Grundsatzprogramm und politische Strategie des Sozialismus

PDS-Programmdiskussion: Zum Zusammenhang zwischen einer langfristigen Perspektive und ihrer wissenschaftlich-analytischen Begründung sowie einer auf praktisches Handeln abzielenden Strategie.

Aus: Beilage zu Z 46, Juni 2001, 15-19

In den folgenden Überlegungen will ich das Augenmerk auf ein Problem lenken, daß in der Geschichte sozialistischer Programmatik oftmals an den Rand gedrängt oder gänzlich vernachlässigt worden ist: den Zusammenhang zwischen der langfristigen Perspektive und ihrer wissenschaftlich-analytischen Begründung einerseits, sowie der auf praktisches Handeln heute und morgen abzielenden gesellschaftlichen und politischen Strategie andererseits.

1.

Das klassische Beispiel für das fast völlige Ausblenden dieser Problematik ist das Erfurter Programm von 1891. Einem von Karl Kautsky geschriebenen (scheinbar) streng marxistischem Grundsatzteil folgte ein von Eduard Bernstein verfaßter Katalog politisch-demokratischer und sozialer Reformprojekte, der die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise in keiner Weise antastete. Aussagen über erste Schritte hin zu einer nicht mehr kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung finden sich im Erfurter Programm nicht. Ich muß gestehen, daß mir der Programmentwurf des PDS-Vorstandes - mit allen Einschränkungen gesagt - in dieser Hinsicht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Erfurter Programm zu haben scheint: Neben einer umfassenden, z.T. allerdings sehr allgemein gehaltenen Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft und einer kritischen Schilderung ihrer Entwicklung seit Ende des Zweiten Weltkrieges findet sich im Abschnitt III, "Sozialistische Politik" ein auf sechs Schwerpunkte konzentriertes Gegenwartsprogramm, das so oder in anderen Worten in jedem Programm einer traditionellen sozialdemokratischen Partei stehen könnte oder gestanden hat - ein Text, der auf sehr weit gehende und höchst wünschenswerte Reformen im Kapitalismus hinausläuft, nicht jedoch auf eine grundlegende Veränderung der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Die PDS will aber nach ihrem vielfach bekräftigten Selbstverständnis nicht sozialdemokratisch sein, auch nicht links-sozialdemokratisch, sondern ganz entschieden (links)sozialistisch.

Wie erklärt sich diese merkwürdige Lücke in der Logik des Programmentwurfs? Es gibt eine sehr naheliegende und in der Geschichte der sozialistischen Programmdebatten leider nur allzuoft gebrauchte Denkfigur: Die kapitalismuskritischen und sozialistischen Passagen des Programmtextes seien bloße Rhetorik, hinter der sich eine Art von Verschwörung verberge, um die PDS zu "sozialdemokratisieren" und in die Arme einer Koalition mit der SPD zu führen. Eine solche Argumentation ist aber höchst undproduktiv. Und um ein nahe liegendes Mißverständnis gleich mit auszuräumen: Die da und dort in der PDS umlaufende Denunziation, der Alternativentwurf Balzer, Lieberam, Menzner, Wolf sei Ausdruck einer linkssektiererischen Verschwörung zur Spaltung der PDS, ist meiner Ansicht nach genauso abwegig.

Im übrigen haben die Autoren des Vorstandsentwurfs die hier skizzierte Problematik sehr wohl gesehen. In einem vor einem Jahr erschienenen lesenswerten Aufsatz (Rosa-Luxemburg-Stiftung, Texte 1, Mai 2000) hat Michael Brie zutreffend geschrieben, die PDS müsse entlang der wesentlichen gegenwärtigen "gesellschaftlichen Konfkliktlinien" den politischen Kampf führen und dabei gleichzeitig ihre "politische Identität" wahren; und an anderer Stelle: Die PDS erstrebe eine "produktive Verbindung von Systemopposition und linkssozialistischer Reformpartei". Diese Zielansprache ist zutreffend und gut begründet: Die Rückkehr in frühere Vorstellungen von "sozialistischer Revolution" - Massenbewegungen, politischer Streik, Aufstand, Doppelherrschaft, Zerfall des bürgerlichen Staatsapparats, Errichtung einer Rätedemokratie - ist unmöglich. Solche Vorstellungen sind zumindest für voll entwickelte kapitalistische Gesellschaften durch die geschichtliche Entwicklung überholt. (Bei Mexiko oder Brasilien wäre ich mir da nicht so sicher.) Anders denn als demokratische Reformarbeit ist sozialistische Politik hier und heute nicht mehr möglich. Aber die erstrebte "produktive Verbindung" von prinzipiellem Antikapitalismus und Reformpolitik ist den Verfassern des Vorstandsentwurfs meiner Ansicht nach nicht befriedigend gelungen.

Nicht dass sie nicht versucht hätten, eine solche Verbindung herzustellen. Die zentrale Textstelle, die für dieses Bestreben zeugt, lautet: "Linke Reformpolitik wird ... dann transformatorisch wirken, wenn es gelingt, Reformen für mehr soziale Sicherheit mit solchen (Reformen) zu verbinden, die den Einfluß der Lohnabhängigen erhöhen, die Profitdominanz zurückdrängen, die den dritten Wirtschaftssektor in Kooperation mit kleinen und mittleren Unternehmen stärken und die zu demokratischer Kontrolle der Banken, Versicherungen und Grossunternehmen führen. Einschneidender Wandel kann erreicht werden, wenn es gelingt, die Politik einer sozialen und ökologischen Regulierung zu verpflichten, statt sie profitbestimmten Weltmarktzwängen anzupassen. Dazu gehören weitreichende Rahmensatzungen für den Markt ... usf." (Kap. I, 2.) Etwa ein halbes Dutzend in eine ähnliche Richtung weisender Textstellen - mal mehr, mal weniger konkret - sind über den gesamten Entwurf verstreut. Vergleichbare Stellen finden sich freilich auch in großer Zahl im Berliner Programm der SPD. Der zentrale Abschnitt über "Wirtschaftsdemokratie" im SPD-Programm scheint mir übrigens klarer gegliedert, systematischer aufgebaut, ausführlicher begründet und genauer im konkreten Detail zu sein.

2.

Die entscheidende Schwäche des Vorstandsentwurfs liegt jedoch meiner Meinung nach nicht in erster Linie darin, daß die fraglichen Textteile relativ unsystematisch über den gesamten Entwurf verstreut sind. Natürlich wäre es sinnvoller, wenn alle Ansätze sozialistischer Reformpolitik, die eine "transformatorische Wirkung" (Entwurf) haben oder haben könnten, in einem eigenen Programmteil, einem Transformations- oder Übergangsprogramm, zusammengefaßt würden.

Die hauptsächliche Kritik an den vorhandenen Ansätzen zu einem Programm "systemüberwindender Strukturreformen" richtet sich gegen die nicht zureichende Charakterisierung der kapitalistischen Produktionsweise und der kapitalistischen Gesellschaft. Auch sie wird im Vorstandsentwurf nicht systematisch entwickelt, sondern in einzelnen auf bestimmte Probleme bezogenen Aussagen über den gesamten Text verteilt. Die Kernidee dieser Charakterisierung findet sich in der Kategorie der "Profitdominanz" und der immer wiederkehrenden Rede von der "Macht und den Interessen der Banken, Anlagefonds und Konzerne".

Die entsprechenden kritischen Feststellungen sind natürlich nicht einfach falsch - im Gegenteil: Aber sie treffen nicht den wesentlichen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise. Deren Kern liegt nicht in bestimmten einzelnen Elementen (z.B. Profit, Privateigentum, Kapitalmacht u.ä.), sondern im Gesamtprozeß der Akkumulation und Verwertung des Kapitals. Dieser vollzieht sich im Konkurrenzkampf der Einzelkapitale und ist Gesetzen unterworfen, die sich anonym hinter dem Rücken der Menschen und über ihre Köpfe hinweg durchsetzen - auch über die Köpfe der Kapitalisten und der kapitalistischen Unternehmen hinweg. Die sog. "Profitorientierung" ist nicht eine Einstellung, die das einzelne Unternehmen auch sein lassen könnte. Wer in der Konkurrenz nicht nach dem höchstmöglichen Profit strebt, kommt unter den Schlitten. Das gilt auch und gerade für die großen Banken, Versicherungen, Fonds und Produktionsunternehmen. Wenn deren Vorstände die Gesetze der Kapitalverwertung mißachten - und die Dividende sinkt oder gänzlich ausfällt, dann fliegt der Manager genauso auf die Straße wie der wegrationalisierte Arbeiter: nur daß er natürlich auf einem wesentlich komfortableren Polster landet als der arbeitslose Arbeitnehmer oder die Pleite gegangene kleine Selbständige.

Das Gejammer eines abgehalfterten Managers wie des ehemaligen Daimler-Benz-Chefs Edzard Reuter über den sog. "Shareholder-Kapitalismus" geht an der Realität der kapitalistischen Wirtschaft völlig vorbei. Der Shareholder-Kapitalismus ist keine Fehlentwicklung des "eigentlichen" (d.h. produktiven und sozialen) Kapitalismus, sondern ist die kapitalistische Produktionsweise in ihrer reinsten Gestalt, der Gestalt, die Marx vor 150 Jahren analysiert hat. Nach ihr ist der Prozeß der Kapitalakkumulation ein "Selbstzweck"; seine Bewegung ist aber "maßlos" (MEW 23, 167; MEW 25, 260).

Die Begrifflichkeit und die Analysen des Vorstandsentwurfs verfehlen insofern den Grundcharakter der kapitalistischen Produktionsweise (leider gilt das auch für einen grossen Teil der sich selbst als "links" und "marxistisch" verstehenden Kritik am Vorstandsentwurf). Sie alle erwecken die Illusion, die grossen Unternehmen seien die Herren des Kapitalismus und wenn man sie kontrolliere, erreichte man auch eine demokratische Kontrolle über den Kapitalismus. In Wirklichkeit aber sind Deutsche Bank, Allianz, Telekom, Daimler/Chrysler und alle die anderen allenfalls Herren im Kapitalismus. Sie schaffen nicht die Gesetze und bestimmen nicht die Regeln, nach denen sie konkurrieren und fusionieren, investieren und produzieren, sondern diese werden ihnen durch die Logik der anonymen Kapitalbewegung aufgenötigt. Wenn an einer Stelle des Vorstandsentwurfs von den "sogenannten Sachzwängen" gesagt wird: "Es sind Zwänge, die sich aus der Übermacht der einen und der relativen Machtlosigkeit der anderen ergeben" so ist das ein grundlegender Irrtum. Nicht die Herrschaft einer Menschengruppe über eine andere ist das Problem, sondern die Dominanz der Kapitallogik über alle Menschen.

Wer mit politischen Mitteln in diese Logik eingreift, muß eine andere Logik an ihre Stelle setzen, und diese Logik der gesellschaftlichen Prioritätensetzung muß rational, nachvollziehbar und gerecht sein, sonst endet sie in einem unüberschaubaren Dschungel von willkürlichen Subventionen, einer Brutstätte von Cliquenwirtschaft und Korruption. Die Formel von den "marktkonformen Instrumenten", die "neue volkswirtschaftliche Rahmenbedingungen" schaffen, verschleiert nur das wirkliche Problem: Wenn in gesellschaftlich unerwünschten Produktionszweigen oder Dienstleistungsbranchen die erzielbare Kapitalrendite durch Eingriffe von aussen dermassen verringert wird, dass das Kapital sich zurückzieht, erhebt sich wieder die Frage nach der Logik, die diese Eingriffe rational und durchschaubar macht. Die vieldiskutierte Eigentumsfrage löst das Problem ebenfalls nicht. Auch öffentliche Kapitalgeber (im Grunde gerade sie) müssen Rechenschaft über die gesellschaftliche Vernunft ihres Engagements geben. Darüberhinaus muss eine neue an sozialen und ökologischen Zielen orientierte Regulationsweise der (Markt-)Wirtschaft spezielle Mittel zur Beeinflussung der Kapitalbewegung einsetzen bzw. entwickeln: Tobinsteuer, Kapitalverkehrskontrollen, Öffentlichkeit der Steuererklärungen (gibt es in Schweden schon). Ausserdem müsste ein abgegrenzter Raum definiert werden, in dem diese neue Regulationsweise institutionalisiert wird. Der Nationalstaat ist dafür nicht mehr geeignet; nur ein demokratisch verfasstes Europa käme dafür infrage.

Fragen über Fragen, auf die derzeit keine sozialistische Strömung befriedigende Antworten hat. Der Aus- oder Rückweg in die durchgeplante bürokratische Staatswirtschaft ist uns nach den Erfahrungen mit dem sowjetischen Modell verschlossen. Das Projekt der Wirtschaftsdemokratie weist in die richtige Richtung. Und auf lokaler, regionaler oder sogar nationaler Ebene lassen sich demokratisch kontrollierte Wirtschaftskreisläufe denken. Aber die Probleme der weltweit agierenden Grossunternehmen, der "Global Players", sind theoretisch ungelöst. Die Gefahr besteht, sich durch schön klingende, allgemeine und ungenügend konkretisierte Programmformeln über diese Problematik hinwegzutäuschen.