Leben nutzen, Leben schützen?

Probleme und Chancen kritischer Argumentationen

In diesem Sommer streitet man in den Feuilletons um ein besonderes Objekt: den menschlichen Embryo.

Aktueller Anlass sind die politischen Auseinandersetzungen um die beabsichtigte Revision des 1990 verabschiedeten Embryonenschutzgesetzes.1 Dass der Gegenstand dieser Debatten - der Embryo - historisch erst vor relativ kurzer Zeit als Objekt von Wissenschaft, Politik wie auch im Erleben der schwangeren Frau "sichtbar" geworden ist, haben feministische Wissenschaftlerinnen bereits vor einigen Jahren in diskursanalytischen Studien nachgewiesen. Sie kritisieren die Konstruktion des Fötus bzw. des Embryos als menschliches Subjekt in Rechtsprechung, in medizinischen Praktiken der Schwangerschaftsvorsorge und im Kontext von Reproduktionstechnologien. Der Fötus sei, so die Bilanz der Kritik, ein Produkt, das erst im Diskurs als "natürlich" kreiert werde. So bezeichnete Vera Bayer das "Schutzgut Embryo" als "Hauptdarsteller" des Embryonenschutzgesetzes, dessen öffentliche Auftritte sich 1990 vervielfältigt hätten.2 Und Barbara Duden nannte "dieses Leben" ein "grammatikalisches Subjekt".3 Letztere hatte in historischen Vergleichsstudien gezeigt, wie der Fötus der schwangeren Frau z.B. vermittels Ultraschall unabhängig von ihrem eigenen Empfinden als wissenschaftliche Tatsache gegenübertritt. Die Reduktion der Schwangeren auf ein "fötales Umfeld" 4 im Rahmen reproduktionsmedizinischer Diskurse wurde ebenso zum Gegenstand feministischer Kritik wie die Tatsache, dass der Embryo im 1990 verabschiedeten Embryonenschutzgesetz zum eigenständigen Rechtssubjekt erklärt wurde.5 Auch der § 218 StGB konstruiert Mutter und Fötus bekanntlich als zwei Grundrechtsträger im Interessenkonflikt. Dieser vermeintliche Interessenkonflikt zwischen Frau und Embryo aber, so die feministische Kritik, setze eine Konstruktion vom Fötus bzw. Embryo als "Leben" unabhängig vom Frauenkörper voraus.

Ein faktisches Rechtssubjekt?

Im Sommer 2001 ist die Konstruktion Embryo wiederum in ganz besonderer Weise Protagonistin gesellschaftspolitischer Inszenierungen. Sie soll, glaubt man z.B. der DFG, dabei helfen, höhere Lebenserwartungen und Lebensqualitäten zu produzieren.6 Offensichtlich aber geht es, hört man auf den Bundeskanzler und sein Ideal einer "Ethik der Ökonomie", auch um die Gewährung von Forschungsfreiheiten, die im Rahmen der neoliberalen Globalisierung Standortinteressen absichern und Profite ermöglichen sollen. Aus eben dieser umfassenden "Ökonomisierung des Sozialen"7, die im Kontext von Embryonenforschung einmal mehr die Körpergrenze überschreitet, speisen sich die grundlegenden Befürchtungen auf Seiten der KritikerInnen von verbrauchender Embryonenforschung und Präimplantationsdiagnostik: Fällt das Embryonenschutzgesetz, so sei spätestens dann einer Verwertungslogik, die vor den Grenzen des Körperinneren keinen Halt macht, Tür und Tor geöffnet.
Diese politisch berechtigte Befürchtung kann dazu führen, dass angesichts des systematischen "Verbrauchs" von Embryonen ihr "Schutz" eingefordert wird. Aber eine solche Argumentation hat ihre Tücken. Denn die eigentlich konträren Forderungen "Verbrauch" und "Schutz" haben ihren gemeinsamen Nenner in der Fokussierung auf den Embryo. Provokativ wäre zu fragen, wie sich eine fiktive "Tatsache" schützen lässt, ohne dass über kurz oder lang sowohl das Adjektiv "fiktiv" als auch die Anführungsstriche verschwinden und der Embryo einmal mehr als faktisches Rechtssubjekt festgeschrieben wird. Geht man von der Schutzbedürftigkeit des Embryos aus, dann ist es nicht gerade einfach, gegen wertkonservative Lebensschutzmodelle zu argumentieren, die die Abtreibung der "Potenzialität Mensch" als Tötung von Leben oder Mord anklagen. Folgerichtiger scheint dann eine Argumentation wie die des Philosophen Spaemann zu sein, der im Zusammenhang mit therapeutischem Klonen davon spricht, dass Embryonen "getötet" würden.8 Aus feministischer Perspektive liegt es nahe, der in Bezug auf Schwangerschaftsabbruch unangenehmen Konsequenz aus einer solchen Argumentation mit dem Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren Körper zu begegnen. Steht dieses Selbstbestimmungsrecht aber über dem Schutzrecht des Embryos, so handelt es sich kaum um einen wirksamen Schutz.9 Denn Frauen könnten sich durchaus auch im Namen der "Selbstbestimmung", aus welchen Gründen auch immer, entscheiden, ihre "Körpersubstanzen" für verbrauchende Embryonen-Forschung herzugeben. Zudem eröffnet die Anrufung des Selbstbestimmungsideals eine Reihe von Dilemmata, von denen ich drei zentrale kurz skizzieren möchte.

Dilemmata

So weisen zum Beispiel Autorinnen des Frauen-Forums ReproKult darauf hin, dass es Feministinnen gelungen sei, die Diskussion über die Fortpflanzungsmedizin und die Stammzellforschung über die alten politischen Gräben, also zwischen "konservativen Lebensschützern" einerseits und "fortschrittsgläubigen Dammbrechern" andererseits zu führen. Sie stellen fest: "Wer für die freie Wahl weiblicher Lebensentwürfe eintritt, muss den von der biomedizinischen Forschung vorgegebenen Weg noch lange nicht mitgehen." 10 Aber führt der Verweis auf die "freie Wahl" wirklich auf einen dritten Weg, jenseits der benannten Gräben? Wie schwierig ein solcher Verweis ist, problematisieren die Autorinnen im nächsten Satz selbst, wenn sie feststellen, dass sich der unmittelbare Bezug auf die Wahlfreiheit der Frau verbiete, da Optionen der Lebensführung von Frauen "durch die nach wie vor patriarchal gestalteten Bedingungen begrenzt" seien. Die aktive Beteiligung nicht weniger Frauen an diesen Bedingungen könnte aber in einer Perspektive leicht aus dem Blick geraten, die Frauen als klar abgrenzbare Gruppe darstellt, auf die "das Patriarchat" von außen trifft. Die Forderung nach der "Einbeziehung des sozialen Kontextes" ist in diesem Zusammenhang wichtig, aber sie macht die Sache nicht unbedingt einfacher. Denn auch gesellschaftliche Institutionen wie beispielsweise die Biomedizin gestalten und produzieren soziale Kontexte und Möglichkeiten von Lebensentwürfen mit. Wie sich das Ideal von "Selbstbestimmung", das ja unmittelbar auf die Figur des autonomen Subjektes rekurriert, einerseits und "patriarchale" (rassistische, klassenspezifische, nationalistische, eugenische) Ideologieproduktionen andererseits zueinander verhalten, kann durch eine einfache Anrufung des Selbstbestimmungsideals nicht ausreichend geklärt werden.

Die Schwierigkeit, angesichts der benannten Polarisierung der Debatte eine alternative Position zu formulieren, wird durch die Bezugnahme auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau zweitens deshalb nicht kleiner, weil es nicht allgemeine Herrschaftsverfahren sind, die (weibliche) Subjekte unterwerfen, die sich dann auf ihre individuelle Freiheit berufen können, um sich gegen diese Unterwerfung zur Wehr zu setzen. Verfahren wie etwa Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik zum Beispiel funktionieren entlang explizit selektiver Logiken; d.h. es geht um die Aussonderung bestimmter als "krank" definierter Merkmale und "MerkmalsträgerInnen". Solche selektiven Logiken können durchaus unabhängig oder sogar gegenläufig zu "patriarchalen" Logiken arbeiten. Wieso sollten sich die Wünsche individueller Frauen und eugenisch-normative Gesundheitsvorstellungen und -praktiken ausschließen?11 Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall - nicht zuletzt der "Nachfragedruck" schwangerer Frauen außerhalb der so genannten Risikogruppen hat mit zur massiven Ausweitung von Pränataldiagnostik in den letzen 25 Jahren beigetragen.12

Drittens schließlich liegt jeder Anrufung von weiblicher Selbstbestimmung die Konstruktion einer kollektiven Identität "Frau" zugrunde. Jede Identitätspolitik wiederum läuft Gefahr, potenziell wichtige Differenzen innerhalb der bezeichneten Gruppe verschwinden zu lassen. Berechtigterweise betonen Feministinnen im Kontext der Debatte um Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik zum Beispiel, dass die Entscheidung für ein behindertes Kind ein "Armutsrisiko" für Frauen darstelle.13 Aber dieses "Risiko" verteilt sich gerade unter den Bedingungen einer neoliberalen sozialpolitischen Steuerung immer deutlicher entlang sozialer Klassendifferenzen. Eine ausschließliche Fokussierung der Perspektive auf die Kategorie Geschlecht könnte dazu führen, dass z.B. Klassenunterschiede als weniger bedeutsam erscheinen, was wiederum die Schwierigkeit erhöht, den Zusammenhang von Biomedizin und Neoliberalismus in der politischen Debatte sichtbar zu machen. Auch erscheint es mir schlechterdings unmöglich allgemeine Aussagen darüber zu treffen, ob Pränataldiagnostik oder Präimplantationsdiagnostik für Frauen schlimmer ist. Lässt sich wirklich so grundsätzlich feststellen, dass "die Situation eines Abbruchs [Â…] in unvergleichlicher Weise die körperliche Integrität und Selbstbestimmung der Frau" 14 berührt, oder hängt der Grad der "Berührung" nicht vielmehr in gravierender Weise eben vom sozialen Kontext ab - z.B. davon, inwieweit Schwangerschaft, Fruchtbarkeit und "Frausein" diskursiv in eins gesetzt werden? Natürlich ist es schwierig, in politische Forderungen alle denkbaren Differenzierungen einfließen zu lassen. Dennoch erscheint es mir wichtig genau zu klären, von wem und für wen gesprochen wird, wenn von "der Frau" bzw. "jeder Frau" die Rede ist.

Konventionelle Weiblichkeitskonstruktionen

Gerade vor dem Hintergrund der seit einigen Jahren geführten Debatte um die soziale Konstruktion von Geschlecht, der sog. Gender-Debatte, eröffnen sich weitere Fragestellungen. Petra Gehring weist im Zusammenhang mit feministischen Argumentationen gegen biomedizinische Reproduktionstechnologien darauf hin, dass feministische Positionen mit wertkonservativen Argumentationen potenziell übereinstimmen, wenn jene sich auf die heteronormative, vermeintlich biologisch abgesicherte zweigeschlechtliche Ordnung berufen.15 Gehring bezieht sich auf den im Frühjahr 2000 von der damaligen Gesundheitsministerin Fischer einberufenen Berliner Kongress Fortpflanzungsmedizin in Deutschland. Dort hatten Teilnehmerinnen ihre Besorgnis zum Ausdruck gebracht, so Gehring, über "die Identität, die Überschaubarkeit und namentlich die "Ungeteiltheit" von Mutterschaft und Vaterschaft, im Kern: die Grundstruktur der traditionellen "Familie"" - wobei "Familie" als genetisch konstituiert gedacht worden sei. Nimmt man aber die Rede von der sozialen Konstruiertheit des biologischen Geschlechtes ernst, dann ist die Tatsache, dass bestimmte Reproduktionstechnologien die Deckungsgleichheit von sozialen und biologischen Familienverhältnissen z.B. durch Ei- oder Samenspende unterlaufen, m.E. das Einzige, was es aus feministischer wie gesellschaftskritischer Perspektiven an diesen Techniken nicht zu kritisieren gilt. Der Fokus der Kritik sollte deshalb anderes skandalisieren: dass Reproduktionsmedizin nicht auf das Leiden an der unerfüllten Kinderlosigkeit, sondern auf die Kinderlosigkeit als solche fokussiert ist - und damit konventionelle Weiblichkeitskonstruktionen und genealogische Verwandtschaftsmythen restauriert, in deren Rahmen ungewollte Kinderlosigkeit als schwer wiegender individueller Defekt pathologisiert wird.

Wenn schon die Abgrenzung fortschrittlicher Biomedizin-Kritik zu wertkonservativen Positionen ziemlich kompliziert ist, so verhält es sich mit der Abgrenzung zu hegemonialen Bioethik-Konzepten nicht anders - Bioethik hier verstanden im Sinne einer Medizin-Ethik, der die Funktion zukommt, neue Technologien in Biologie und Medizin gesellschaftlich zu legitimieren.16 Die wertkonservative Idee, wonach Leben schon mit der befruchteten Eizelle beginne und deswegen heilig sei, ist eine gängige Abgrenzungsleitlinie in der Argumentation von Bioethik-Experten. Gerne weisen sie darauf hin, dass - siehe Abtreibung - ungeborenes Leben sowieso nicht in jedem Fall schützenswert sei. Dabei geht es nicht nur um Stammzellforschung und Klone. Auch in den Debatten um Sterbehilfe und Forschung an sogenannten "nicht-einwilligungsfähigen" Personen, anenzephalen Neugeborenen und Koma-PatientInnen weisen gerade Ethiker, die mit Positionen des umstrittenen Australiers Peter Singer sympathisieren, mit Vorliebe auf die Abtreibungsdebatte hin: Wenn der Embryo kein Leben ist, so die Argumentation, warum soll er dann nicht zu Forschungszwecken eingesetzt werden? Gerade weil Bioethiker bisweilen so genüßsslich auf die Abtreibungsfrage verweisen um für die Abschaffung des uneingeschränkten Lebensrechtes zu argumentieren, könnten sich (feministische) KritikerInnen gezwungen sehen, ihre Differenz zu bioethischen Zielen deutlich zu machen, indem sie wiederum auf den Schutz des Embryos bestehen. Aber ist es tatsächlich notwendig, den Embryo als Schutzobjekt zu konstruieren, um bioethischen Logiken und Praktiken Einhalt zu gebieten?

Abschied von der Universalität des Rechts auf Leben?

Dazu sei ein Fallbeispiel befragt. Der Rechtsphilosoph Norbert Hoerster äußert sich an verschiedenen Stellen zur Frage der Unverfügbarkeit des Lebensrechtes; sehr prägnant in einem 1996 erschienenen Aufsatz.17 Aus der "Tatsache", dass es in unserer Gesellschaft schon längst, durch den Abtreibungsparagraphen festgelegt, menschliches Leben ohne eigenständiges Lebensrecht gebe, entwickelt Hoerster hier eine Art Zwei-Klassen-System mit "Menschen", die vermittels eines "Überlebensinteresses" über ein eigenständiges Lebensrecht verfügen und "menschlichen Individuen", die dies nicht tun. Dies sind Föten und extrem Frühgeborene, allerdings weist Hoerster explizit darauf hin, dass es durchaus auch geborene Kinder ohne wirkliches Überlebensinteresse, folglich ohne eigentliches Lebensrecht gibt - eine genaue Abgrenzung zu den eigenständigen Lebensrechtsubjekten sei aber schwierig, weswegen er "aus Sicherheitsgründen" die Festlegung der Geburt als Grenze für die Zusprechung von Lebensrecht favorisiert. Wie sehr mit diesem Denken eine totalitäre eugenische Zukunft projiziert wird, zeigt folgende Äußerung Hoersters zu Pränataldiagnostik: "Man nützt niemandem, am wenigsten den heute lebenden Kranken und Behinderten selbst, wenn man das Ziel möglichst gesunder künftiger Generationen als illegitimen Eingriff in die "Schöpfung" zu verteufeln sucht. Mit derselben Begründung könnte man Maßnahmen zur Bekämpfung von Flutkatastrophen als Eingriffe in die "Schöpfung" ablehnen."

Ziel dieser Argumentation ist es, eine prinzipielle Fragmentierung der Gruppe von Lebensrechtssubjekten durchzusetzen - für die "Gesundheit zukünftiger Generationen", die perfekte eugenische Zukunft. Eine universelle Kategorie "Leben" wird in solchen bioethischen Denkmodellen einer partikularen Kategorie "Gesundheit" nachgeordnet. Entscheidend ist, dass diese Privilegierung der Kategorie "Gesundheit" ausdrücklich einhergeht mit einer Dekonstruktion des Grundsatzes von der Unverfügbarkeit des Lebensrechtes. Die "Maßnahmen", die Hoerster nicht näher expliziert, können in dieser Logik sowohl Pränataldiagnostik als auch Präimplantationsdiagnostik als auch therapeutisches Klonen und Stammzellforschung umfassen. Dadurch ergibt sich als paradoxe Konsequenz: Dem Embryo muss in einer solchen bioethischen Argumentation implizit zunächst Subjektstatus zugestanden sein, er muss in die Gruppe der "menschlichen Individuen" integriert gewesen sein, damit man ihm schließlich sein Lebensrecht aberkennen und damit den Abschied von der Universalität des Rechtes auf Leben einläuten kann. Ohne die vorgängige Gleichsetzung von "Mensch" und "Embryo" fiele die ganze Argumentation in sich zusammen. So dient die Subjektivierung des Embryos der prinzipiellen Fragmentierung des universalen Lebensrechtsanspruches, und dies könnte zukünftig, wie Hoersters Flutkatastrophen-Metapher verdeutlicht, jegliche "Kranken und Behinderte" betreffen.

Um solche Konstruktionen zu skandalisieren, ist eine Essenzialisierung des Embryos als Schutzgut oder Rechtssubjekt nicht nur nicht erforderlich, sondern geradezu kontraproduktiv, manifestiert sie doch die Logik der Argumentation. Viel entscheidender kommt es darauf an zu untersuchen, mit welchen Normalisierungspraktiken eugenische Selektionsutopien durchgesetzt werden sollen bzw. bereits durchgesetzt werden. In der Tat spannt sich der bioethische Diskurs exakt in der Polarität zwischen utilitaristischer Bioethik und wertkonservativem Lebensbegriff auf und versucht auf eben diese Weise, die Heterogenität der möglichen Positionen zu begrenzen. Diese bipolare Diskursstruktur wird auch hervorgebracht durch die Art und Weise der Fragestellungen; durch Fragen wie "Was darf der Mensch?" bzw. "Was ist der Mensch?" oder auch "Wann beginnt menschliches Leben (Wann endet es)?" und ähnliche mehr. Denn diese Fragen suggerieren, dass es Antworten geben könnte. Es ist die totalitäre Struktur eines Denkens in "anthropologischen Konstanten", also in grundlegenden Wesenszügen "des Menschen", die kaum mehr als binäre Antwortmuster zulässt: ja oder nein, früher oder später, vor oder nach der Geburt, der Zeugung, der Einnistung. Widerständige Diskurse sollten die Aufmerksamkeit von den Subjekten auf die Praktiken, um die es geht, verlagern. Es kann nicht darum gehen, "falschen" Subjektbegriffen einen "richtigen" gegenüberzustellen - sondern es geht darum, Herrschaftslogiken zu skandalisieren, die bestimmte Gruppen von Subjekten in den Rang von Lebensdefinierern und -produzenten versetzen. Oliver Tolmein etwa fordert "eine präzise und weiterreichende Auseinandersetzung mit dem Gehalt der sozialen Beziehungen, die geschützt werden sollen"18, ein und das erfordert umgekehrt eine präzise Auseinandersetzung über Herrschaftsverhältnisse, die nicht länger geschützt gehören. Dafür kann es wichtig sein, die Beantwortung bestimmter Fragen radikal zu verweigern. Das "Wesen" der Differenz zwischen Embryonen und Subjekten entzieht sich ebenso der exakten Definierbarkeit wie z.B. auch die Differenz zwischen "Leben" und "Tod". Es ist ein Effekt eben dieser Unbestimmbarkeit, dass der Begriff "Leben" auf viele verschiedene Weisen zu deuten ist. Bioethische Diskurse tendieren aber dazu, diese Bedeutungsvielfalten zu reduzieren, z.B. indem sie Definitionen von "Leben" an die Produktion von "Gesundheit" koppeln. Die unbegrenzte Pluralität möglicher Lebensbegriffe und -definitionen wird so auf einen einzigen Maßstab begrenzt. Die Folge: Unproduktive "Lebendigkeiten" müssen selektiert und die Produktion kapitalträchtiger Substanzen muss angekurbelt werden. Eine Rückbesinnung auf die Debatte um die Subjektivierung des Fötus kann erinnern helfen, in welchem Ausmaß Lebens- und Subjektbegriffe historisch bedingt sind, indem sie das "Geschaffensein" (Gehring) des Gegenstandes Embryo thematisieren. Diese Rückbesinnung sollte aber darauf verzichten, im Umkehrschluss statt des Embryos den "Frauenleib", die "natürliche Fortpflanzung" oder gar die "heterosexuelle Elternschaft" zur schützenswerten Essenz zu erklären.

Anmerkungen

1)
vgl. den Beitrag von Ulrike Baureithel in diesem Heft

2)
Vera Bayer: Der Griff nach dem ungeborenen Leben: zur Subjektgenese des Embryos. Pfaffenweiler 1993

3)
Barbara Duden: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben. Hamburg/Zürich 1991

4)
Ingrid Schneider: Befruchtungsmärkte - Frauen als Lieferantinnen der Fortpflanzungsindustrie. In: Wichterich, Christa (Hg.): Menschen nach Maß. Bevölkerungspolitik in Nord und Süd. Göttingen 1994, S. 39-65

5)
Anne Waldtschmidt: Halbherzige Verbote, große Regelungslücken - Deutsche Gesetze zur Fortpflanzungsmedizin und Embryonenforschung. In: Eva Fleischer, Ute Winkler (Hg.): Die kontrollierte Fruchtbarkeit: neue Beiträge gegen die Reproduktionsmedizin. Wien 1993, S. 81-94

6)
DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft): Zusammenfassung der aktuellen Empfehlung der DFG zur Forschung an so genannten "überzähligen" Embryonen. In: GID, Gen-ethischer Informationsdienst, Heft 146/2001, S.13-16

7)
Ulrich Bröckling; Susanne Krasmann; Thomas Lemke: Gouvernementalität der gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt am Main 2000

8)
Robert Spaemann: Gezeugt, nicht gemacht. in: Die Zeit, 04/2001, http://www.zeit.de/2001/04/Kultur/200104_klon.html

9)
vgl. dazu Oliver Tolmein: Seine Gene gehören mir?, in: Konkret, Heft 10/2000, http://www.bioethik-recht.de/Bioethik/Bioethik_Wissenschaft/GeneÂ…/genetik_diskurs.htm

10)
Giselind Berg; Sigrid Graumann; Ingrid Schneider: Fortschrittsgläubiger Rückfall in alte Fronten. In: Freitag, 26.01.2001

11)
Vgl. Theresia Degener; Swantje Köbsell,: Hauptsache, es ist gesund? Weibliche Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle. Hamburg 1992

12)
Michael Wunder: Präimplantationsdiagnostik - ein Schritt zum Menschen nach Maß? In: Standpunkt: sozial, Heft 1/2001, S. 33-37

13)
vgl. ReproKult: Zur Rolle der Frau in der biomedizinischen Forschung. Heraring with the civil Society - Temporary Committee on Human Genetics. EU-Parliament, 9./10.07.2001; www.reprokult.de/stellungdeu.htm

14)
Berg et al. 2001, a.a.O.

15)
Petra Gehring: Feministischer Lebensschutz? Positionsverschiebungen im Vorfeld eines geplanten Fortpflanzungsmedizingesetzes. In: Feministische Studien, Heft 1/2001, S. 90-99

16)
Vgl. Neuer-Miebach, Therese: bio-Ethik. Neu entdeckte Heilslehre der modernen Medizin. In: Standpunkt: sozial. Heft 1/2001, S. 5-12

17)
Hoerster, Norbert: Ist menschliches Leben unverfügbar? In: Universitas, Heft 599, Mai 1996, S. 443-448

18)
Oliver Tolmein: Seine Gene gehören mir? A.a.O.

Stefanie Gräfe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Uni Hamburg und promoviert zum Thema "Subjektbegriff in der Debatte um Bioethik".

aus: Forum Wissenschaft 4/2001