Bildung, Wissen, Kultur

Der PDS-Programmentwurf enthält wenig, was dem Begriff der "Vergesellschaftung" entspricht.

Aus: Z 46, Juni 2001, 35-39

1.

Neben zum Teil mißverständlichen Begriffen und Formulierungen scheint mir ein Grundproblem des gesamten Entwurfs zu sein, daß er wenig enthält, was dem Begriff der ‚Vergesellschaftung' entspricht. In vielen Formulierungen scheint es, daß sich der Entwurf die heute gängige negative Identifikation von Verstaatlichung und Vergesellschaftung zu eigen macht. Hier zeigt sich der dringende Bedarf der Linken, eine umfassende Diskussion um die Rolle des Staates zu führen - sowohl für die Vergangenheit des 20. Jahrhunderts in bezug auf beide Systeme als auch für Gegenwart und Zukunft. Bei dieser Diskussion wäre der Begriff der ‚Vergesellschaftung' aus der Erstarrung zu befreien, in die er durch seine tatsächliche Identifizierung mit ‚Verstaatlichung' im Realsozialismus versetzt worden war. Der Realsozialismus ist jedoch gerade daran gescheitert, daß zwar allumfassend verstaatlicht, aber kaum vergesellschaftet wurde. Wer die heute bestenfalls als embryonal zu bezeichnende Demokratie radikalisieren, d.h. reale Demokratie erst verwirklichen will, kann auf eine Neudefinition von ‚Vergesellschaftung' in Theorie und Praxis nicht verzichten.

Wieviel Staat Voraussetzung für gesellschaftliche Kontrolle und Teilhabe im einzelnen notwendig ist, wäre in der Analyse der jeweils konkreten historischen Situationen zu ermitteln, und die Realisierung ist nicht zuletzt von Kräfteverhältnissen abhängig. Ein Irrtum ist, daß der Begriff der ‚Vergesellschaftung' problemlos durch ‚Zivilgesellschaft' ersetzt werden kann, besonders wenn letztere nicht präzise definiert wird. Im heute landläufigen Sinne bedeutet ‚Zivilgesellschaft'' nichts anderes als die - weitgehend fiktive - Gemeinschaft der gebildeten und verantwortungsbewußten Teile der Gesellschaft, die in ehrenamtlichen Initiativen sowohl gegen Verrohung von anderen Teilen der Gesellschaft, vielleicht auch des Staates, anzugehen sucht.

Eine weitere Unschärfe betrifft den ebenfalls mehrmals verwendeten Begriff ‚libertär'. Es bleibt unklar, ob damit die Ermutigung und Unterstützung von gesellschaftlich tatsächlich unverzichtbaren, unbezähmbaren und unintegrierbaren Traditionen des Widerstands gemeint ist (die sich allerdings auch und gerade außerhalb der Parteien entwickeln), oder ob wir damit in jene Grauzone geführt werden können, in der ‚Freiheit' plötzlich doch mehr Freiheit für Unternehmer bedeutet als für diejenigen, die außer ihrer Arbeitskraft nichts auf den Markt bringen können. Daß dies kein verstaubter Streit nur zwischen Marx/Engels und Stirner war, zeigt eigentlich die Entwicklung großer Teile der Grünen Partei oder anderer Zweige der sogenannten Achtundsechziger.

Eine weitere Schwäche des Entwurfs ist, daß er zwar viele wünschenswerte Zielvorstellungen enthält, sich aber in Bezug auf den institutionellen Wandel, der in die Wege geleitet werden müßte, um diesem näher zu kommen, nicht genügend äußert. Außer auf die SPD fehlt jeder Hinweis auf mögliche Mit-Akteure.

Nicht nur eine Linkspartei vergäbe sich viel Handlungsspielraum, wenn sie andere Parteien als mögliche Koalitionspartner bereits in ihrem Programm benennt. Es ist politisch wesentlich effizienter, Akteure und Bündnispartner soziologisch zu bestimmen und ihnen programmatische Angebote zu machen. Der größte durch die unzeitgemäße Nennung der SPD als gewünschter Bündnispartner ausgelöste Fehler ist die damit suggerierte Begrenzung des politischen Aktionsraumes auf das gegenwärtige Parteiensystem. Damit würde die allgemeine Wahlmüdigkeit zweifelsohne auch bald der PDS Schaden zufügen.

2.

Als Versuch, den wolfsgesellschaftlichen Zustand der Menschheit zu überwinden, ist der Sozialismus des 20. Jahrhunderts gescheitert. Die jetzige Verallgemeinerung des Kampfes aller gegen alle - wobei ein Zehntel der Menschheit die wesentlich günstigeren Voraussetzungen besitzt - entspricht der menschlichen Natur möglicherweise besser. Aber Zivilisation ist das nicht. Wenn es der Menschheit nicht gelingt, die Gesetzlichkeiten des Reiches des Natur zu überwinden und mittels eines höheren Bewußtseins eine Zivilisation zu entwickeln, in der gerade auch die Schwachen Platz und Würde gewinnen, wird sie untergehen wie bisher alle im Reich der Natur verbliebenen Systeme. Das bedeutet indes nicht nur eine Aufgabenstellung für die bereits bestehenden Eliten in Kultur und Politik, sondern braucht die Einbeziehung derer, die bislang vor allem Objekte von Politik und Erziehung gewesen sind.

Die zentrale Bedeutung der Kultur wird daraus ersichtlich, daß herrschende gesellschaftliche Gruppen bislang immer nicht nur ihre Repräsentanz, sondern auch ihre Ziele mit kulturellen Mitteln, z.B. der Architektur, darzustellen suchten. Obwohl sie stets über die weitaus meisten Mittel verfügten, Repräsentanz und Ziele in kulturelle Zeichen und Symbole mit großem gesellschaftlichen Einfluß zu verwandeln, hat es stets auch andere kulturelle Bereiche gegeben, in denen sich Differenz oder auch Widerstand ausdrückte. Das Kulturkonzept der Sozialdemokratie kam nie weiter, als eine - weitgehend passive -Teilhabe der Arbeitenden an der offiziellen Kultur einzufordern und teilweise auch einzulösen. Ein richtiger Gedanke bedeutender Teile der kommunistischen Richtung der Arbeiterbewegung war indes, daß radikale Demokratisierung die Einbeziehung und Aktivierung möglichst vieler Menschen in kulturellen Strategien erfordert. Nur der Sektor der kulturellen Selbstaktivität ist der Ort, wo die Menschen Planspiele für ihre Zukunft anstellen und u.a. auch Strategien gesellschaftlicher Solidarität entwickeln können, d.h. heutzutage: Überlebenskonzepte der Menschheit.

Mit Ausnahme der Zeit des Faschismus hatte die Arbeiterbewegung in Deutschland im 20. Jahrhundert Bedingungen erreicht, daß auch in kleinen Orten Strukturen entstehen konnten, in denen in unterschiedlichem Ausmaß selbstbestimmte kulturelle Aktivitäten der Menschen möglich waren. Allein die Existenz dieser soziokulturellen Strukturen hat Einfluß auf Inhalt und Form der sogenannten Hochkultur gehabt, diese zum Teil erheblich humanisiert und demokratisiert. Dies trifft auch für beide Teile Deutschlands in der zweiten Jahrhunderthälfte zu.

Hinsichtlich der DDR muß allerdings gesagt sein, daß der Effekt gesellschaftlicher Zukunftsspiele auf dem Gebiet der Kultur weitaus fruchtbarer gewesen wäre, wenn diese weniger staatlich bevormundet, d.h. wenn sie wirklich vergesellschaftet gewesen wäre. Verbote hinsichtlich der Aktivitäten des kulturellen Sektors sind nur gegenüber faschistischen, rassistischen, sexistischen und gewaltheischenden Inhalten gerechtfertigt. In der Bundesrepublik war die letztlich begrenzte und doch nicht zu unterschätzende Wirksamkeit dieser Strukturen eigentlich nur durch die Begrenzung der finanziellen Unterstützungen vorgegeben. Es bleibt aber festzuhalten, daß ein Teil der soziokulturellen Einrichtungen der alten Bundesrepublik genügend Attraktivität besaßen, um auch Anziehungskraft auf bürgerliche Schichten auszuüben. Und auch heutzutage sind es eher die vernachlässigten baulichen Gegebenheiten als das eigentliche kulturelle Angebot, das die verbliebenen Reste der Soziokultur als ein Freizeitrefugium der Armen erscheinen läßt.

Daß ein Großteil der soziokulturellen Einrichtungen seit der Wende von 1989 dem angeblich objektiv notwendigen Sparzwang zum Opfer fielen, muß als Bestandteil des umfassenden Restaurationsprozesses verstanden werden. Damit wurde bereits eine ganze Generation Jugendlicher an eigenen kulturellen Aktivitäten behindert und zu passiven Kulturkonsumenten degradiert. Wenn von aktiven kulturellen Aktivitäten immer weniger die Rede sein kann, richtet sich auch der passive Kulturkonsum mehr und mehr nur nach den Möglichkeiten des Geldbeutels. Der von wenigen großen Privatkonzernen finanzierte und inhaltlich bestimmte kommerzielle Kulturbereich wird immer größer, was nicht nur kulturelle Vielfalt, sondern eben auch kulturelle Selbstbestimmung stets schwerer macht.

Eine linke Partei dürfte sich nicht wundern, daß es ihr nicht gelingt, die Akteure zukünftigen gesellschaftlichen Wandels auszumachen, wenn die soziokulturellen Strukturen, d.h. die eigentlichen Strukturen der gesellschaftlichen Diskussion, weggebrochen sind. So wichtig für linke Organisationen das Internet ist, es kann die direkte gesellschaftliche Kommunikation nur ergänzen, keinesfalls ersetzen. Im künftigen Programm genügt es daher nicht, dieses Wegbrechen des soziokulturellen Sektors zu bedauern, ohne seine eigentliche Bedeutung hervorzuheben. Er ist eben nicht nur der Ort, in der Freizeit verbracht wird bzw. verbracht werden könnte. In Wirklichkeit ist das Wiedererstarken der soziokulturellen Strukturen die Voraussetzung, daß überhaupt erst wieder gesellschaftliche Diskussionen und Aktivitäten möglich werden, in der auch linke Politik Inhalt und Akteure findet. Gegenwärtig wächst unaufhörlich die Tendenz, daß kulturelle Produktion nur noch warenförmig, aber immer weniger als gesellschaftliches Planspiel stattfindet. Um sich überhaupt wieder einen politischen Raum zu schaffen, muß die Linke eine Umkehr dieser Tendenz erreichen.

3.

Ein Parteiprogramm muß nicht, wie der Entwurf es versucht, zu aktuellen Modethemen der Medien Stellung nehmen (wie das Klonen, die Gentechnik). Viel wichtiger ist es, die Strukturen zu benennen und einzufordern, die eine wirkliche gesellschaftliche Diskussion von Themen der Zeit (die nicht nur die sind, die die Medien gerade behandeln) überhaupt erst möglich machen. Es genügt nicht, "jenseits der früheren Verstaatlichung öffentlicher Bildungs- und Kulturangebote und der neuen neoliberalen Privatisierungsoffensive" einen "neuen dritten Sektor selbstverwalteter Organisationen von Wissenschaft und Kultur, Bildung und Freizeit" zu fordern, wenn Umfang und Bedeutung dieses Sektors nicht deutlicher gemacht werden: er müßte möglichst bald der größte werden. Auch genügt die Forderung weitgehender Selbstverwaltung dieser Strukturen nicht. Wenn sie wirklichen Einfluß gewinnen sollen, benötigen sie einen Umfang öffentlicher Finanzierung, der natürlich gesellschaftlicher Kontrolle bedarf, wenn auch nicht auf die Weise, wie das einst in der DDR geschehen ist.

Nicht zuletzt wird allein die künftige Vermehrung der soziokulturellen Einrichtungen gerade auch in kleinen Ortschaften ihrer gegenwärtig zu beobachtenden abendlichen Verödung entgegenwirken, die ja Vorschub der Besetzung öffentlicher Räume durch neofaschistische Banden leistet. Denn wenn das Entstehen ghettoisierter, einander möglicherweise feindlich gegenüberstehender Kulturräume verhindert werden soll, genügt es nicht, die "Pluralität von Lebensstilen und Kulturen der verschiedenen sozialen, ethnischen und regionalen Gruppen" zu "wahren". Sie müssen auch das Recht haben, sich zu entwickeln. Aber damit ein zukunftsfähiges Gemeinwesen entsteht, genügt es auch nicht, ihnen das Recht auf Entwicklung aus eigener Schwerkraft zuzugestehen, sie müssen die Möglichkeit und Verpflichtung bekommen, sich in bezug auf das gesamte Gemeinwesen zu begreifen und zu entwickeln. Auch die notwendigen interkulturellen Begegnungen einer künftigen Bürgerschaft werden nur in großzügig ausgelegten soziokulturellen Einrichtungen zustandekommen.

Aus meiner Sicht kann auch das immer dringlicher werdende Problem der gesellschaftlich unkontrollierten Entwicklung der Wissenschaften nur gelöst werden, wenn möglichst viele Bürger genügend kritische Kompetenz besitzen. Eine solche Mitsprachekompetenz kann nur in öffentlichen Bibliotheken, Bildungsstätten, Diskussions- und Experimentierräumen entstehen. Gerade auch in Bezug auf die Zukunft von Bildung und Wissenschaft wäre sowohl die Rolle des Staates als auch die Rolle gesellschaftlicher Kontrolle genau zu bestimmen. Der Wunsch nach einem vielfältiger gegliederten und auch Begabtenförderung einschließenden Bildungssystem setzt keineswegs die Entstehung privater Eliteschulen voraus. Auch wenn von wohlhabenderen Eltern ein finanzieller Beitrag für die Ausbildung ihrer Kinder verlangt werden kann, muß das Gesamtsystem in weitaus höherem Maße als heute Chancengleichheit für alle garantieren.