Im Westen nichts Neues

Der Islam als Antithese zum "freien Westen"

Im gesamten pol. Spektrum des Abendlandes wird der Islam z. Z. als das "Andere", das Böse schlechthin aufgerufen. Übergänge zur Konstruktion von Antikommunismus und auch Antisemitismus sind fließe

Seit dem 11.9., dem Tag, an dem die "Zivilisation" angegriffen wurde, die bald darauf zum Krieg gegen die "Barbarei" rüstete, erlebt das seit Jahrzehnten und Jahrhunderten bekannte "Feindbild Islam" eine erneute Renaissance. Es war, laut FAZ, " jener Tag, an dem die westliche Zivilisation eine Ahnung davon bekommen hat, was die Vision vom Endkampf zwischen Gut und Böse vor dem Tag des jüngsten Gerichts, was der biblische Ortsname "Armageddon" bedeuten könnte."1 Das Gute, soviel ist klar, das sind "wir" und das Böse sind "sie" - und "sie" verkörpern das Gegenteil von Modernität und Aufklärung; so weiß man es auch in Die Zeit:"Sie hassen den freien Markt, die liberale Ordnung, das interessengeleitete Individuum, die Freiheit zur Selbstbestimmung, die Trennung von Kirche und Staat, die Europa erst nach Jahrhunderten blutiger Religionskriege verwirklichen konnte. Dass jedermann nach seiner Fasson selig werden möge, dieses Prinzip ist den Taliban, den Bin Ladens, den Hizbullahi, den Hamas-Selbstmördern so fremd, wie es uns bis zum Dreißigjährigen Krieg gewesen ist."2 Auch in der linken Wochenzeitung Jungle World finden sich Überschriften wie "Fanta statt Fatwa"3 oder Vergleiche zwischen dem "gemeingefährliche[n] Potenzial des Fundamentalismus auf der einen Seite" und den "liberale[n] Essentials der westlichen Gesellschaften auf der anderen Seite."4

Die Welt scheint in zwei Teile geteilt, die nicht nur keine Ähnlichkeit miteinander haben, sondern einander tendenziell ausschließen: der "Islam" und der "Westen". Dieser Typus von Welterzählungen suggeriert explizit oder implizit - über traditionelle Gräben zwischen rechts und links hinweg - "Kultur" sei ein gefährliches bzw. gefährdetes Gebilde mit klar erkennbaren Grenzen. In der intellektuell differenzierteren Variante besteht man auf der Unterscheidung zwischen Kultur (Islam) und Zivilisation (Westen). Im Tenor einer aufgeklärten repressiven Toleranz macht man dann der Kultur, die den Sprung in die Zivilisation noch nicht geschafft hat, ein pädagogisches Angebot. So erhebt z.B. Gerd Held in der Kommune die Forderung nach einem "Zivilisationspatriotismus". Dieser Patriotismus beruhe idealerweise auf einer derart "tiefen Bindung", dass er "auch ein Angebot für die Menschen aus der islamischen und arabischen Kultur darstellt, den Schritt von der kulturellen Identität zur zivilisierten Welt zu machen."5 Ironischerweise aber entspringt genau das duale Weltbild, das Held beschwört, eben jener Logik "kultureller Identität", die die zivilisierte Welt angeblich bereits hinter sich gelassen hat. Letztlich ist es die Logik des Neorassismus6, die hier aufgerufen wird: Nicht die "biologische Überlegenheit" der eigenen "Art" stellt dabei den Bezugsrahmen, sondern die "kulturelle Differenz". Eine Differenz, die eindeutig moralisch skaliert ist. Die Gewissheit, in dieser Skala den oberen Platz zu besetzen, motiviert schließlich auch ehemalige grüne FriedensfreundInnen, für einen "humanitären" Kriegseinsatz zu votieren. So kann der Terror flächendeckender Bombardements phantasiert werden als Einsatz im Kampf um "unendliche Gerechtigkeit" und "andauernden Frieden".

Kreuzzüge des Westens

In den aktuellen Erzählungen über "den Islam" und "den Westen" wird die Welt in zwei Teile geteilt, wobei die Verwerfung des fremden Teils die eigene Identität konturiert - wie kollektive Identitätskonstruktionen üblicherweise funktionieren. Hier der Westen, die "freie Welt", dort der Islam - und dazwischen allenfalls unrepräsentiertes Niemandsland. Diese binäre Logik ist und war konstitutiv für (neo-)kolonialistische Welterzählungen. Das Konzept vom "Westen" produziert "eine bestimmte Art von Wissen über einen Gegenstand und bestimmte Haltungen ihm gegenüber. Kurz, es funktioniert als eine Ideologie."7 Es ist folglich kein Zufall, dass sich auch islamische und islamistische Identitätsentwürfe dieser Logik bedienen, indem sie sich selbst als Antithese des Westens konstruieren. Diese Entwürfe muss man als die ebenso falsche wie logische Antwort auf die ebenso falsche wie identitätslogische Vorgabe des Kolonialismus begreifen. Das bedeutet mitnichten, ihre Umsetzung in Selbstmordattentate auch nur ansatzweise zu rechtfertigen.

In einer besonderen Variante kam dieses ideologische Konzept "Westen" während des Kalten Krieges zur Anwendung. Der Kommunismus geriet zum Anderen der freiheitlichen Ordnung und wurde zugleich als permanente Gefahr für den Weltfrieden beschworen. Krieg spielte dabei eine zentrale Rolle. So wurde etwa der Korea-Krieg als "Kreuzzug" der "Freiheit gegen den Kommunismus" 8 geführt. Auf diese Weise konnte der vormalige Alliierte als "Osten" und damit als Anderes des Westens definiert werden. Insofern hatte der Koreakrieg für die ideologische und damit für die politische und ökonomische Konstitution der Nachkriegsordnung eine zentrale Funktion. Auch die Religion spielte innerhalb dieser binären Aufteilung der Welt eine entscheidende Rolle: Man bemühte sie durch "beständige Verweise auf die christlich-abendländische Tradition (Â…) als Gegenkraft gegen den sozialistischen Materialismus".9 An diesem Punkt trafen sich ironischerweise westliche und islamistische Ideologien und Interessen und es war folglich weder zufällig noch irrtümlich, dass islamistische Bewegungen durch die USA aufgebaut wurden. Im hegemonialen Dualismus Ost/West war zwangsläufig jeder, der gegen den Feind im Osten war, ein Verbündeter. Umso grotesker ist jetzt das Gerede vom "Kampf gegen das Böse" - ist doch inzwischen sattsam bekannt, dass der CIA selbst Bin Laden & Co. auf den Weg gebracht hat.

Seit August 1990, bereits im Vorfeld des Kuwait-Krieges, arbeiteten die westlichen Medien intensiv an der Konstruktion des Feindbildes Islam - verkörpert durch den "Irren von Bagdad"10, Saddam Hussein -, das dann schließlich in Form von Krieg in praktische Politik umgesetzt wurde. Damit konnte eine diskursive Lücke geschlossen werden, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden war. Der Islam geriet im Kontext des Irak-Krieges zur "gesamtkulturellen Antithese zum Westen und seiner universalistischen Identität", wie Reinhard Schulze feststellt11 und pointiert veranschaulicht: "Aus dem Osten wurde der Orient, aus dem Kommunismus der Islam, aus Stalin Saddam Hussein." Löste die Figur "Islam" in der Feindbild-Konstruktion die Figur "Ostblock" ab, so blieb die ideologische Funktion doch dieselbe: die Eigenlegitimation des Westens als "freier" Teil der Welt. Das Feindbild Islam diente somit der ideologischen Absicherung der neuen geopolitischen Aufteilung der Welt nach dem Zerfall der Sowjetunion. Und auch dem derzeitigen Krieg, der durch die Bombardierung Afghanistans eingeläutet wurde, kommt wiederum eine regulierende Funktion für die fortgeschrittene globalisierte Weltordnung zu. Eben darum ist die Bundesregierung so versessen darauf, in Afghanistan mitspielen zu dürfen: Es geht um nicht weniger als um die Stärke des Führungsanspruchs, den die westlichen Nationen in Zukunft jeweils für sich behaupten können.

Gemeinsam ist Anti-Kommunismus und Anti-Islamismus folglich, dass sie erstens im Rahmen der Sicherung von geopolitischen, ökonomischen und militärischen Hegemonien operieren. Die Konstruktion des (kommunistischen bzw. islamischen) Anderen dient ideologisch zweitens vor allem der Konstruktion des Eigenen: Je religiöser, fanatischer, rückständiger und gefährlicher das Gegenbild, desto säkularisierter, vernünftiger, fortschrittlicher und humaner der Westen. Damit wird spiegelbildlich auch auf der eigenen Seite eine systematische Vereinfachung und Verallgemeinerung möglich: Die Frage nach inneren Widersprüchen, aber auch nach christlichen oder säkularen Fundamentalismen im Westen erübrigt sich; der Westen gerät vielmehr zum personifizierten Synonym für Aufklärung und Menschenrecht. Das lässt sich im Inneren politisch zum Zwecke der Gleichschaltung gewinnbringend einsetzen, wie der ausbleibende laute Protest gegen Krieg und Anti-Terror-Pakete hierzulande belegt.

Kontinuitäten und Differenzen

Die Ablösung des antikommunistischen Feindbildes durch das antiislamische Feindbild zu Beginn der 1990er Jahre konnte vor allem deshalb so leicht vonstatten gehen, weil auf eine jahrhundertelange Tradition zurückgegriffen werden konnte. Denn der Islam als Antithese des Westens ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Vielmehr hat der Antiislamismus bereits seine Wurzeln in vorislamischer Zeit. Der Islamforscher Gernot Rotter führt die vorislamische Araberfeindlichkeit auf eine Abneigung Sesshafter gegen Nomadenkulturen zurück - "arab" bedeutet Nomade. Bereits im 8. Jahrhundert lassen sich Quellen finden, die die Sarazenen, also die Araber, als Bedrohung des Abendlandes schlechthin konstruieren.12 Die Stereotype von der islamischen Gefahr ist also schon uralt - und ihre Kehrseite, die Faszination, auch. Gerade die Doppelung aus Faszination und Schrecken bestimmte die unterschiedlichen Varianten kolonial-orientalischer Stereotypen. Sexuelle Freizügigkeit und Lasterhaftigkeit; Luxus und Dreck, Toleranz und Despotismus - und so weiter. Kronzeugin der Überlegenheit des Westens gegenüber dem Orient ist in alten wie neuen antiislamischen Stereotypen die Moral: Die vermeintliche sittliche "Zügellosigkeit" des Orients beschäftigte den westlichen Diskurs während der Kolonialzeit ebenso sehr, wie im 20. Jahrhundert die vermeintliche kulturelle und soziale Rückständigkeit "des Islam" die moralische Überlegenheit des Westens bekräftigte. Besonders schematisch kommen diese Konstruktionen im Zusammenhang mit antiislamischen Geschlechterstereotypen zum Einsatz. Wurde in Reiseberichten aus den Orient-Kolonien vor allem die sexuelle Verderbtheit der orientalischen Frau durchaus lüstern beschworen, so ist die Muslimin heutzutage paradigmatisch für das Bild der unterworfenen und leidenden Frau.

So erklärt sich, wieso sich der Islam nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion so hervorragend als ideologischer Lückenbüßer eignete: Die Rolle des "Verworfenen" des Westens, das die eigene Identität konturiert, spielte er schon Jahrhunderte vor der Russischen Revolution. Dennoch wäre es zu einfach zu behaupten, dass Funktion und Einsatz antikommunistischer und antiislamischer Propaganda identisch sind. Ging der Antikommunismus vor allem von der manipulativen und repressiven Macht der kommunistischen Herrscher über ihre "Völker" aus, so löst sich die Differenz zwischen "Bevölkerung" und "Herrschaft" in antiislamischen Stereotypen tendenziell auf. Nicht Staat, Bürokratie, Polizei, Militär und Ökonomie beherrschen die Individuen, die ihrerseits, aller kommunistischen Propaganda zum Trotz, auf den Tag der Befreiung warten, sondern die ideologische (= religiöse) Konstitution der Individuen als tatsächliche oder potenzielle Terroristen wird als erfolgreich abgeschlossen vorausgesetzt - im Rahmen einer homogenen "islamischen Kultur", die von Nordafrika bis in den Fernen Osten reicht. Die Bedrohung resultiert folglich nicht mehr aus Konflikten zwischen territorial verfassten Nationalstaaten, sondern aus Risiken, die die globalisierte kapitalistische Weltordnung gefährden.13

Antiislamismus
contra Antisemitismus?

Der Antiislamismus weist nicht nur signifikante Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Antikommunismus auf. Auch ein Vergleich antiislamistischer und antisemitischer Konstruktionen lohnt sich - nicht zuletzt, weil die Debatte in der Linken nach dem 11.9. just an dieser Frage ausgesprochen polarisiert geführt wird. So unterstellen manche "antideutsch" inspirierten Kommentare eine direkte und unvermeidliche Verbindung von Antiamerikanismus, Antiimperialismus und Antisemitismus. Eine Kritik des Krieges in Afghanistan verbietet sich aus einer solchen Perspektive konsequenterweise, denn auch für die Analyse des Krieges wird als einzig legitimes Analyse-Kriterium der unbestreitbare Antisemitismus der Islamisten zugelassen. Daraus folgt bei einigen AutorInnen nicht nur eine implizite Rechtfertigung des Bombardements, sondern sogar seine explizite Begrüßung. Aus diesem Blickwinkel sind die Terroranschläge vom 11.9. ihrem "eigentlichen" Wesen nach antisemitisch und jeder Versuch einer Erklärung ihrer Hintergründe, die auch nur ansatzweise den US-Imperialismus mitbedenkt, ist nicht nur unzulässig, sondern macht sich seinerseits des Antisemitismus verdächtig.

Dies ist insofern besonders pikant, als der offensichtliche Antiislamismus, der in solchen Argumentationen derzeit artikuliert wird, einige Ähnlichkeiten zum Antisemitismus aufweist. Die Abspaltung und Projektion des Eigenen auf den Anderen, die wiederum die Konstitution der eigenen Identität begründen, sind sowohl für antiislamistische wie auch für antisemitische Denkmodelle fundamental. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden auf diese Weise "die orientalischen Elemente in der okzidentalen Kultur ausgemerzt (Â…): Despotie geriet zur orientalischen Despotie, Fanatismus zum arabischen Fanatismus, Schicksalsergebenheit zur islamischen Schicksalsgläubigkeit. Aus dem Orient wurde der Nahe Osten. Fast gleichzeitig wurden in den europäischen Gesellschaften noch Reste der Antithese ausgemacht: die Juden. Zunächst orientalisiert, wurden sie als Träger der Negation Europas ausgemacht und in Deutschland schließlich systematisch vernichtet".14 Parallel dazu sah der deutsche Faschismus in der Sowjetunion die omnipotente Präsenz des Aisatischen, des Ostens, den es endgültig zu vernichten galt.15 Ideologisch sind also Antikommunismus, Antisemitismus und Antiislamismus in ähnlicher Weise funktional. Die Verortung des bedrohlichen Feindes unterscheidet sich dabei durchaus: Im Antisemitismus steht bekanntlich die vermeintliche Bedrohung durch "den Juden", der "unter uns" ist und auf geheimen, anonymen Wegen seine Weltherrschaft ausübt, im Vordergrund und gerade seine Anwesenheit im Innern macht die Gefährlichkeit "des Juden" aus. Insofern gibt es Ähnlichkeiten zwischen Antisemitismus und Antikommunismus. Auch der kommunistische Feind galt seit der Oktoberrevolution in Gestalt großer kommunistischer Parteien von außen und von innen als bedrohlich.16 Der Antiislamismus hingegen scheint hingegen weniger eine Bedrohung von innen, als vielmehr eine geographisch eindeutig zu verortende Bedrohung von außen zu konstruieren. Das stimmt nur zum Teil, insofern die "Gefahren", die von hier lebenden Menschen ohne deutschen Pass angeblich ausgehen, immer noch als Bedrohung von außen verstanden werden, wie es etwa die Rede von der "Überfremdung" verdeutlicht. Aber spätestens seit dem 11.9. droht eine Gleichsetzung islamisch-fundamentalistischer Terroristen mit potenziell allen muslimischen oder "muslimisch aussehenden" (= "arabisch aussehenden") Menschen. Der Westen wäre dann permanent von innen heraus gefährdet, denn "sie" sind ja schließlich auch mitten unter uns: als NachbarInnen, KommilitonInnen oder sogar FreundInnen. An diesem Beispiel wird eine Annäherung antiislamistischer an antisemitische Deutungsmuster erkennbar, die genauer zu untersuchen wäre.

Wenn man aber versucht, jegliche Kritik am westlichen Imperialismus und Antiislamismus als letztlich antisemitischen Diskurs zu entlarven, handelt man sich ein theoretisches und politisches Problem ein: Im Islam z.B. die zentrale Gefahr für den Weltfrieden auszumachen - wie es am deutlichsten die Redaktion der Zeitschrift bahamas tut17 -, dabei islamische und islamistische Politik, Kultur und Religion vollständig in eins zu setzen18 oder zu unterstellen, dass es für Islamismus keine anderen Gründe geben kann als Antisemitismus19, dass also alles Böse in der Welt auf eine singuläre Ursache zurückzuführen ist, schließlich dass sich die Welt einteilt in Antisemiten und Anti-Antisemiten, das alles sind Argumentationslogiken, die auch den Antisemitismus strukturieren.

Abgrenzung
als Herrschaftsverhältnis

Wenn präkoloniale, koloniale und postkoloniale Konstruktionen des Feindbildes Islam, so unterschiedlich sie jeweils sein mögen, beständig an der ideologischen Selbstkonstitution des Westens arbeiten, heißt das, dass sich der Westen somit als "Anti-Orient"20 entwirft und durch diese Betonung der fundamentalen Differenz der zwei Kulturen ihre Ähnlichkeiten ignorieren kann. Auf diese Weise können in ein und derselben Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) in einem Beitrag der Fundamentalismus in der arabischen Rede vom "Heiligen Krieg" dingfest gemacht und in einem anderen Artikel zum "Heiligen Krieg gegen den Islam" aufgerufen werden.21 Die mangelnde innere Logik eines solchen Weltbildes hat System: Die Setzung des Islam als Anderes des Westens schützt davor, nach der Möglichkeit geistiger Verwandtschaft zwischen beiden Sphären zu fragen, wie es z.B. die indische Schriftstellerin Arundhati Roy getan hat, als sie in der FAZ von Bin Laden als "amerikanisches Familiengeheimnis" sprach und ihn bezeichnete als "dunkle[n] Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten. Der brutale Zwilling alles Schönen und Zivilisierten."22 Und ist es nicht in der Tat dieselbe Logik, die die (auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen) legitimierenden Ideologien der Attentäter in New York und Washington und der Betreiber des "Krieges der Zivilisation gegen die Barbarei" strukturiert? Eine saubere binäre Aufteilung der Welt dient dazu, Widersprüche im Innern des Westens wie im Innern der "islamischen Welt" zu negieren. "Islam", "Fundamentalismus" und "Islamismus" fallen in einer solchen Perspektive vollständig ineinander. Auch hier verdoppelt sich paradoxerweise das Außen im Innen: Bleibt die Differenzierung in Politik, Religion und Alltagswelt in der jeweiligen islamischen Kultur aus, handelt es sich in der Tat um eine Interpretation, die "genauso "fundamentalistisch" (ist) wie manche islamische politische Ideologien."23

So ist zum Beispiel gerade das Stereotyp vom Dschihad24, dem "Heiligen Krieg", zum Synonym für die Gefahren des Islam schlechthin geworden. Dabei handelt es sich beim Heiligen Krieg um eine originär christliche Auffassung.25 Nicht zufällig wird derzeit erfolgreich mit Kreuzzugs-Rhetorik an der Mobilmachung für den Kampf gegen "das Böse" gearbeitet. Der Heilige Krieg schreckt "uns" nicht, weil er uns so fremd ist, sondern vielmehr, weil uns seine Logik historisch zutiefst vertraut ist.

Antiislamische Stereotypisierungen sind aber keineswegs immer so eindeutig ausgerichtet. Auch "gut gemeinte", multikulturell oder sogar antirassistisch motivierte Diskurse über die "Differenz von Kulturen" können sich mit dem Hinweis auf die "andere kulturelle Identität" in problematischer Weise der Logik von Identität bedienen. Dies kann dazu führen, dass man sich zur Unterdrückung von Frauen z.B. in Afghanistan lieber nicht laut geäußert hat, um sich nicht den Vorwurf des Kulturimperialismus einzuhandeln. Sabine Kebir weist darauf hin, dass auch die Linke beim "identitätspolitischen Mummenschanz" mitgemacht habe; denn nicht nur der Westen an sich, auch ein Großteil der Linken hätte die Demokratiebewegung in der islamischen Welt, z.B. in Algerien, ihrem Schicksal überlassen.26 Die Gleichung islamischer Fundamentalismus gleich islamische Kultur und Identität kann fatalerweise auch dazu führen, dass man sich davor drückt, sich eindeutig von islamistischen Politiken zu distanzieren. Das unterläuft nicht nur deshalb fortschrittliche Zielsetzungen, weil man damit zutiefst antiemanzipatorische Gesellschaftsentwürfe stützt, sondern auch, weil jede Argumentation, die auf der Annahme einer gänzlich fremden, homogenen und im Prinzip unveränderlichen "islamischen Kultur" basiert, letztlich, mit welchen politischen Absichten auch immer sie artikuliert wird, rassistisch ist.

Worum es also geht, ist sich von den Zwängen und Verführungen der Identitätslogik zu verabschieden: es auszuhalten, dass eine Kritik des imperialistischen Krieges "der Staaten gegen die Menschen"27 nicht bedeutet, Verständnis oder gar "klammheimliche Sympathie" für die Attentäter von New York und Washington und die Politik der Taliban in Afghanistan aufzubringen; dass eine radikale Verurteilung dieser faschistoiden Politiken umgekehrt aber auch nicht bedeutet, die antihumanitäre und neokolonialistische Politik der USA und ihrer Verbündeten zu rechtfertigen oder zu dulden; endlich aufzuhören, sich Kulturen, Staaten, Völker oder Zivilisationen als Gebilde mit eindeutigen Grenzen und Identitäten zu denken und statt dessen zu begreifen, dass diese Grenzen nach innen und außen Herrschaftsverhältnisse absichern.

Anmerkungen

1) Günter Nonnenmacher: Danach, Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.9.2001

2) Theo Sommer, in: Die Zeit, 13.9.2001

3) Andrea Albertini: Fanta statt Fatwa, in: Jungle World Nr.43/2001

4) Heike Runge: Die falsche Diagnose, in: Jungle World Nr.40/2001

5) Gerd Held: Zivilisationspatriotismus. Moderne Zivilisation versus Exklusivität der Kulturen? Kommune 10/2001, S.41-43

6) Vgl. Etienne Balibar: Topographie der Grausamkeit. Staatsbürgerschaft und Menschenrechte im Zeitalter globaler Gewaltverhältnisse, in: Subtropen. Kritik und Versprechen. Monatliches Supplement der Jungle World. Dezember 2001, S.1-3

7) Stuart Hall, Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994, S.139, Hervorhebungen im Text.

8) So US-Präsident Eisenhower 1950, zit. n. Reinhard Schulze, Vom Anti-Kommunismus zum Anti-Islamismus. Der Kuwait-Krieg als Fortschreibung des Ost-West-Konfliktes, in: Peripherie Nr.41/1991, S.5-12, S.6

9) Werner Ruf, Feindbild Islam. Mit Samuel P. Huntingtons grobschlächtigen Visionen des "Clash of Civilisation" erklärt sich der Westen zukünftige Weltkonflikte, in: kassiber, Sonderausgabe zum Krieg, 09/2001, S.15

10) Vgl. Jürgen Link, "Der irre Saddam setzt seinen Krummdolch an meine Gurgel!" Fanatiker, Fundamentalisten, Irre und Traffikanten. Das neue Feindbild Süd, in: Siegfried Jäger, Text- und Diskursanalyse. Eine Analyse zur Analyse politischer Texte, DISS Duisburg 1994, S.73-92

11) Schulze, a.a.O.

12) Gernot Rotter, Europa und der Orient: Geschichte und Wiedergeburt eines alten Feindbildes, in: Verena Klemm/Karin Hoerner (Hrsg.): Das Schwert des "Experten": Peter Scholl-Latours verzerrtes Araber- und Islambild. Heidelberg 1993, S.44-58

13) Vgl. Ruf, a.a.O., S.16

14) Diese "Erklärung" für die nationalsozialistische Massenvernichtung ist in dieser Kürze selbstverständlich unzulässig. Gleichwohl ist es m.E. richtig, den Antisemitismus als binäre Identitätlsogik zu analysieren, die das "Potenzial" des Genozids einschließt.

15) Schulze 1991, a.a.O., S.8-9

16) Vgl. Das alt-neue Feindbild "Islam", Teil 2: Vom Antikkommunismus zur Islamfeindlichkeit, in: analyse und kritik (ak) 347, 21.10.1992

17) So heißt es etwa in der "1. Stellungnahme der bahamas-Redaktion zum islamistischen Massaker in den USA": "(Â…) kommt dem Koran momentan eine ähnliche Rolle zu wie seinerzeit Hitlers Machwerk "Mein Kampf" in Deutschland." http://www.nadir-org/nadir/periodika/bahamas

18) "Die (Â…) Mär, dass der Islam eine nette, freundliche Religion sei, die nur von einigen Fehlgeleiteten (Â…) zum radikalen Islamismus verkehrt werde (Â…)" (ebenda)

19) Es gehe darum, so Martin Janz unter der Überschrift "Automatik einer Theorie. Flugzeugbomben sind nicht die Kehrseite der Moderne" in der Jungle World 46/2001 "Â…in den Anschlägen von New York und den Selbstmordattentaten in Israel einen antisemitischen Vernichtungswillen (zu) sehen, der mit dem des Nationalsozialismus strukturell vergleichbar ist (Â…)".

20) Schulze 1991, a.a.O., S.11

21) Vgl. den Artikel von Wolfgang Günter Lerch, Jahrzehntelang von der Welt betrogen. Genugtuung bei manchen Palästinensern über die Anschläge, und den von Günther Nonnenmacher (a.a.O.) in der FAZ vom 13.9.2001

22) Arundhati Roy, Ein Kontinent brennt - Warum der Terrorismus nur ein Symptom ist, in: FAZ, Feuilleton, 28.9.2001. Der hier wiedergegebene Auszug hatte für Aufsehen gesorgt, nachdem Ulrich Wickert sich vor laufender Fernsehkamera in den tagesthemen dafür entschuldigen musste, ihn in einem Artikel zitiert zu haben.

23) Schulze 1991, a.a.O., S.10

24) Zur Geschichte des Dschihad im Islam aus historischer Perspektive vgl. Karl Grobe, Heilige Kriege. Warum der Dschihad nicht zwingend militant und George Bushs Wort vom Kreuzzug zutiefst ahistorisch ist, in: Frankfurter Rundschau, 22.9.2001, S.19; zur Geschichte westlicher Interpretationen s. auch Peter Heine, Im Visier: Die üblichen Verdächtigen, in: die tageszeitung (taz), 24.9.2001, S.15

25) Klaus Mellenthin, Die Welten des Islam, analyse und kritik 370, 21.9.1994

26) Sabine Kebir, Tritt in den Spiegel. Die Schlacht gegen das "Böse". Der Westen attackiert seine Helfer von einst, in: Freitag, 12.10.2001

27) John Holloway und Eloína Pelaez, Krieg der Staaten gegen die Menschen, in: analyse und kritik 457

Stefanie Gräfe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Uni Hamburg und promoviert zum Thema "Subjektbegriff in der Debatte um Bioethik".

aus: Forum Wissenschaft 1/2002