Polizei gegen diese Gruppe vor, dann flogen auch Feuerwerkskörper und andere Gegenstände in Richtung Polizei. Die Wasserwerfer wurden zunächst gegen diesen Teil der Versammlung eingesetzt, dann aber auch gegen diejenigen, die auf dem Wall standen. Auf der Straße wurde daraufhin ein Teil der Versammelten eingekesselt.

Achter Splitter: Polizeiliche Maßnahmen waren zuweilen willkürlich und unberechenbar. Sie wurden mit erfundenen Taten und Zusammenhängen begründet.

Zu den drastischsten Vorkommnissen zählt die Behauptung von Säureangriffen gegen die Polizei. Pünktlich kurz vor den Nachrichten am Abend des 27.3.2001 wurden Polizeibeamte per Lautsprecher in der Umgebung der Pressewagen vor möglichen Essigsäureangriffen gewarnt. Die Nachricht konnte nicht mehr überprüft werden und ging durch alle Medien. Später wurde diese Vermutung mit einem erhöhten Verkauf von Essigsäure im Kreis Lüchow-Dannenberg begründet. Ein Klärwerk hatte wohl tatsächlich aufgrund eines Bakterienproblems größeren Bedarf. Verletzte Polizeibeamte gab es nicht. Das Gerücht hielt sich aber einige Zeit.

Eine Gruppe zumeist Jugendlicher brach Dienstag Vormittag vom Camp bei Nahrendorf auf, um sich an der angemeldeten und bestätigten Mahnwache an einer Straßenkreuzung zu beteiligen. Auf diesem Weg hätten sie die Bahnlinie kreuzen müssen. Bevor sie dorthin kommen konnten, wurden sie gegen 11.30 Uhr von der Polizei gestoppt und eingekesselt. Einzeln wurden sie aus dem Kessel geführt und in einen Gefangenenbus gebracht. Gegen 17.25 Uhr war die bürokratisch euphemistisch genannte "Ingewahrsamnahme" abgeschlossen. Alle wurden in die Strafvollzugsanstalt in Neu Tramm gebracht. Was ihnen vorgeworfen wurde, war im einzelnen nicht zu erfahren. Der fassbarste Vorwurf bestand darin, einzelne in dieser Gruppe seien "vermummt" gewesen (wohlgemerkt: die Polizeileute sind dies, selbst wenn ihre Gesichter zu sehen sind, durchgehend). Erfunden wurde, dass sie die Gleise, die sie noch gar nicht erreicht hatten, beschädigt hätten, oder dass sie sich auf der Straße hingesetzt hätten. Interessant ist auch der Vorwurf, dass die Demonstrierenden, da sie zu mehreren auf dem Weg zu der genehmigten Mahnwache waren, gegen die Allgemeinverfügung verstoßen hätten. So schafft man Ordnungswidrigkeiten und Möglichkeiten zum polizeilichen Eingreifen.

Am Montag wurden südwestlich von Leitstade kurz nach 13.00 Uhr fünf junge Leute aus dem Wald getrieben, kontrolliert, fotografiert, abgetastet, ihre Sachen durchsucht. Der Einsatzleiter erklärte den Jugendlichen, dass sie in Gewahrsam genommen würden, weil an diesem Waldstück die Strecke beschädigt worden sei. Da sie Kartenausschnitte dieses Gebietes dabei hätten, planten sie möglicherweise auch Angriffe auf die Schienen. Vorbeugend würden sie in Gewahrsam genommen.

Dienstags wurde gegen 11.30 Uhr eine Gruppe von 22 jungen Leuten bei Leitstade, ca 250 m von den Schienen entfernt, eingekesselt und dann "in Gewahrsam genommen". Der BGS-Einsatzleiter vor Ort erklärte, sie hätten zwar nichts gemacht, aber er müsse sie mitnehmen, um festzustellen, ob gegen sie Platzverweise bestehen.

Gewaltiger Frieden

Alle unsere Beobachtungssplitter, die wir aus einem großen Haufen von Beobachtungen, hier nur zum Zwecke der Illustration, herausgeklaubt haben, weisen symptomatisch auf das atomenergiepolitische System, das während der sechs Tage der um den Castor-Transport gescharten Aktionen geherrscht hat:

Der aktuelle Gewaltpegel war niedrig. Von den Demonstrierenden ging keine personal adressierte Gewalt aus; auch keine Personen gefährdenden Sachzerstörungen erfolgten. Die Polizei setzte - nahezu allpräsent und fast durchgehend selbst in der Zahl der Personen überlegen - ungleich mehr personal adressierte Gewalt ein: von Wasserwerfern, über Schlagstockeinsatz, hartgriffiges Wegtragen bis zu Festnahmen. Dennoch: auch die direkt ausgeübte polizeiliche Gewalt besaß ein niedriges Profil. Soweit, so gut. Soweit, angesichts des harten Konflikts fast nicht zu erwarten. Ein Lob vor allem den nahezu durchgehend nicht oder nur geringfügig aggressiven Demonstrierenden;

Und doch konnte dieser regional konzentrierte "Atomstaat" (Robert Jungk) erschrecken. Ja, er muss dies anhaltend, auf dringende Abhilfe erpicht, tun. Ein ganzer Landkreis stand unter Polizeikontrolle und in ihm alle BürgerInnen. Letztere waren nur noch im eingeschränkten Maße BürgerInnen, GenießerInnen unmittelbar geltender Grundrechte, politische Wesen, deren politische Teilnahme erwünscht ist (was für ein Aberwitz, dass gegenwärtig eine Enquete-Kommission des Bundestages untersucht, wie mehr BürgerInnen mehr aktiviert werden könnten. Wehe sie tun dies nicht gemäß dem Herrschaftsscheitel). Hinter der weithin abwesenden oder doch geringen aktuellen Gewalt von beiden Seiten stand das durchgehend überlegene Gewaltmonopol polizeirepräsentiert, sozusagen Schlagstock unter der ausgebeulten divers grünen Jacke. Denn der BGS spielte eine große Rolle bis hin zu einigen ab und an Demonstrierende jagenden und kesselnden SEKs, sprich Sondereinsatzkommandos. Fast alles Bürgerliche also unter Kontrolle - das ist es, was Robert Jungk mit seiner Warnung vor dem Atomstaat im Auge hatte. Und dieser hat sich sechs Tage lang von Lüneburg bis Gorleben ereignet. Fast alles im polizeilichen Griff. Nur gut vorbereitete und riskante Einzelaktionen konnten sich diesem umfassenden Griff punktuell entziehen. Das hat die Robin-Wood-Quadriga getan. Sie bestätigte dadurch nur das nicht von ihr zu verantwortende Ende öffentlicher, allgemein zugänglicher Demonstration;

Sind es diese Elemente und Fermente des Atomstaats, die die Asylkompromissler, die die angeblich rotgrün gefärbte Bundesregierung möglichst lang erhalten will? Ohne klar Nein zu sagen; ohne eindeutige Verfahren zu gewährleisten mit bürgerlicher Teilnahme und Transparenz; ohne den BürgerInnen über Zwischen- und Endlager ihr wie, wann und wo reinen Wein einzuschenken. Welch eine zusätzliche Drückebergerei.

Selbst wenn man die atomenergiebezogenen Bedenken der Bürgerinitiativen und vieler engagierter Personen nicht teilte, selbst dann muss die in den endmärzlichen Tagen rund um Lüneburg passierte atomstaatliche Präsentation um der Demokratie und der Grundrechte willen, auch, aber nicht nur, um des Grundrechts auf freie Demonstration halber, alle demokratischen BürgerInnen im demonstrativen Widerstand dagegen vereinen. So nicht, Herr Bundeskanzler und hinter der Polizei geduckte Kabinettsmitglieder!

Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr lehrt Politikwissenschaft an der TU Berlin, Dr. Elke Steven ist Soziologin und arbeitet im Sekretariat des Komitees für Grundrechte und Demokratie.