Jemandem gerecht werden.

Geschlechtsangleichung und Allegorien der Transsexualität

Ich möchte von der Frage nach einer bestimmten Macht ausgehen, einer Macht zu regulieren, einer Macht, die mehr oder weniger darüber bestimmt, was wir sind und was wir sein können.

Ich spreche dabei nicht im nur juristischen oder positivistischen Sinne von Macht, sondern meine die Wirkungsweise eines regulierenden Regimes, das ins Gesetz eingeht, aber darüber hinausreicht. Wenn wir fragen, unter welchen Bedingungen von Intelligibilität das Menschliche entsteht, erkannt wird und ein Subjekt zum Objekt menschlicher Liebe wird, dann fragen wir nach Normen und Praktiken, die uns zur Voraussetzung geworden sind und ohne die wir das Menschliche überhaupt nicht denken können. Das Verhältnis zwischen den veränderlichen Ordnungen von Intelligibilität einerseits und der Entstehung des Menschlichen und der Möglichkeit des Wissens darüber andererseits möchte ich hier untersuchen. Dabei geht es nicht nur um die Gesetze, die unsere Intelligibilität regeln, sondern auch um die Formen des Wissens und Modalitäten von Wahrheit, die Intelligibilität gewaltsam definieren.

Foucault nennt das die "Politik der Wahrheit". Sie haftet jenen Machtbeziehungen an, die im Voraus festlegen, was als Wahrheit gilt und was nicht, die Welt auf bestimmte reguläre und regulierbare Weise ordnen und die wir schließlich als das gegebene Wissensfeld akzeptieren. Zum springende Punkt kommen wir mit den Fragen: Wer zählt als Person? Was gilt als kohärentes Geschlecht? Was zeichnet einen Staatsbürger, eine Staatsbürgerin aus? Wessen Welt gilt legitimerweise als wirklich? Als Subjekte fragen wir: Wer kann ich werden in einer Welt, in der die Bedeutungen und Grenzen des Subjektes im Voraus für mich festgelegt sind? Durch welche Normen werde ich zwangsweise bestimmt, wenn ich frage, was ich werden kann? Und was geschieht, wenn ich etwas zu werden beginne, das im gegebenen Wahrheitsregime nicht vorgesehen ist? Foucault nennt dies désubjugation, ‘Entunterwerfung des Subjekts im Spiel der Politik der WahrheitÂ’. (1992, XXX)

Anders gesagt, wir können fragen: Was kann ich sein angesichts der gegenwärtigen Seinsordnung? Diese foucaultsche Frage berührt aber noch nicht das Problem, was es heißt, nicht zu sein, oder was es heißt, den Ort des Nicht-Seins innerhalb des Seinsfeldes zu besetzen -- zu leben, zu atmen und nach Liebe zu streben als etwas, das weder völlig verleugnet wird, noch anerkannt ist als ein Dasein oder vielmehr zum Dasein. Das Verhältnis zwischen Intelligibilität und dem Menschlichen besitzt besondere, auch theoretische Dringlichkeit an jenen Stellen, wo das Menschliche auf die Grenzen von Intelligibilität trifft. Aus meiner Sicht hat dieses Problem sehr viel mit Gerechtigkeit zu tun. Denn Gerechtigkeit betrifft nicht nur oder vor allem die Frage, wie Personen behandelt und wie Gesellschaften begründet werden. Sie spielt auch eine Rolle in den folgenschweren Entscheidungen darüber, was eine Person ist, welche gesellschaftlichen Normen anerkannt und ausgedrückt werden müssen, damit ein Personenstatus zuerkannt wird, und wie wir andere Lebewesen als Personen anerkennen oder nicht -- je nachdem, ob wir eine bestimmte Norm wiedererkennen oder nicht, die sich im und durch den Körper dieses anderen manifestiert. Das Kriterium, nach dem wir beurteilen, ob eine Person ein Geschlechtswesen ist -- womit ein kohärentes Geschlecht dem Mensch-Sein bereits vorausgesetzt ist -- bestimmt nicht nur (zu Recht oder zu Unrecht) die Erkennbarkeit des Menschlichen. Es beeinflusst auch, wie wir uns selbst wahrnehmen oder nicht -- auf der Ebene des Gefühls, des Begehrens oder des Körpers, in Augenblicken vor dem Spiegel oder Fenster und in Zeiten, in denen psychologischer, psychiatrischer, medizinischer oder rechtlicher Beistand gesucht wird, um das zu verhandeln, was sich wie Unkenntlichkeit des eigenen Geschlechts und daher wie Unkenntlichkeit des eigenen Personenstatus anfühlen könnte.

Ich möchte mich dem rechtlichen und psychiatrischen Fall einer Person zuwenden, die nach ihrer Geburt ohne Schwierigkeiten darauf festgelegt wurde, ein Junge zu sein, innerhalb weniger Monate dann darauf, ein Mädchen zu sein, und die später im Teenager-Alter selbst beschloss, ein Mann zu werden. Es ist der Fall von John/Joan, der in den frühen neunziger Jahren durch die BBC und kürzlich erneut durch verschiedene populäre, psychologische und medizinische Zeitschriften an die Öffentlichkeit gebracht wurde.2 Ich stütze meine Analyse auf einen von Milton Diamond, einem Endokrinologen, mitverfassten Artikel (1997); auf das populärwissenschaftliche Buch ‘Der Junge, der als Mädchen aufwuchsÂ’ von John Colapinto, einem Journalisten des Rolling Stone (2000; Colapinto, 1997); auf Arbeiten von John Money (1998); auf kritische Kommentare von Anne Fausto-Sterling (2000) und Suzanne Kessler (1998) und auf einen Zeitungsbericht von Natalie Angier (1997).3 John ist das Pseudonym eines Mannes, der in Winnipeg lebt und der mit XY-Chromosomen geboren wurde. Als er acht Monate alt war, wurde sein Penis bei einer chirurgischen Behandlung versehentlich verbrannt und abgetrennt. Die Operation sollte zur Korrektur einer Phimose dienen -- einer Vorhautverengung, die das Urinieren behindert. Zumeist ist das ein harmloser Eingriff, aber der Arzt benutzte eine Maschine, die er offensichtlich noch nicht verwendet hatte und die nach Ansicht seiner KollegInnen auch nicht notwendig war. Er hatte Schwierigkeiten, sie in Gang zu setzen, und erhöhte die Energiezufuhr so stark, dass sie einen Großteil des Penis wegbrannte. Die Eltern waren natürlich entsetzt. Ihren eigenen Schilderungen nach wussten sie nicht, was sie nun tun sollten. Etwa ein Jahr später sahen sie eines Abends John Money im Fernsehen, der über die chirurgische Behandlung von Transsexuellen und Intersexen sprach. Er vertrat die Ansicht, wenn ein Kind chirurgisch behandelt und in einem anderen als dem ihm bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht sozialisiert würde, könne es sich ganz normal entwickeln, hervorragend an die neue Geschlechtsidentität anpassen und ein glückliches Leben führen. Die Eltern schrieben an Money, der sie nach Baltimore einlud. Dort wurde John an der John-Hopkins-Universität untersucht und Dr. John Money riet dringend dazu, ihn als Mädchen zu erziehen. Die Eltern willigten ein, daraufhin entfernten die ÄrztInnen Johns Hoden und bereiteten die Operation zur Bildung einer Vagina vor. Mit dieser wollten sie jedoch warten, bis Joan -- so der neue Name des Kindes -- alt genug wäre, um das Vorhaben abzuschließen. So wuchs Joan als Mädchen auf, wurde Kontrolluntersuchungen unterzogen und in regelmäßigen Abständen John Moneys "Institut für Geschlechtsidentität" übergeben, um ihren Anpassungsprozess an das Mädchen-Sein zu fördern. Berichtet wird, dass Joan mit acht oder neun Jahren den Wunsch entwickelte, sich eine Spielzeug-Maschinenpistole zu kaufen. Im Alter von neun bis elf sei ihr schließlich klar geworden, dass sie kein Mädchen war. Diese Erkenntnis fiel offensichtlich mit dem Verlangen nach bestimmten Arten von Spielzeug zusammen: anscheinend noch mehr Pistolen und einige LKW. Auch ohne Penis urinierte Joan gerne im Stehen. Als sie dabei einmal in der Schule erwischt wurde, drohten ihr die anderen Mädchen, sie ‘umzubringenÂ’, falls sie damit weitermache.

Zu diesem Zeitpunkt boten die psychiatrischen Teams, die Joans Anpassung mit Unterbrechungen überwachten, ihr Östrogen an, das sie jedoch ablehnte. Money versuchte, mit ihr ein Gespräch über die Möglichkeit zu führen, eine echte Vagina zu erhalten, was sie abermals ablehnte. Sie lief schreiend aus dem Raum. Money ließ sie detailgetreue Abbildungen von Vaginas betrachten. Er ging sogar so weit, Joan Bilder mit gebärenden Frauen zu zeigen, und stellte ihr in Aussicht, sie könne vielleicht in die Lage kommen zu gebären, wenn sie eine Vagina erwerben würde. In einer Szene, die dem Film ‘But I‘m a Cheerleader!Â’4 als Vorlage hätte dienen können, verlangte er schließlich, sie und ihr Bruder sollten miteinander Übungen verrichten, die den Geschlechtsverkehr nachahmten. Beide berichteten später, dass sie über diese Forderung verängstigt und verwirrt waren und ihren Eltern zunächst nichts davon erzählten. Im Allgemeinen habe Joan Aktivitäten bevorzugt, die als männlich gelten, und das Wachstum ihrer Brüste habe ihr nicht gefallen. All diese Joan betreffenden Zuschreibungen wurden von einem weiteren ÄrztInnenteam vorgenommen, einer psychiatrischen Arbeitsgruppe aus Joans örtlichem Krankenhaus. Dieses Team und andere örtliche medizinische Stellen griffen ein, weil sie der Überzeugung waren, in diesem Fall sei die Geschlechtsumwandlung ein Fehler gewesen. Schließlich wurde der Fall neu begutachtet von Milton Diamond -- einem Sexualforscher, der von der hormonellen Grundlage der Geschlechtsidentität überzeugt ist und Money seit Jahren bekämpft. Die neue Runde von PsychiaterInnen und anderen ÄrztInnen bot Joan die Möglichkeit an, den eingeschlagenen Weg zu ändern. Sie willigte ein und begann im Alter von vierzehn Jahren ein Leben als Junge mit Namen John. John bat um männliche Hormone, die er auch bekam, und ließ seine Brüste entfernen. Als er etwa fünfzehn war, wurde ihm ein Phallus konstruiert -- so Diamonds Bezeichnung. John ejakuliert nicht, er empfindet im Phallus einige sexuelle Lust, er uriniert von seiner Ansatzstelle aus. Somit erfüllt der Phallus einige seiner erwarteten Funktionen nur annähernd und lässt John, wie wir sehen werden, nur eingeschränkt der Norm seines Wahlgeschlechts entsprechen.

Während der Zeit, als John Joan war, veröffentlichte Money wissenschaftliche Stellungnahmen, die den Erfolg dieser Geschlechtsumwandlung feierten. Der Fall hatte erhebliche Konsequenzen, da Joan ein eineiiger Zwilling war. Money konnte die Entwicklung beider Geschwister verfolgen und die genetische Ausstattung nachprüfen. Er beharrte darauf, dass sich beide normal und glücklich in ihre jeweiligen geschlechtlichen Identitäten entwickelten. Doch seine eigenen, größtenteils unveröffentlichten Interviews sowie spätere Forschungen von anderen lassen an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln. Joan war fast nie glücklich, weigerte sich, viele so genannte ‘Mädchen-VerhaltensweisenÂ’ anzunehmen, und war verärgert über Moneys zudringliche, unablässige Verhöre. Trotzdem behaupten Veröffentlichungen der John-Hopkins-Universität, Joans Anpassungsprozess an ihr Mädchen-Sein sei erfolgreich verlaufen, und ziehen daraus ideologische Schlussfolgerungen. So kam Moneys "Institut für Geschlechtsidentität" zu dem Ergebnis, Joans Entwicklung als Mädchen liefere

einen überzeugenden Beweis dafür, dass das Tor zur Geschlechtsidentität einem normalen Kind bei der Geburt nicht weniger offen steht als einem, das mit unvollständigen Geschlechtsorganen geboren ist oder das vor der Geburt einer überhöhten oder verringerten Konzentration von Androgenen ausgesetzt war, und dass dieses Tor zumindest etwa das erste Lebensjahr über geöffnet bleibt. (Money und Green, 1998, 299)
In den Medien wurde der Fall als Beweis der These genutzt, was weiblich und was männlich sei, könne verändert werden, diese kulturellen Begriffe hätten keine festgelegte Bedeutung oder innere Bestimmung. Sogar Kate Millett zitiert ihn, um zu zeigen, dass Biologie kein Schicksal sei (1985, 46f). Kessler verfasste zusammen mit Money Aufsätze, die sozial-konstruktivistische Ansichten vertraten. Später jedoch sollte Kessler dieses Bündnis aufkündigen und eines der wichtigsten Bücher über die ethischen und medizinischen Dimensionen der Geschlechtszuweisung schreiben, das auch eine scharfe Kritik an Money enthält (1998, 6-7; vgl. auch 1997 u. 1990).

Money zog Mann-zu-Frau-Transsexuelle hinzu, die mit Joan über die Vorteile sprachen, ein Mädchen zu sein. In zahllosen Gesprächen wurde sie gefragt, ob sie sich wie ein Mädchen fühle, welche sexuellen Wünsche sie habe, wie ihre Zukunftsvorstellungen aussehen, ob darin die Heirat mit einem Mann enthalten sei. Außerdem musste sie sich ausziehen und ihre Genitalien ÄrztInnen zeigen, die der Fall interessierte oder die ihre Anpassungsleistung beobachteten.

Als der Fall vor Kurzem in die Presse kam, kritisierten PsychiaterInnen und praktische ÄrztInnen das Auftreten von Moneys Institut. Sie beanstandeten vor allem Joans Indienstnahme als Beleg für Auffassungen von einer Neutralität der Geschlechtsidentität in der frühen Kindheit, einer Formbarkeit der Geschlechtsidentität und einer vorrangigen Rolle der Sozialisation bei der Herstellung der Geschlechtsidentität. Genau genommen ist das nicht alles, woran Money glaubt, aber lassen wir es dabei bewenden. Die KritikerInnen wenden ein, hier zeige sich etwas völlig anderes. Wenn John den innigen Wunsch hatte, ein Junge zu werden, und es unerträglich fand, als Mädchen zu leben, dann habe er ein tiefes Gefühl für seine Geschlechtsidentität gezeigt. Dieses Gefühl sei an seine ursprüngliche Genitalausstattung gebunden und existiere anscheinend als eine innere Wahrheit und Notwendigkeit, die kein noch so großer Aufwand an Sozialisation umstoßen konnte. Dieser Ansicht sind auch Colapinto und Diamond.

Der "Fall" von Joan/John wird nun also dazu verwendet, die Theorie der Geschlechtsentwicklung zu revidieren und zu entkräften. Diesmal soll er Moneys Thesen widerlegen und die Vorstellung von einem geschlechtlichen Wesenskern unterstützen, der auf unabänderliche Weise an die Anatomie und an ein deterministisches Biologieverständnis geknüpft ist. Colapinto stellt sogar einen Zusammenhang her zwischen Moneys Grausamkeit gegenüber Joan und der "Grausamkeit" der sozial-konstruktivistischen Theorie. Moneys Weigerung, eine biologische oder anatomische Grundlage für den sozialen Geschlechterunterschied anzuerkennen, sei in den frühen siebziger Jahren ‘auch der damals aufkommenden Frauenbewegung nicht [entgangen], die jahrzehntelang gegen eine biologische Begründung der Geschlechtsdifferenzierung gekämpft hatteÂ’ (2000, 81). Er behauptet, Moneys Aufsätze seien damals ‘bereits eine Grundlage des modernen Feminismus gewordenÂ’ (ebd.). Als Beispiel einer solchen irrigen Aneignung von Moneys Ansichten zitiert er das Magazin Time mit der Aussage, der Fall stütze ‘ganz wesentlich einen der Hauptinhalte der Emanzipationsbewegung: dass nämlich die herkömmlichen Muster männlichen und weiblichen Verhaltens verändert werden könnenÂ’ (ebd.). Colapinto schreibt, chirurgisch umgewandelten Individuen gelinge es nicht, als ‘normaleÂ’ und ‘typischeÂ’ Frauen und Männer zu leben, sie erlangten niemals Normalität -- und unterstellt damit den unbestreitbaren Wert des Normalzustandes selbst.

In ihrem Artikel über die Widerlegung von Moneys Theorie behauptete Natalie Angier in der New York Times, Johns Geschichte habe ‘allegorische KraftÂ’ (1997, 1). Um was für eine Kraft handelt es sich da? Und ist dies tatsächlich eine Allegorie? Angier schreibt, Diamond habe den Fall benutzt, um daraus eine Begründung für die operative Behandlung von Intersexen abzuleiten sowie für die operative Geschlechtsangleichung bei Transsexuellen. Diamond führte zum Beispiel aus, intersexuelle Kleinkinder -- die mit gemischten oder unbestimmten genitalen Eigenschaften geboren werden -- hätten in der Regel ein Y-Chromosom. Der Besitz eines Y-Chromosoms sei eine angemessene Grundlage für die Schlussfolgerung, dass diese Kinder als Jungen erzogen werden müssten. Gegenwärtig aber wird die überwiegende Mehrheit intersexueller Kleinkinder operativ dem weiblichen Geschlecht zugewiesen. Wie Cheryl Chase in Angiers Artikel hervorhebt, gilt es schlichtweg als leichter, einen behelfsmäßigen Vaginaltrakt herzustellen als einen Phallus zu konstruieren. Diamond vertrat die Ansicht, diese Kinder sollten dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, denn ihr Y-Chromosom sei eine ausreichende Begründung für die Annahme sozialer Männlichkeit.

Chase, Gründerin und Direktorin der Intersex Society of North America, lehnte Diamonds Empfehlungen ab. Es gebe keinen Grund, überhaupt eine Geschlechtszuweisung vorzunehmen. Vielmehr solle die Gesellschaft den Intersexen, so wie sie sind, einen Platz zugestehen und die chirurgischen ‘ZwangskorrekturenÂ’ an Kleinkindern beenden. Diese Meinung hat Fausto-Sterling kürzlich verteidigt (2000, 79-114). Neuere Forschungen zeigen, dass solche Operationen ohne Wissen der Eltern vorgenommen werden, ohne den Kinder selbst je wahrheitsgemäß davon zu erzählen und ohne zu warten, bis sie ein Alter erreicht haben, um darin einzuwilligen. Am erstaunlichsten aber ist der Zustand, in dem diese Körper zurückgelassen werden. Ihnen werden Verstümmelungen zugefügt und diese paradoxerweise im Namen des ‘normalen AussehensÂ’ für vernünftig erklärt. Praktische ÄrztInnen sagen den Eltern oft, ihr Kind werde ohne Operation nicht normal aussehen und sich im Umkleideraum schämen -- im Umkleideraum, jenem Ort frühpubertärer Ängste vor den anstehenden Geschlechtsentwicklungen. Es sei für das Kind besser, normal auszusehen, selbst wenn die Operation sie oder ihn ein Leben lang der sexuellen Funktionen und des sexuellen Lustempfindens beraube.

Während also einige ExpertInnen wie Money behaupten, das Fehlen eines vollständigen Phallus sei die soziale Begründung für die Erziehung eines Kindes als Mädchen, meinen andere wie Diamond, die Anwesenheit eines Y-Chromosoms sei das Wesentliche, worauf die anhaltenden Männlichkeitsgefühle verwiesen, und könne nicht wegkonstruiert werden. Auf der einen Seite beruht die soziale Identität als Frau oder Mann auf dem anatomischen Aussehen, wie es anderen und mir selbst erscheint, wenn ich sehe, wie mich andere betrachten. Auf der anderen Seite gründet sie sich darauf, ob ein Y-Chromosoms vorhanden ist, das die Gefühle und das eigene Selbstverständnis als Geschlechtswesen strukturiert. Money verweist auf die Leichtigkeit, mit der ein weiblicher Körper chirurgisch konstruiert werden kann, als ob Weiblichkeit mehr oder weniger eine chirurgische Konstruktion, ein Entfernen, ein Wegschneiden wäre. Diamond setzt eine unsichtbare und unbedingte Fortdauer von Männlichkeit an, die nicht einmal "erscheinen" muss, um die Geschlechtsidentität zu bestimmen. Auf Angiers Frage, ob sie Diamonds Empfehlungen zur operativen Behandlung von Intersexen zustimme, antwortet Chase: ‘Die können sich nicht vorstellen, jemanden einfach in Ruhe zu lassen.Â’ Dient denn der chirurgische Eingriff überhaupt dazu, einen ‘normalÂ’ aussehenden Körper zu schaffen? Die Verstümmelungen und bleibenden Narben beweisen das wohl kaum. Oder werden diese Körper, gerade weil sie "unvorstellbar" sind, der medizinischen Maschinerie unterworfen, die sie für ihr Leben zeichnet?
Hier zeigt sich ein weiteres Paradoxon, der Ort der scharfen Maschinen und der Technologie des Messers in den Debatten um Inter- ebenso wie um Transsexualität. Sofern der Fall von John/Joan eine Allegorie ist oder die Kraft einer Allegorie hat, ist er wohl der Punkt, an dem die Debatten um Intersexualität (John ist kein Intersex) und Transsexualität (John ist kein Transsexueller) zusammenlaufen. Der Körper wird zum Bezugspunkt für eine Erzählung, in der es nicht um ihn geht, die aber an ihm ansetzt, um die Grenzen dessen in Frage zu stellen, was als menschlich vorstellbar ist. Zwar wird mit erzählerischen Mitteln das Unvorstellbare immer wieder eingeholt, aber etwas bleibt aus der Erzählung ausgeschlossen, ein Widerstandsmoment, das eine hartnäckige Unvorstellbarkeit anzeigt. Die Intersexenbewegung nahm trotz Diamonds Ratschlägen mit dem Fall von John/Joan einen schlagartigen Aufschwung, weil sie die Brutalität der ungefragt an Kleinkindern vorgenommenen Operationen, den Zwang und die bleibenden Verletzungen in die Öffentlichkeit bringen konnte. Sie entwirft die Vorstellung von einer Welt, in der Individuen mit gemischten und unbestimmten Genitaleigenschaften akzeptiert und geliebt werden können, ohne sie in einheitliche, normative gesellschaftliche Geschlechterversionen umwandeln zu müssen. Die Intersexenbewegung fragt, warum die Gesellschaft am Ideal der morphologischen Zweigeschlechtlichkeit festhält, obwohl ein bedeutender Prozentsatz von Kindern verschiedenartige Chromosomen besitzt und ein Kontinuum zwischen männlich und weiblich zeigt, dass die menschliche Entwicklung nicht auf morphologischer Zweigeschlechtlichkeit beruht. Es gibt Menschen, die in den Zwischenräumen dieses binären Verhältnisses leben und atmen und damit zeigen, dass es nicht allumfassend, nicht zwingend ist. Zwar fordert die in sich vielfältige Transsexuellenbewegung das Recht auf chirurgische Mittel, mit denen sich das Geschlecht umwandeln lässt. Doch wie Chase betont, gerät die idealisierte Zweigeschlechtlichkeit auch in dieser Bewegung in Kritik. Das wird in der Arbeit von Riki Wilchins (1997) deutlich, deren Geschlechtertheorie Transsexualität im Sinn einer Transformationsübung auffasst. Am radikalsten allerdings argumentiert Kate Bornstein (1995), wenn sie sagt, der Übergang von Frau zu Mann oder von Mann zu Frau müsse nicht notwendig innerhalb des zweigeschlechtlichen Rahmens bleiben, sondern könne eine Möglichkeit sein, Geschlecht selbst als Umgestaltung zu begreifen. In gewisser Weise tritt Bornstein damit Simone de Beauvoirs Erbe an: Wenn eine nicht als Frau auf die Welt kommt, sondern zu einer wird, ist das Werden selbst der Träger von Geschlecht. Warum aber, könnten wir fragen, gibt John Anlass, über Transsexualität nachzudenken?

Obwohl John schließlich darauf besteht, lieber ein Mann zu sein, bleibt unklar, ob er selbst an die kausale Kraft des Y-Chromosoms glaubt. Diamond findet bei John Belege für seine Theorie, aber nach meiner Lektüre lässt sich nicht entscheiden, ob John darin Diamond zustimmt. John weiß offensichtlich Bescheid über Hormone, er verlangte und nimmt sie. Im transsexuellen Kontext hat er von der Penisplastik gehört, wünscht sich einen Phallus, lässt sich einen aufbauen und allegorisiert damit eine transsexuelle Umwandlung, ohne genau ein Beispiel dafür zu sein. Seiner Ansicht nach ist er ein als Mann geborener Mann, der vom medizinischen Establishment kastriert und von der Psychiatrie verweiblicht wurde und der dann die Möglichkeit bekam, wieder der zu werden, der er im Begriff war zu sein. Doch um wieder der zu werden, der er ist, muss und will er sich der hormonellen und chirurgischen Behandlung unterwerfen. Er allegorisiert Transsexualität, um ein Gefühl von Natürlichkeit zu erreichen. Diese Umwandlung wird von den behandelnden EndokrinologInnen begrüßt, die seine äußere Erscheinung jetzt in Übereinstimmung mit einer inneren Wahrheit sehen. Während Moneys Institut Transsexuelle anwirbt, um John im Namen der Normalisierung im Frau-Sein zu unterrichten, verordnen ihm die EndokrinologInnen das übliche Vorgehen für transsexuelle Geschlechtsumwandlungen, um seine genetische Bestimmung im Namen der Natur wiederzugewinnen.

Moneys Institut zieht Transsexuelle heran, um Joans vollständige Umwandlung in eine Frau zu allegorisieren. Die EndokrinologInnen dagegen schlagen die Anwendung chirurgischer Behandlungen aus einem transsexuellen Kontext vor, um John den Phallus zu bauen, der aus ihm erkennbar einen Mann macht. Bezeichnenderweise scheint für Money ein intelligibles Geschlecht von Normen bestimmt zu sein, die gewaltsam aufgezwungen und im Verhalten angeeignet werden können. Die Formbarkeit der Geschlechterkonstruktion, die er vertritt, verlangt letzten Endes nach gewaltsamer Durchsetzung. Aber auch die von den EndokrinologInnen verteidigte "Natur" bedarf der Nachhilfe mit chirurgischen und hormonellen Mitteln. Am Ende ist ein nicht-natürlicher Eingriff in Anatomie und Biologie genau das, was die Natur vorschreibt. Beide Male wird die ursprüngliche Prämisse widerlegt durch die Mittel, mit denen sie erfüllt wird. Natürlichkeit wird künstlich herbeigeführt. Es ist möglich, sozial-konstruktivistisch zu argumentieren, ohne sich Moneys Projekt anzuschließen, doch darum geht es mir hier nicht. Und zweifellos lässt sich auf genetische Determinanten zurückgreifen, ohne die selben interventionistischen Schlüsse zu ziehen wie Diamond und Sigmundsen. Aber auch das ist hier nicht mein Anliegen. Festzuhalten bleibt indes, dass die Vorgaben dieser Lieferanten natürlicher und normativer Geschlechtsidentität keineswegs notwendig aus den Prämissen folgen, von denen sie ausgehen, und diese Prämissen nicht zwingend sind. (Zum Beispiel lässt sich zwischen konstruktivistischer Geschlechtertheorie und normativen Geschlechtern unterscheiden und so ein ganz anderes Bild sozialer Konstruktion zeichnen als das von Money; auch ließen sich genetische Faktoren berücksichtigen, ohne zu unterstellen, sie seien der einzige Aspekt von "Natur", der zum Verständnis der menschlichen Geschlechtsmerkmale nötig ist: Warum wird das Y-Chromosom für die vorrangige Determinante von Männlichkeit gehalten, die jedem anderen Faktor gegenüber ein Vorrecht hat?)

Ich habe diese Geschichte und ihre Aneignung für die Zwecke der Geschlechtertheorie jedoch aus einem anderen Grund geschildert. So wie sie uns übermittelt ist, beweist die Geschichte keine der beiden Thesen. Daher möchte ich eine andere Lesart vorschlagen, die den Sozialkonstruktivismus weder ablehnt noch bestätigt, und auch den Geschlechteressenzialismus weder ablehnt noch bestätigt. Ich möchte vor allem den disziplinären Rahmen herausarbeiten, in dem John/Joan einen Diskurs der Selbstbeschreibung und des Selbstverständnisses entwickelt. Denn dieser bildet das Raster der Intelligibilität, durch das sein eigenes Mensch-Sein sowohl in Frage gestellt als auch bekräftigt wird.

Im Hinblick auf die Frage, was als Beweis für die Wahrheit des Geschlechtes dienen könnte, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Joan/John während der gesamten Kindheit und Jugend von PsychologInnen überwacht wurde und ÄrztInnen Joans Verhalten beobachteten. ÄrztInnen verlangten von ihr und ihrem Bruder, sich nackt auszuziehen und überprüften die Entwicklung der Geschlechtsteile. Es gab einen Arzt, der sie aufforderte, mit ihrem Bruder den Geschlechtsverkehr nachzuspielen, die Bilder anzusehen, den so genannten Normalzustand eindeutiger Genitalien zu kennen und zu wünschen. Es gab einen Wissensapparat, der an Joans/Johns Person und Körper angelegt wurde und der kaum je als Teil dessen beachtet wird, worauf John reagiert, wenn er über sein Gefühl für ein wahres Geschlecht berichtet. Der Akt des Selbstberichts und der Selbstbeobachtung findet in Bezug auf ein bestimmtes Publikum statt, mit einem Publikum als imaginiertem Rezipienten, für den ein sprachliches und visuelles Selbstbild hergestellt wird. Die Sprechakte richten sich oft an diejenigen, die Joans Geschlecht jahrelang brutal und peinlich genau untersucht haben. Diamond, Sigmundsen und Colapinto verteidigen John zwar gegen Moneys Übergriffe, doch auch sie fragen ihn, wie er sich fühlt und wer er ist, und versuchen, die Wahrheit über sein Geschlecht an Hand seiner Äußerungen festzustellen. Joan wurde einer akribischen Prüfung unterzogen und vor allem immer wieder einer Norm unterworfen, einem durch unzählige Blicke vermittelten normalisierenden Ideal, einer Körpernorm, einer ständig gestellten Frage: Ist diese Person weiblich genug? Hat diese Person es zur Weiblichkeit geschafft? Wird Weiblichkeit hier angemessen verkörpert? Funktioniert die Verkörperung? Tut sieÂ’s? Tut sieÂ’s wirklich? Wie können wir das wissen? Welchen Beweis können wir heranziehen, um es zu wissen? Denn sicher wissen müssen wir es. Wir müssen sagen können, dass wir es wissen, es in Fachzeitschriften mitteilen und unsere Entscheidungen und Handlungen rechtfertigen können. Im Grunde geht es mit der in diesen Verhör-Übungen gestellten Frage um die ausreichende Erfüllung der Geschlechternorm, die einen kohärenten Personenstatus herstellt. Die Befragungen und Untersuchungen lassen sich daher als gewaltsamer Versuch verstehen, die Norm durchzusetzen, und zugleich als Institutionalisierung dieser Durchsetzungsmacht.

Die KinderärztInnen und PsychiaterInnen, die den Fall in den letzten Jahren nochmals begutachtet haben, führen Johns Selbstbeschreibung an, um ihre Ansichten zu untermauern. Sie beziehen sich auf Johns Erzählungen über sein Männlichkeitsempfinden, welche die Ansicht unterstützen, dass John in Wahrheit männlich ist und immer war, auch als er Joan war. John erzählt seinen InterviewerInnen Folgendes über sich selbst:
Von Anfang an gab es da Kleinigkeiten. Ich merkte, dass ich mich anders fühlte und auch anders war, als ich sein sollte. Aber ich wusste nicht, was das bedeutete. Ich dachte, ich bin eine Missgeburt oder so was... Ich schaute mich an und dachte, dass ich diese Art Kleidung nicht mochte, dass ich die Art Spielzeug nicht mochte, die ich immer bekam. Es machte mir Spaß, mit Jungs zu spielen und auf Bäume zu klettern und so. Aber Mädchen mögen so was nicht. Ich schaute in den Spiegel und [sah], dass meine Schultern so breit waren, also da [war] nichts Weibliches an mir. Ich [war] zwar dünn, aber das war auch alles. Aber so hab ich es rausgekriegt. (Ich dachte mir schon, dass ich ein Junge war,) aber ich wollte es nicht zugeben. Ich glaube, ich wollte wohl nicht in ein Wespennest stechen. (zit. n. Diamond/Sigmundson, 1997, 299-300, Auslassungen im Original)
So beschreibt John sich selbst. Ein Teil meines Vorhabens besteht darin, nicht nur meinem Thema, sondern auch der Person, die ich Ihnen skizziere, gerecht zu werden -- dieser Person, über die so viel gesagt wurde und auf deren Selbstbeschreibung und Entscheidungen in den letzten vier Jahren so viele Geschlechtertheorien aufbauten. Deshalb muss ich, scheint mir, bei der Wahl meiner Worte vorsichtig sein. Denn diese Worte können Ihnen nur einen Teil der Person vermitteln, die ich zu verstehen versuche, einen Teil ihrer wörtlichen Aussagen. Da ich die Person nicht wirklich verstehen kann, sie auch nicht kenne und keinen Zugang zu ihr habe, kann ich hier nur eine ausgewählte Anzahl von Worten wiedergeben, von Worten, die ich nicht im vollen Sinne selbst ausgesucht habe. Diese Worte wurden für mich ausgewählt. Sie wurden Interviewaufzeichnungen entnommen durch Leute, die später Artikel über diese Person veröffentlichten, in Zeitschriften wie den Archives of Pediatric Adolescent Medicine. Man könnte also sagen, dass ich über Fragmente der Person verfüge -- über sprachliche Fragmente von etwas, das man eine "Person" nennt. Was könnte es nun heißen, jemandem unter diesen Umständen gerecht zu werden? Können wir das überhaupt?

Einerseits haben wir es mit einer Selbstbeschreibung zu tun, die wir respektieren müssen. Es sind Äußerungen, mit denen dieses Individuum sich zu verstehen gibt. Andererseits findet die Selbstbeschreibung in einer Sprache statt, die bereits im Gange ist, die schon von Normen durchzogen ist und die uns bestimmt, wenn wir versuchen, über uns zu sprechen. Außerdem wurden diese Worte im Rahmen eines Interviews geäußert, das Teil eines langen und zudringlichen Beobachtungsprozesses war, der Joans Entwicklung von Anfang an begleitete. John gerecht zu werden heißt sicher, ihn beim Wort zu nehmen und ihn bei seinem selbst gewählten Namen zu nennen, aber wie sollen wir sein Wort und seinen Namen verstehen? Sind es Worte, die er selbst hervorbringt? Oder sind es Worte, die er aufnimmt? Zirkulieren diese Worte bereits, bevor er als ein ‘IchÂ’ entsteht, das innerhalb der Normen dieser Sprache seine Berechtigung erlangt und zu seiner Selbstbeschreibung ansetzt? Wenn man spricht, spricht man eine Sprache, die bereits spricht -- selbst wenn man sie nicht genau so spricht, wie sie zuvor gesprochen wurde. Wer oder was spricht hier also, wenn John berichtet: ‘Von Anfang an gab es da Kleinigkeiten. Ich merkte, dass ich mich anders fühlte und auch anders war, als ich sein sollte.Â’ John versteht, so wird uns in dieser Behauptung knapp mitgeteilt, dass es eine Norm gibt, die bestimmt, wie er sein sollte, und er diese Norm nicht erfüllt. Impliziert wird, Weiblichkeit sei die Norm, der entsprechend zu leben ihm nicht gelingt. Zum einen gibt es die von außen auferlegte Norm, vermittelt über eine Reihe von Erwartungen, die andere an ihn haben, und zum anderen die Welt der Gefühle und des Seins. Diese Bereiche sind für ihn deutlich getrennt. Seine Gefühle werden in keiner Weise durch die Norm erzeugt. Vielmehr ist die Norm etwas anderes und anderswo, nicht Teil dessen, wer er ist, wer er geworden ist, was er fühlt.

Im Hinblick darauf, wie John unseres Wissens bisher wahrgenommen wurde, könnten wir, um ihm gerecht zu werden, die Frage stellen, was Joan denn sah, als sie sich betrachtete, was er fühlte, wenn er sich selbst fühlte. Bitte entschuldigen Sie, dass ich die Pronomen vermische, doch die Dinge geraten hier ins Wanken. Wenn Joan in den Spiegel sah und darin etwas Namenloses, Absonderliches, etwas zwischen den Normen erblickte, stand sie dann in diesem Augenblick nicht als Mensch in Frage? War sie dann nicht das Gespenst jener Missgeburt, in Abgrenzung zu der und durch die sich die Norm selbst einsetzt? Was war los mit Joan, dass die Leute sie immer nackt sehen wollten, sie fragten, was sie sei und wie sie sich fühle, um herauszufinden, ob es dem entsprach, was normativ als wahr galt, oder nicht? Unterscheidet sich ihre/seine Selbstsicht davon, wie man sie/ihn sah? John scheint deutlich zu verstehen, dass die Normen ihm äußerlich sind. Was aber ist, wenn die Normen zu dem Medium geworden sind, durch das er sieht, zum Rahmen seines eigenen Sehens und seiner Selbstsicht? Lässt sich vielleicht das Wirken der Norm nicht nur im von ihr errichteten Ideal wiederfinden, sondern eben auch in dem Gespür für Abweichung und Missbildung, das sie vermittelt? Wo genau ist die Norm am Werk, wenn John behauptet: ‘Ich schaute mich an und dachte, dass ich diese Art Kleidung nicht mochteÂ’? Zu wem spricht John da? In welcher Welt, unter welchen Bedingungen gilt das Missfallen an dieser Art Kleidung als Beweis dafür, das falsche Geschlecht zu sein? Für wen wäre das wahr? Und unter welchen Bedingungen?

John berichtet: ‘Ich mochte das Spielzeug nicht, das ich bekam.Â’ Hier spricht er als einer, der versteht, dass diese Abneigung als Beweis dienen kann. Außerdem ist anzunehmen, dass Joan ihre Abneigung als Beweis für eine Störung der Geschlechtsidentität (gender dysphoria) verstand, denn immer wieder musste sie mit Leuten sprechen, die jede Äußerungen über ihre Erfahrung als Beleg für oder gegen ein wahres Geschlecht benutzten. Dass ihm nun gerade gewisse Spiele, Spielzeuge und Puppen nicht gefielen, mag für die Frage von Bedeutung sein, wie und womit er gerne spielte. Doch in was für einer Welt können solche Abneigungen als klarer, eindeutiger Beweis für oder gegen ein bestimmtes Geschlecht gelten? Stürzen Eltern immer sofort in Kliniken für Geschlechtsidentität, wenn ihre Söhne mit Puppen, ihre Töchter mit Autos spielen? Oder muss nicht bereits eine ziemlich große Angst im Spiel sein, eine Angst um die Wahrheit des Geschlechts, die sich an diesem oder jenem Spielzeug festmacht, an dieser oder jener Bekleidungsvorliebe, an der Schulterbreite, der Magerkeit des Körpers, damit gefolgert wird, von versprengten Wünschen, veränderlichen und unveränderlichen Körpermerkmalen, vom Knochenbau, von der Neigung und Kleidung könne irgendeine klare Geschlechtsidentität abgeleitet werden?

Was also ergibt sich aus meiner Analyse? Gibt sie uns Auskunft, ob das Geschlecht hier wahr oder falsch ist? Nein. Folgt aus ihr etwas für die Frage, ob man John operativ in Joan oder umgekehrt Joan in John hätte umwandeln sollen? Nein, nichts. Weder weiß ich, wie ich die Frage beurteilen soll, noch bin ich sicher, ob mir dieses Urteil zusteht. Muss ich mich entscheiden, damit ich John gerecht werden kann? Oder verlangt Gerechtigkeit, dass ich mit der Entscheidung warte und sie aufschiebe, weil zu viele ein vorschnelles Urteil gefällt haben? Es könnte in der Tat nützlich, wichtig und gerecht sein, einige Dinge abzuwägen, ehe wir eine Entscheidung treffen und ehe wir sicher sein können, dass es überhaupt an uns ist zu entscheiden.

Zu bedenken ist etwa, dass für die Bewilligung einer operativen Geschlechtsangleichung meist eine geschlechteressenzialistische Einstellung bekundet werden muss. Wer mit der Meinung ankommt, Geschlecht sei veränderlich, kann PsychiaterInnen und ÄrztInnen nur schwer überzeugen, einen chirurgischen Eingriff vorzunehmen. In San Francisco üben Kandidaten für eine Frau-zu-Mann-Geschlechtsangleichung das verlangte essenzialistische Erzählschema tatsächlich erst ein, bevor sie sich den ÄrztInnen vorstellen. Mittlerweile gibt es sogar Nachhilfeunterricht von DramaturgInnen der Transsexualität, die dabei helfen, eine bezahlte Geschlechtsangleichung bewilligt zu bekommen. An Joan/John wurden insgesamt zwei chirurgische Eingriffe vorgenommen: Die Annahme, welches Geschlecht es sein müsse, wurde beim ersten in Anbetracht des amputierten Penis getroffen, beim zweiten im Hinblick auf das Verhalten und die wörtlichen Auskünfte der in Frage stehenden Person. Das hatte jeweils Konsequenzen, wobei im einen Fall unterstellt ist, ein Körper müsse in einer bestimmten Weise erscheinen, damit das Geschlecht funktioniert, und im anderen, er müsse dazu in einer bestimmten Weise fühlen. John wollte offensichtlich die Ansichten der ersten Gruppe von ÄrztInnen nicht mehr akzeptieren. Er verabscheute sie sogar. Man könnte sagen, dass er als Laie eine Kritik am Phallus entwarf, um seinen Widerstand dagegen zu unterstützen:
Der Doktor sagte: ‘Es wird hart werden, man wird dich schikanieren, du wirst sehr allein sein, du wirst niemanden finden (außer du lässt an dir eine Vaginaloperation vornehmen und lebst als Frau).Â’ Und ich dachte mir, wissen Sie, ich war zu dieser Zeit noch recht jung, aber es dämmerte mir, dass diese Leute ziemlich oberflächlich sein müssen, wenn sie denken, das sei das Einzige, was für mich zählt; dass der einzige Grund, weshalb man heiratet und Kinder hat und ein produktives Leben führt, das ist, was man zwischen den Beinen hat... Wenn das alles ist, was sie über mich denken, wenn sie mich danach bewerten, was ich zwischen meinen Beinen habe, dann wäre ich ein totaler Versager. (Diamond/Sigmundson, 1997, 301, Auslassungen im Original)
John unterscheidet hier zwischen dem ‘IchÂ’, das er ist, der Person, die er ist, und dem Wert, der seinem Personenstatus auf der Grundlage dessen zugemessen wird, was zwischen seinen Beinen ist oder nicht ist. Er setzte darauf, dass er für etwas anderes geliebt werden würde oder zumindest sein Penis nicht der Grund sein würde, aus dem er geliebt wurde. Unausgesprochen besteht er auf so etwas wie "Tiefe" gegenüber der "Oberflächlichkeit" der ÄrztInnen. Obwohl also John seinen neuen männlichen Status und seinen neuen Phallus wollte und erhielt, ist er auch etwas anderes als das, was er jetzt hat. Denn obwohl er sich dieser Umwandlung unterzogen hat, weigert er sich, auf das Körperteil, das er erworben hat, reduziert zu werden. ‘Wenn das alles ist, was sie über mich denkenÂ’, sagt er und liefert damit eine geschickte und kritische Gegenrede zum Vorgehen der Norm. Es gibt etwas an mir, das diesen Teil übersteigt, obwohl ich den Teil will und er zu mir gehört. Er will seinen Wert nicht durch das "gerechtfertigt" sehen, was er zwischen seinen Beinen hat. Demnach hat John ein anderes Verständnis davon, wie der Wert einer Person zu rechtfertigen ist. Er lebt sein Verlangen aus, indem er die Anatomie erwirbt, die er sich zum Ausleben seines Verlangens wünscht. Aber sein Verlangen ist komplex und sein Wert ist komplex.

Zweifellos ist das der Grund, weshalb John so oft die Antwort verweigerte auf viele von Moneys Fragen, wie: ‘Möchtest du einen Penis haben? Möchtest du ein Mädchen heiraten?Â’ Er lehnte die Fragen ab, weigerte sich, im selben Raum mit Money zu bleiben, und nach einiger Zeit wollte er überhaupt nicht mehr nach Baltimore fahren. Genau genommen tauschte John nicht eine Geschlechternorm gegen die andere. Es wäre ebenso falsch (von einem kritischen Standpunkt aus) zu behaupten, er habe einfach eine Geschlechternorm verinnerlicht, wie (von einem normalisierenden, medizinischen Standpunkt aus) zu behaupten, es sei ihm misslungen, einer Geschlechternorm zu entsprechen. Denn er macht deutlich, dass sein Wert sich durch Berufung auf ein ‘IchÂ’ begründet, das sich nicht auf die Vereinbarkeit seiner Anatomie mit der Norm reduzieren lässt. Er hält mehr von sich, als andere von ihm halten, er rechtfertigt seinen Wert nicht vollständig in Bezug auf das, was er zwischen seinen Beinen hat, er hält sich nicht für einen totalen Versager. Etwas übersteigt die Norm, dessen Unerkennbarkeit er erkennt; in gewissem Sinne ist seine Distanz zum erkennbar Menschlichen die Bedingung für seine kritische Rede -- als Quelle und Rechtfertigung seines Wertes und als Zeichen für das, was Foucault seine Tugend nennen würde. Er sagt, wenn die ÄrztInnen Recht hätten, dann müsste er ein totaler Versager sein, und impliziert damit, dass er das nicht ist, sondern dass etwas an ihm gewinnend ist. Doch er sagt noch mehr -- er warnt uns vor dem Absolutismus der Unterscheidung selbst, denn sein Phallus begründet nicht seinen gesamten Wert. Der, der er ist, und das, was er hat, kommen nicht zur Deckung. Zwischen dem Phallus, den er hat, und dem Phallus, auf den sich die Erwartungen richten, besteht keine völlige Übereinstimmung (darin unterscheidet er sich von niemandem mit einem Phallus). Das heißt, er ist nicht eins mit der Norm geworden und ist dennoch jemand, der spricht, beharrt und sogar auf sich selbst verweist.

Ausgehend von genau dieser Lücke, dieser Deckungsungleichheit zwischen der Norm, die angeblich sein Mensch-Sein begründet, und dem ausgesprochenen Beharren auf sich selbst, das er vorführt, entwickelt er seinen Wert und spricht seinen Wert aus. Doch können wir diese Person gerade in dem Moment, in dem sie ihren Wert ausspricht, nicht mit konkretem Inhalt füllen. Das bedeutet, gerade indem er nicht vollständig erkennbar, verfügbar und kategorisierbar ist, entsteht sein Mensch-Sein. Und das ist wichtig, weil wir verlangen könnten, er solle zuerst in die Intelligibilität eintreten, um sprechen und erkannt werden zu können. Stattdessen bietet er mit seinem Sprechen eine kritische Perspektive auf die Normen an, die Intelligibilität vermitteln. Außerdem zeigt er, dass es ein Verstehen gibt, das die Normen von Intelligibilität selbst übersteigt. Und er erreicht dieses ‘AußenÂ’, so könnten wir spekulieren, indem er die drängenden Verhöre verweigert, ihre Begriffe verkehrt und lernt, auf welche Weise er ihnen vielleicht entfliehen kann. Damit er sich denen gegenüber unintelligibel machen kann, die seine Identität wissen und festnageln möchten, muss es etwas an ihm geben, das jenseits des Rahmens anerkannter Inelligibilität intelligibel ist. Wir sind vielleicht versucht zu behaupten, es gebe einen Kern der Persönlichkeit, mithin eine humanistische Grundlage, die hier erscheint und in die Diskurse über die Intelligibilität des Geschlechts eintritt, die ihn zwingend bestimmen. Dann aber würde er von dem einen Diskurs nur gebrandmarkt, um von einem anderen, humanistischen, übernommen zu werden. Auch könnte man behaupten, dass es einen Kern des sprechenden Subjekts gibt, das jenseits des Sagbaren spricht, und dass gerade diese Unsagbarkeit Johns Sprechen markiert. Die Unsagbarkeit des Anderen enthüllt sich nicht in seinem Sprechen, sondern hinterlässt darin ein verhängnisvolles Bruchstück seiner selbst, eines Selbst, das jenseits des Diskurses existiert.

Im Gegensatz dazu würde ich vor allem bedenken, dass John über eine bestimmte Überzeugung spricht, wenn er sich so hoffnungsvoll und unerwartet auf das ‘IchÂ’ beruft -- nämlich dass er liebenswert ist. Er sagt, "sie" müssten denken, er sei ein totaler Versager, wenn er nur für das geliebt werden würde, was er zwischen seinen Beinen hat. "Sie" erzählen ihm, dass niemand ihn lieben werde oder er nicht eher geliebt werde, als bis er nehme, was sie für ihn hätten, und dass sie hätten, was er brauche, um Liebe zu bekommen, und dass er ohne das, was sie hätten, ohne Liebe bleiben werde. Er aber akzeptieren das, was sie in ihrem Diskurs anbieten, nicht als Liebe. Er weist ihr Liebesangebot zurück, weil er es als Bestechung, als Verführung zur Unterwerfung betrachtet. Er teilt uns mit, dass er aus einem anderen Grunde, den sie nicht verstünden und den wir nicht erfahren, gegenwärtig und auch in Zukunft geliebt werde. Dieser Grund liegt offensichtlich jenseits des Vernunftregimes, das die Sexualwissenschaft errichtet hat. Wir wissen nur, dass John auf einem anderen Grund beharrt, wissen aber nicht, welche Art von Grund und welche Art von Vernunft das ist oder sein kann. Er weist die Grenzen des Wissens nach und sprengt die Politik der Wahrheit, indem er seine ‘EntunterwerfungÂ’ (désubjugation) innerhalb der Seinsordnung dazu einsetzt, die Möglichkeit von Liebe jenseits des Zugriffs der Norm zu etablieren. Er setzt sich bewusst zur Norm in Beziehung, hält sich aber nicht an ihre Anforderungen. Er riskiert eine gewisse ‘EntsubjektivierungÂ’ (désubjugation): Ist er ein Subjekt? Wie sollten wir das wissen? In diesem Sinne bringt Johns Rede die Vorgehensweise der Kritik selbst ins Spiel, die nach Foucault in der Entunterwerfung des Subjektes innerhalb der Politik der Wahrheit besteht. Das heißt nicht, dass John unintelligibel und deshalb politisch wertlos wird. Vielmehr taucht er an den Grenzen der Intelligibilität auf und erlaubt damit einen Blick auf die unterschiedlichen Arten, in denen Normen das Menschliche definieren. Gerade weil wir verstehen, ohne es richtig zu begreifen, dass er einen anderen Grund hat, dass er sozusagen ein anderer Grund ist, gerade deshalb sehen wir die Grenzen des Diskurses um Intelligibilität, der über sein Schicksal entschieden hat. John bewohnt keine völlig neue Welt, denn er befindet sich immer noch irgendwo zwischen der Norm und ihrem Scheitern, sogar in der Syntax, die sein ‘IchÂ’ hervorbringt. Letzten Endes ist er keines von beiden; er ist das Humanum in seiner Anonymität als das, von dem wir noch nicht wissen, wie wir es nennen sollen, oder als das, was allem Nennen eine Grenze setzt. Doch in diesem Sinne ist er der anonyme -- und kritische -- Zustand des Menschlichen, wie es sich an der Grenze dessen ausspricht, was wir zu wissen glauben.

Aus dem Amerikanischen von Volker Woltersdorff, Jutta Eming und Elke Koch

#u#Literatur:

Angier, Natalie, 1997: ‘Sexual Identity Not Pliable after All, Report SaysÂ’, in: New York Times, 14. März, C1, C13

Bornstein, Kate, 1995: Gender Outlaw: Men, Women, and the Rest of Us, New York

Colapinto, John, 1997: ‘The True Story of John Joan’, in: Rolling Stone, 11. Dezember, 54ff

ders., 2000: Der Junge, der als Mädchen aufwuchs, Düsseldorf, Zürich

Diamond, Milton, und H. Keith Sigmundson, 1997: ‘Sex Reassignment at Birth: A Long Term Review and Clinical Implications’, in: Archives of Pediatrics and Adolescent Medicine, 151, 298-304

Fausto-Sterling, Anne, 2000: Sexing the Body: Gender Politics and the Construction of Sexuality, New York

Foucault, Michel, 1992: Was ist Kritik?, Berlin

Kessler, Suzanne J., 1990: ‘The Medical Construction of Gender: Case Management of Intersexed Infants’, in: Signs 16. Jg., 1, 3-26

dies., 1997: ‘Meanings of Gender Variability’, in: Chrysalis: The Journal of Transgressive Gender Identities, 2. Jg., 4, 33-38

dies., 1998: Lessons from the Intersexed, New Brunswick, New Jersey

Millett, Kate, 1970: Sexus und Herrschaft. Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg (1985)

Money, John, und Richard Green, 1998: Transsexualism and Sex Reassignmen, Baltimore

Wilchins, Riki, 1997: Read My Lips: Sexual Subversion and the End of Gender, Milford

1 Dieser Vortrag wurde auf Einladung des Sonderforschungsbereiches "Kulturen des Performativen" am 8. Mai 2001 an der FU Berlin gehalten.

2 Für einen ausgezeichneten Überblick über die Auseinandersetzung vgl. Fausto-Sterling (2000, 45-77). John/Joan verwendet inzwischen kein Pseudonym mehr; ich bleibe aber dabei, weil die medizinischen und psychologischen Abhandlungen vorwiegend unter diesen Namen auf die Person Bezug nehmen.

3 Für wichtige Perspektiven auf die ethischen Fragen der Geschlechtsangleichung siehe auch den Videofilm ‘Redefining SexÂ’, den die Intersex Society of North America (www.isna.org) veröffentlicht hat.

4 Regie: Jamie Babbit, Lions Gate Films, 2000.