Der Sündenbock-Mechanismus

in (16.01.2002)

Neulich an der Tankstelle, es war kurz vor Weihnachten, bin ich mit meinen Versuchen um Aufklärung meiner Mitmenschen wieder einmal gescheitert. ...

... Als ich zum Bezahlen gehe, höre ich sie mit lauter Stimme räsonnieren. Der Mann an der Kasse zu einem Taxifahrer: "Klar, so ist das, den Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern steckt man alles in den Rachen, vor allem den Ausländern! Die kriegen doch einfach alles nachgeschmissen, wofür unsereins sich krumm legen muß. Und wenn man dann mal was braucht, wird man nur schikaniert und kriegt kaum was. Zum Beispiel meine Schwiegermutter. Die ist 92 Jahre alt, kann nicht mehr laufen, liegt fast nur noch im Bett und muß hinten und vorn gepflegt werden. Grad mal ein paar hundert Mark haben sie ihr jetzt nach einem Jahr bewilligt - Â’ne höhere Pflegestufe sei nicht drin. Das isÂ’n Witz, damit kannste nich mal Â’ne Putzfrau bezahlen!" -"Ja, das kenn ich auch ausÂ’er Nachbarschaft. Und wenn de dann mitkriegst, wie die Asylis absahnen! Vorige Woche so Â’ne dicke Romafrau, hatte Â’nen Wagen bestellt nach Heidelberg, in die Uniklinik. MußtÂ’ aber einer sein mit Klimaanlage! Den ersten Kollegen hat die doch glatt wieder weggeschickt - nur weil der Wagen keine Klimaanlage hatte! Und das wird alles bezahlt von unsern Steuergeldern!" - "So is et. Die Ausländer zocken hier ab, du glaubst es nich! Die Sozis und vor allem die Grünen sind da doch viel zu zahm. Alle raus, sag ich dir, und dann gäbÂ’s auch wieder genug für uns kleine Leute..."
Mir reichte es, Zorn über das rassistisch-chauvinistische Schwadronieren übermannte mich: "Was soll das Hetzen gegen Ausländer? Wissen Sie überhaupt, wie Asylbewerber hier leben müssen? Eingepfercht mit sechs Leuten in einem Raum, Arbeitsverbot, nur mit Naturalien versorgt und ein wenig Taschengeld? Was Sie da sagen, Ausländern würde alles nachgeschmissen, ist doch dummes Gerede!" - "Von wegen, dummes Gerede, keine Ahnung haben Sie; gucken sich mal die Aussiedler an, kriegen alle gleich ‘ne große Wohnung, wo unsereins schon jahrelang seinen Berechtigungsschein eingereicht hat und weiter warten nuß!" Auch der Taxifahrer wollte das "dumme Gerede" nicht auf sich sitzen lassen: "Das mit der Romafrau stimmt, können Se nachprüfen!" Ich begann zu argumentieren: "Wenn die Frau eine Überweisung vom Arzt nach Heidelberg hatte, dann ist doch wohl klar, daß das bezahlt werden muß - wie für einen deutschen Kranken auch!" - "Von wegen. Nix wird bezahlt. Ein Deutscher muß die Fahrt zum Arzt selbst bezahlen, basta! Keine Ahnung haben Sie!" - "Klar weiß ich, daß der normale Kassenpatient leider inzwischen kleinere Fahrten selbst bezahlen oder immer mehr zuzahlen muß. Aber bei einem richtigen Krankentransport über Hunderte von Kilometern übernimmt immer noch die Kasse den wesentlichen Teil. Und wenn der Patient Sozialhilfeempfänger ist oder zu wenig verdient, zahlt die Kasse alles ..." - "Ach, hörÂ’n Se doch auf! Klar, für Sozialschmarotzer und Ausländer wird alles bezahlt! Aber unsereins?"
Der Taxifahrer hatte mir die letzten Worte beim Rausgehen zugerufen und schmiß die Tür zu. Irgendwie hatte ich keine Lust, nun auf den Kassierer allein einzureden. Ich legte ihm einen Hundertmarkschein hin und für Einsfünfzig Kaugummi, das ich aus dem Regal genommen hatte. In seiner Aufregung gab er mir 98,50 Mark zurück, die Tanksäule mit 83 Mark hatte er vergessen. Ich machte ihn auf seinen Irrtum aufmerksam und nutzte die Gelegenheit, etwas versöhnlichere Töne anzuschlagen: "Wir müssen uns ja nicht gleich betrügen, wenn wir anderer Meinung sind?! Auf Wiedersehn..."
Kein rühmlicher Abgang. Ich war wieder einmal zu früh ausgerastet, hatte niemanden zum Nachdenken gebracht, sondern beide nur in ihren Vorurteilen bestätigt. Als einziger Pluspunkt fiel mir ein, daß ich meinem Grundsatz treu geblieben war, mir faschistisches oder ausländerfeindliches Geschwätz, ob im Bekanntenkreis oder in der Öffentlichkeit, nicht unwidersprochen mitanzuhören.
Was hätte ich besser machen sollen? Beim nächsten Mal werde ich versuchen, nicht sogleich Gegenbehauptungen in den Raum zu stellen. Es hätte ja die Möglichkeit gegeben, zunächst auf die von den Schwadronierern mitgeteilte eigene Misere einzugehen: Warum erhält die Schwiegermutter nicht die notwendige Pflege, wer dreht da ständig an der Kürzungsschraube, in wessen Interesse? Oder die Sache mit den ständig erhöhten Zuzahlungen bei Krankenfahrten, Arzneien oder im Krankenhaus. Der Taxifahrer wußte ja einiges. Sollten wir uns nicht zusammen gegen weiteren Sozialabbau wehren, den Politikern Dampf machen, daß sie eine ausreichende Pflege- und Krankenversicherung für jeden wiederherstellen? Was bringt es, wenn wir unsere Wut ablenken lassen auf diejenigen, denen es noch schlechter geht: Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose und Asylbewerber? Merken wir denn nicht, wie unser Widerstand in die falsche Richtung gelenkt wird?
Ich weiß: Wenn man aufklären will, sollte man immer fragen statt belehren, freundlich statt besserwisserisch. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es mir beim nächsten Mal gelingen wird, meine Empörung über das Geschwätz von Bildzeitungslesern zu zügeln und überzeugender zu intervenieren. Wer hat Erfahrungen damit, kann über Erfolge berichten? Es ist nicht leicht, den Sündenbock-Mechanismus auszuhebeln, an dem sie so bequem ihren Frust abreagieren können. Aber versuchen müssen wir es immer wieder, wenn wir verhindern wollen, daß die dumpfe Wut weiter eskaliert.