Sozialreport 2001

Auch 2001 sind die Deutschen weit von der Einheit entfernt. Während die Unterschiede im Wahljahr durch die Regierung ignoriert werden, spielen sie in der öffentlichen Wahrnehmung eine wichtige Rolle

Auch im zwölften Jahr der deutschen Einheit sind die Deutschen weit davon entfernt, diese Einheit tatsächlich zu verkörpern. Dafür sind die Diskrepanzen zwischen beiden Landesteilen immer noch zu groß. Während die Unterschiede im Wahljahr 2002 durch die Regierung mehr oder weniger ignoriert werden, spielen sie in der öffentlichen und wissenschaftlichen Wahrnehmung eine wichtige Rolle.

Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den Untersuchungen des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg e.V. (SFZ) zu, insbesondere ihrem seit 1990 jährlich publizierten Sozialreport. Diese Form der Analyse und Veröffentlichung von Daten und wissenschaftlichen Kommentaren zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern gilt mittlerweile als wichtigster ostdeutscher Beitrag zur Sozialberichterstattung über die neuen Länder. Angesichts des fremdbestimmten Charakters der Umgestaltung und der weitgehend durch westdeutsche Interpretationsmuster bestimmten wissenschaftlichen Begleitung dieses Prozesses kann der Beitrag des SFZ gar nicht hoch genug gewertet werden.

Im Sozialreport 2001 stellen die Autoren einleitend fest, daß die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland tendenziell "gegenläufig" sind. Im Klartext heißt das, es findet kein Aufhol- und Angleichungsprozeß gegenüber Westdeutschland statt, sondern, ganz im Gegenteil, ein Abkopplungs- und Divergenzprozeß. Die Aussagen im Sozialreport lassen keinen Zweifel: Die Entwicklung in Ostdeutschland ist inzwischen "gekippt"!

Dafür sprechen vor allem die harten ökonomischen und sozialen Fakten. Zum Beispiel die Tatsache, daß die Unterbeschäftigung in den neuen Bundesländern alles in allem einen Umfang von 45 Prozent erreicht hat, daß das wirtschaftliche Wachstum Ostdeutschlands im vergangenen Jahr negativ war, daß die Abwanderung vor allem junger, qualifizierter Menschen deutlich zunimmt und daß die Entwicklung der Einkommen und Vermögen seit zwei Jahren spürbar hinter der in Westdeutschland zurückbleibt.

Der Abstand zwischen Ost und West verringert sich also nicht, sondern wird wieder größer - bei der Produktion ebenso wie bei den Einkommen und beim Konsum. Belegt werden diese Aussagen teils mit Daten der offiziellen Statistik, teilweise aber auch mit Ergebnissen von Umfragen. Letztere sind in der politischen Argumentation sehr beliebt, ihr wissenschaftlicher Wert ist jedoch mitunter umstritten. Wirklich ernst nehmen kann man die Befragungsergebnisse nur, wenn sich in ihnen die objektiven Fakten adäquat widerspiegeln. Wo dies nicht der Fall ist, sollte man bei ihrer Interpretation sehr vorsichtig sein, denn die subjektive Wahrnehmung erfolgt zumeist wenig realitätsnah und nicht selten verzerrt. Dies wird zum Beispiel bei der Bewertung der deutschen Einheit durch die befragten Personen deutlich, denn in den Ergebnissen widerspiegelt sich eher die Befindlichkeit der Befragten, ihr Wahrnehmungs- und Analysevermögen, geistiger Horizont und so weiter, als die wirkliche Lage.

Sehr schön läßt sich dies auch anhand der Antworten auf die Frage, "ob der Osten auf der Kippe stehe", demonstrieren. So stimmten dieser These Erwerbstätige weit öfter zu als der Durchschnitt der Bevölkerung. Beamte dagegen wollten diese Ansicht ganz und gar nicht teilen.

Problematisch dürften auch Einschätzungen sein, die auf Fragen nach der Zufriedenheit mit der Einkommens-Preis-Relation, das heißt dem Realeinkommen, beruhen. Was sagt es schon aus, daß zum Beispiel 57 Prozent der ab Sechzigjährigen mit ihrer materiellen Lebenslage unzufrieden sind? Läßt sich hieraus etwas über die Höhe des Rentenniveaus schlußfolgern? Oder über die Habsucht der Rentner? Über die Relation der Ost-Renten zu den West-Renten oder über die der Arbeitseinkommen im Verhältnis zu den Renten? Spiegeln sich hierin Fakten wider oder Irrtümer über volkswirtschaftliche Zusammenhänge? Vielleicht ist diese Aussage auch Ausdruck der Erwartungshaltung der Rentner und Vorrentner in Bezug auf künftige Rentensteigerungen? - Ein eindeutiger Schluß jedenfalls läßt sich hieraus nicht ziehen. Wohl aber können derartige Befragungsergebnisse zu Fehlschlüssen verleiten!

Sehr zu loben ist im diesjährigen Sozialreport der Ost-West-Vergleich für Berlin. Gehen doch viele Menschen in den alten wie in den neuen Bundesländern von der Vorstellung aus, wenigstens hier, in Berlin, sei die Einheit gelungen, das heißt, die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse inzwischen hergestellt. Die Ausführungen im Sozialreport zeigen, daß dies mitnichten der Fall ist. Berlin ist, ökonomisch und sozial, nach wie vor eine geteilte Stadt.

Der einzige Kritikpunkt, der gegen den vorliegenden Report vorgebracht werden kann, bezieht sich auf die, meines Erachtens des öfteren zu Unrecht vorgenommene, Entgegensetzung von materiellen Lebensverhältnissen und innerer Einheit. Die Autoren gehen zwar davon aus, daß hinsichtlich der materiellen Lebensverhältnisse zwischen Ost und West noch keine Angleichung erreicht sei. Sie sehen hierin aber nicht den entscheidenden Grund für die bisher ebenfalls nicht erreichte Einheit. Mit Sicherheit läßt sich die Frage der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse nicht auf die materiellen Lebensverhältnisse reduzieren. Die entscheidende Komponente dürften diese dennoch sein. Erkennt man dies an, so ist die dazu geführt Polemik im Report aber überflüssig.

Sozialreport 2001. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern. Hrsg. durch G. Winkler, trafo Verlag Berlin 2001

in: Das Blättchen 3/2002